Das "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" ist bereits Realität. Gemeint ist eine Vertiefung der Zusammenarbeit innerhalb der EU in einzelnen Politikbereichen, die nicht alle Mitgliedsstaaten der Organisation umfasst. Das offensichtlichste Beispiel hierfür ist die (vermeintlich) gemeinsame europäische Währung, an der sich derzeit nur 19 der 28 Mitgliedsstaaten beteiligen. Da mehrere Staaten die Aufnahmekriterien auf absehbare Zeit nicht erfüllen werden oder aber erfüllen wollen (Schweden) und sich obendrein Dänemark und das Noch-Mitglied Großbritannien im Vertrag von Maastricht die Nichtteilnahme an der gemeinsamen Währung festschreiben ließen (Opting-out-Klausel), wird der Euroraum auch in Zukunft nicht alle Mitglieder der Organisation umfassen. Ein anderes Beispiel ist das Schengener Abkommen, an dem sich neben 22 Mitgliedern der EU auch mehrere Nicht-Mitglieder (zum Beispiel Schweiz, Island und Norwegen) beteiligen, nicht hingegen Mitgliedsstaaten wie Irland, Großbritannien und Zypern.
Ein solches Vorgehen mag angemessen scheinen, um die gegenwärtige tiefgreifende Krise des Integrationsprozesses zu überstehen.
Selektive Vertiefung
Jenseits der einleitend angeführten Beispiele Euro und Schengen findet sich das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten etwa auch in Fragen des Grundrechtsschutzes, der Innen- und Justizpolitik (über das Schengener Abkommen hinaus) und im Verteidigungsbereich. So haben sich Großbritannien und Polen ein Opt-out von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festschreiben lassen, die mit dem Vertrag von Lissabon Rechtskraft erlangte.
Neben diesen formalen Opt-outs gibt es auch in der Praxis unterschiedliche Beteiligungsformen und -grade der Mitgliedsstaaten in einzelnen Politikfeldern. Das offenkundigste Beispiel ist die selektive Teilnahme an Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Im vergangenen Jahr führte die EU sechs Militärmissionen durch, und zwar in Bosnien und Herzegowina (EUFOR Althea), der Zentralafrikanischen Republik (EUTM RCA)
Diese Ungleichmäßigkeit der Integration mit Blick auf Teilnehmer und Politikfelder dürfte künftig noch zunehmen. So sehen die Verträge – hier im Speziellen der Vertrag über die Europäische Union (EUV) – mehrere in diese Richtung weisende Instrumente vor. Im Rahmen der nicht ausschließlichen Zuständigkeiten der EU können die Mitgliedsstaaten eine "Verstärkte Zusammenarbeit" (Art. 20 EUV) eingehen. Aufhorchen lässt in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass die Vorbedingung für deren Aufnahme darin besteht, dass "die mit dieser Zusammenarbeit angestrebten Ziele von der Union in ihrer Gesamtheit nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraums verwirklicht werden können" (Art. 20 Abs. 2 EUV). Die Verstärkte Zusammenarbeit ist somit von vornherein eher als ein "Notfallinstrument" zu sehen – für den Fall, dass die EU-Staaten ein vereinbartes Ziel nicht gemeinsam erreichen können oder wollen – als eines, von dem neue, positive Impulse ausgehen würden.
Speziell im Verteidigungsbereich wiederum eröffnet der Vertrag von Lissabon mittels der "Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit" (Art. 42 Abs. 6 EUV) den handlungswilligeren und -fähigeren Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, "weiter gehende Verpflichtungen" einzugehen.
Unübersichtlichkeit und Ausgrenzungen
Das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten geht somit weiter voran. Vordergründig scheint dies ganz im Sinne einer Integrationslogik zu stehen, die Theoretiker des Neofunktionalismus "Spillover" nannten, also ein "Überschwappen" der Zusammenarbeit von einem funktionalen Bereich in einen anderen und dann wieder einen anderen und so weiter.
