Die EU befindet sich in einer tiefen Problemlösungskrise. Sie schafft es nicht mehr, die drängendsten Probleme der Bevölkerung zu lösen. Konfrontiert mit diversen Herausforderungen wie der Flüchtlingskrise und der Wirtschaftskrise sowie dem Aufstieg populistischer Bewegungen in vielen Mitgliedsstaaten, verharrt die EU regungslos in der Warteposition. Insbesondere im Ministerrat fehlt die Handlungsbereitschaft, Probleme auf europäischer Ebene gemeinsam anzupacken. Dieser "rasende Stillstand" der Regierungen, die "trotz erkennbar gestiegenen Drucks der Probleme ohne Gestaltungsperspektive weiter wursteln", droht die EU in eine veritable Legitimationskrise zu stürzen.
Vor diesem Hintergrund kann die Strategie einer differenzierten Integration einen Ausweg bieten: Indem eine Gruppe von Mitgliedsstaaten in bestimmten Politikfeldern voranschreitet und miteinander vereinbart, mehr zu kooperieren, könnte der derzeitige Stillstand auch ohne Vertragsänderung überwunden werden. Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten würde nicht nur die Problemlösungsfähigkeit des politischen Systems der EU erhöhen; auch aus demokratietheoretischer Perspektive spricht einiges dafür. Durch eine Strategie der differenzierten Integration könnte nämlich nationalen Interessen stärker Rechnung getragen werden.
Instrumente der differenzierten Integration
Eine differenzierte Integration steht im Gegensatz zum föderalistischen Ideal einer "immer engeren Union" wie sie in Artikel 1 des Vertrags über die Europäischen Union (EUV) beschrieben wird. Schon in der Vergangenheit haben einige Mitgliedsstaaten, insbesondere die Briten, dieses Einheitsgebot abgelehnt.
Zum einen bieten völkerrechtliche Verträge zwischen mehreren Mitgliedsstaaten, die quasi als intergouvernementaler Anbau neben den EU-Verträgen stehen, eine Möglichkeit der differenzierten Integration. Diese intergouvernementale Strategie der Differenzierung stellt eine Option dar, wenn eine Gruppe von Mitgliedsstaaten eine vertiefte Kooperation in Politikfeldern anstrebt, in denen die EU keine eigenständigen Kompetenzen hat. In dieser Variante verhandelt eine "Koalition der Willigen" die Grundlagen der Zusammenarbeit. Die EU-Institutionen, insbesondere das Europäische Parlament und die Europäische Kommission, sind nicht beteiligt.
Zum anderen wurde im Vertrag von Amsterdam mit dem Instrument der "Verstärkten Zusammenarbeit"
Schließlich gibt es verschiedene Differenzierungsmöglichkeiten auf Primärrechts- sowie auf Sekundärrechtsebene. Auf Primärrechtsebene wird seit Jahren eine differenzierte Integration praktiziert, weil einige Mitgliedsstaaten die Vertragsänderungen der vergangenen Jahrzehnte nicht vollständig mitgetragen haben. Großbritannien hat etwa dem Vertrag von Maastricht nur unter der Bedingung zugestimmt, dauerhaft außerhalb der Währungsunion zu bleiben. Bei den Verhandlungen zum Vertrag von Lissabon haben sich Polen und Großbritannien ein Opt-out aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gesichert. Im Bereich des Sekundärrechts sehen einige Richtlinien Schutzklauseln oder Ausnahmeregelungen vor. Die gesetzlichen Bestimmungen gelten also für alle Mitgliedsstaaten gleichermaßen, eine flexiblere Auslegung der gesetzlichen Regelungen ist aber möglich.
Nachteile eines intergouvernementalen Ansatzes
Je nachdem, welches Instrument der Differenzierung gewählt wird, ergeben sich unterschiedliche Chancen und Gefahren für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Problematisch ist vor allem der Rückgriff auf völkerrechtliche Verträge, der in den vergangenen Jahren vermehrt angewendet wurde, um die EU-Institutionen zu umgehen und politische Blockaden zu lösen.
Zum einen verstetigt sich damit ein Trend hin zu einem "postdemokratischen Exekutivföderalismus"
Zum anderen besteht bei einem vermehrten Rückgriff auf völkerrechtliche Verträge die Gefahr, dass ein exklusiver Club an Mitgliedsstaaten die Regeln des zukünftigen Integrationsprozesses diktiert. In diesem Szenario würde die Agenda der Vertiefung weitgehend unter den Integrationswilligen ausgehandelt; die eigenen Präferenzen würden zum zukünftigen Standard erhoben. Da die EU-Institutionen nicht bei den zwischenstaatlichen Aushandlungsprozessen beteiligt sind, können die nicht-teilnehmenden Mitgliedsstaaten auch keinen Einfluss auf die Verhandlungen ausüben. Eine Spaltung der EU in einen Kern und eine Peripherie und eine Hegemonie der mächtigsten, integrationswilligen Mitgliedsstaaten wären hier die Folge.