Am effektivsten wäre es hierfür, wenn sich ein und dieselben Staaten an den Vertiefungsprojekten in den unterschiedlichen Politikbereichen beteiligen würden. Das ist jedoch weder in den EU-Verträgen so vorgesehen noch derzeit in der Praxis der Fall, wie die obigen Beispiele zeigen. Dies führt nicht nur zu einer nennenswerten Unübersichtlichkeit innerhalb der EU – welcher Staat gehört in welchem Handlungsbereich zu welcher Gruppe? –, sondern auch zu unterschiedlichen Status der Mitgliedsstaaten. Am offensichtlichsten ist dies im Kontext des Euros, wo nicht teilnehmende Staaten wiederholt ihre Ausgrenzung etwa beim Umgang mit der Finanzkrise monierten, von der eben nicht nur die Eurostaaten betroffen waren und sind.
Dass die Nichtteilnahme an Vertiefungsprojekten nicht folgenlos bleibt für den Status eines Landes innerhalb der EU wie auch für dessen Selbstverständnis gegenüber der EU, verdeutlicht das Beispiel Großbritannien. Das Land kritisierte wiederholt die Rettungspolitik der Eurostaaten, in die es sich als Nichteurostaat ungenügend eingebunden fühlte, und sprach im Jahr 2011 ein Veto gegen eine Vertragsänderung aus, die unter anderem Vorgaben zur Staatsverschuldung von Eurostaaten vorsah.
Zwei "europäische Integrationen"
Gemeinhin wird die Integration Europas mit der EU gleichgesetzt. Ein breiterer Blick auf Europa zeigt freilich, dass es zwei parallel verlaufende europäische Integrationen gibt, die sich in unterschiedlichen Organisationen vollziehen: Neben der EU existiert der in Straßburg ansässige Europarat.
Der Europarat wurde bereits 1949 gegründet und ist damit sogar die ältere Organisation im Vergleich zur heutigen EU, deren Wurzeln auf die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) aus dem Jahr 1951 zurückgehen. Auch wenn Europarat und EGKS fast zeitgleich eingerichtet wurden, hätten sie hinsichtlich ihrer Funktionslogik kaum unterschiedlicher sein können. Der Europarat folgte damals (und folgt bis heute) dem traditionellen zwischenstaatlichen (intergouvernementalen) Muster der Zusammenarbeit.
Im Gegensatz dazu etablierte die EGKS eine progressive Form der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit mit überstaatlichen (supranationalen) Elementen. Die Mitgliedsstaaten übertrugen insbesondere Kompetenzen an die Hohe Behörde (die heutige Europäische Kommission), die daraufhin verbindliche Entscheidungen treffen konnte, welche die Staaten umzusetzen hatten. Nicht von ungefähr nahm das "integrationskritische" Großbritannien von Beginn an am intergouvernementalen Europarat teil, während es der supranationalen EGKS fernblieb.
Auch wenn Europarat und EU bis heute unterschiedlichen Integrationslogiken folgen, könnte die Existenz überlappender Mitgliedschaften positiv gewertet werden. Der Europarat begann im Jahr 1949 mit zehn Mitgliedsstaaten, wuchs bis zum Ende des Ost-West-Konflikts auf 23 Staaten an und umfasst heute 47 Staaten und somit fast "ganz Europa".
Die Kehrseite besteht jedoch darin, dass diese Durchlässigkeit nicht automatisch gegeben ist (und auch gar nicht gegeben sein sollte), sondern an Bedingungen geknüpft ist. So ist eine Mitgliedschaft in der EU eben nicht automatisch dadurch erreicht, dass ein Staat zuvor dem Europarat beitrat, sondern vielmehr an die Erfüllung der "Kopenhagener Kriterien" der EU. Diese bestehen aus den grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Prinzipien der EU sowie der Übernahme des gesamten gültigen EU-Rechts. Da nicht alle Europaratsmitglieder diese Aufnahmekriterien erfüllen, wird die vordergründige Durchlässigkeit hinfällig. Ergebnis ist vielmehr eine weitgehende Zementierung der unterschiedlichen Integrationsprojekte, die gerade bei denjenigen Staaten für Vorbehalte sorgt, die den Sprung vom Europarat weiter in die EU zwar anvisieren, aber nicht schaffen.
Dies ist jedoch nicht als Plädoyer dafür zu verstehen, die EU-Mitgliedschaft ohne Bedingungen zu vergeben. Es sollte vielmehr eine Art "Warnung" mit Blick auf ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten sein. Auch wenn Vertiefungsprojekte innerhalb der EU grundsätzlich allen Staaten offenstehen – sprich: Staaten, die nicht von Beginn an mitmachen, können prinzipiell später hinzukommen –, führt eine solche Offenheit nicht zwangsläufig dazu, dass zunächst außen vor bleibende Staaten auch tatsächlich nachziehen werden. Das Beispiel Europarat/EU zeigt vielmehr zweierlei: Erstens werden nicht alle politisch willigen Staaten später auch hinzukommen können, da sie die Kriterien nicht erfüllen, die für eine Aufnahme notwendig sind (zum Beispiel Ukraine, Georgien). Und zweitens wollen manche Staaten auch gar nicht dazugehören, selbst wenn sie die Kriterien erfüllen (zum Beispiel Schweiz, Island).
Vertiefung ja, aber besser durch Ausgründung
Die vorherigen Diskussionen verweisen auf Risiken, die von einem sich innerhalb der EU vollziehenden Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten ausgehen. Selbst mit Öffnungsklauseln versehene Vertiefungsprojekte können Ungleichheiten zementieren, und dies möglicherweise bereits von Beginn an, sofern die für die Teilnahme zu erfüllenden Kriterien dauerhaft jenseits der Kapazitäten der zunächst außen vor bleibenden Staaten liegen. In anderen Fällen kann fehlender politischer Wille dazu führen, sich auch nachträglich einem Vertiefungsprojekt nicht anzuschließen. In beiden Fällen wird die vordergründige Offenheit zu einer Scheinoffenheit, die Gruppenbildungen und damit verbundene Prozesse der Ein- und Ausgrenzung befördert. Dies dürfte wiederum nicht ohne Folgen für die Sichtweise der Bürgerinnen und Bürger auf das europäische Integrationsprojekt beziehungsweise ihre Identifizierung damit bleiben. Bereits heute haben lediglich 35 Prozent der Europäerinnen und Europäer ein positives Bild von der EU; 54 Prozent sind sogar der Auffassung, dass ihre Stimme in der EU nicht zählt.
In der gegenwärtigen Krisenphase des Integrationsprozesses mag eine Politik der "kleinen Schritte"
Fazit
Auch wenn es ein probates Mittel zur Vertiefung der EU gerade in Krisenzeiten ist, birgt ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten mehr Risiken als Chancen, wenn es zur grundsätzlichen Integrationsidee und -logik des europäischen Einigungsprozesses erhoben wird, worauf die eben zitierte "Erklärung von Rom" durchaus hindeutet. Konsequenter, wenn auch zugegebenermaßen politisch kaum umsetzbar, wäre es, ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten in unterschiedlichen Organisationen zu vollziehen. Hierfür hätten die vertiefungswilligen Staaten eine Organisation auszugründen, in der sie die bestehenden Projekte aufgreifen und um weitere Projekte ergänzen, ohne dass sie ihre Mitgliedschaft in der EU beenden müssten. Gleichzeitige Mitgliedschaften in EU und Europarat schließen sich ja auch nicht gegenseitig aus. Vielmehr könnte das letztlich klar hierarchische Verhältnis zwischen Europarat und EU als Vorbild für das Zusammenspiel zwischen der EU und der neu zu schaffenden Organisation dienen. Durch die Gründung von zwei Organisationen ließen sich die Status der Mitglieder in den jeweiligen Organisationen wieder vereinheitlichen und de facto-Mitgliedschaften unterschiedlicher Klassen überwinden. Dem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten könnten klar(er) Organisationen, Staaten und Themen zugeordnet werden, mit möglicherweise positiven Folgen für die Akzeptanz des beziehungsweise der Vorhaben in der Bevölkerung. Die Fortsetzung und Vertiefung eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten innerhalb der EU dürfte hingegen perspektivisch den Anstoß zur weiteren Entfremdung einzelner EU-Staaten vom europäischen Integrationsprojekt mit sich bringen. Der nahende Brexit wäre dann nur der Anfang gewesen.