Kritisch zu sehen sind daher jegliche Formen der differenzierten Integration, in denen eine scharfe Trennung zwischen den teilnehmenden und den nicht-teilnehmenden Staaten institutionalisiert wird. Die bereits existierende, differenzierte Euro-Architektur bietet dafür ein negatives Beispiel: Die Einführung des Euros in einigen Mitgliedsstaaten machte es notwendig, sich vertieft zu koordinieren, was die Schaffung der Eurogruppe zur Folge hatte. Dieses informelle Forum hat rechtlich keine Entscheidungskompetenzen. In der Praxis spielt die Eurogruppe allerdings eine zentrale Rolle, weil alle wichtigen währungspolitischen Entscheidungen in diesem Gremium vorentschieden werden. Die anschließende Abstimmung im Ministerrat wird zur reinen Formsache mit der Folge, dass diejenigen Mitgliedsstaaten, die den Euro nicht eingeführt haben, von den währungspolitischen Beratungen ausgegrenzt werden.
Insgesamt birgt die Strategie einer differenzierten Integration, insbesondere wenn sie nicht durch die EU-Verträge abgedeckt ist und an den EU-Institutionen vorbei verläuft, eine Reihe von Risiken. Zwar kann in Ausnahmefällen die Verabschiedung von völkerrechtlichen Verträgen vorteilhaft sein, um politische Blockaden zu überwinden und den Integrationsprozess in wichtigen Politikfeldern voranzutreiben. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn – wie etwa beim Schengener Abkommen – eine zeitnahe Überführung in den EU-Rechtsrahmen stattfindet.
Vorteile der Verstärkten Zusammenarbeit
Eine vielversprechendere Strategie besteht darin, auf diejenigen Instrumente der Differenzierung zu setzen, die schon in den EU-Verträgen vorgesehen sind und die ein höchstmögliches Maß an Offenheit und Inklusivität bieten. Dies ist bei dem Instrument der Verstärkten Zusammenarbeit der Fall, das gegenüber der Strategie einer Intergouvernementalisierung vor allem drei Vorteile bietet.
Erstens sind bei der Verstärkten Zusammenarbeit die EU-Institutionen als Garanten des Interessenausgleichs bei den Verhandlungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt. Die nicht teilnehmenden Mitgliedsstaaten sind so über den Rat und das Europäische Parlament in einem ausreichenden Maße über das Projekt informiert. Eine spätere Teilnahme am Projekt ist so jederzeit möglich und erwünscht; eine radikale Trennung zwischen teilnehmenden und nichtteilnehmenden Mitgliedsstaaten wird vermieden.
Zweitens kann eine solche vertraglich abgesicherte Strategie der Differenzierung die europäische Demokratie stärken. Dieses Argument mag zunächst überraschen, weil durch ein Mehr an Differenzierung auf der einen Seite die Komplexität und Unübersichtlichkeit des politischen Prozesses zunimmt. Auf der anderen Seite könnte durch eine vertraglich abgesicherte Form der Differenzierung der Heterogenität nationaler Interessen stärker Rechnung getragen werden.
Drittens kann durch den vermehrten Einsatz dieses Instruments die Problemlösungsfähigkeit des politischen Systems erhöht werden. In wichtigen Politikfeldern, die in den Kompetenzbereich der Europäischen Union fallen, könnte eine Gruppe von Mitgliedsstaaten vorangehen und mit progressiven Politikvorschlägen das Vertrauen der europäischen Bevölkerung zurückgewinnen. Haben diese Projekte Erfolg, würden andere Mitgliedsstaaten schnell nachziehen.
Anwendungsfelder für eine Verstärkte Zusammenarbeit
Gerade im Bereich Wirtschaft und Soziales ist der Handlungsdruck für europäische Lösungen besonders groß. Seit der Finanzkrise haben die sozialen Ungleichgewichte in Europa zugenommen, wie etwa gestiegene Jugendarbeitslosigkeits- und Kinderarmutsquoten vor allem in einigen südeuropäischen Ländern zeigen.
Gleichzeitig öffnet sich mit der Wahl Emmanuel Macrons ein Zeitfenster für eine Stärkung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion. Mögliche soziale europäische Leuchtturmprojekte, die mit dem Mittel der Verstärkten Zusammenarbeit durch eine Reihe von Mitgliedsstaaten vorangetrieben werden könnten, wären etwa die gesetzliche Verankerung sozialer Mindeststandards in Europa: Eine Rahmenrichtlinie für europäische Mindestlohnkorridore ist hier genauso denkbar wie ein Rechtsrahmen, um ein Mindestschutzniveau der sozialen Grundsicherung zu etablieren.
Durch die Einführung europäischer Mindestlohnkorridore könnten Mitgliedsstaaten gezwungen werden, einen an ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientierten Mindestlohn sowie einen Mechanismus zur Festsetzung und Anpassung des Mindestlohns festzulegen. Die Höhe und die Art und Weise der Festlegung des Mindestlohns wären weiterhin den Mitgliedsstaaten überlassen. Die EU würde nur den Rahmen vorgeben, dabei aber gleichzeitig dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger der unteren Einkommensschichten am Wohlstandsgewinn teilhaben. Ähnliches gilt für das Projekt, Mindeststandards der sozialen Grundsicherung europäisch festzulegen.
Schließlich könnten auch die Steuervermeidungspraktiken multinationaler Unternehmen im europäischen Binnenmarkt effektiver in einer Verstärkten Zusammenarbeit bekämpft werden. Die Einführung einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftssteuerbemessungsgrundlage sowie Mindestsätze bei der Unternehmensbesteuerung – beides Projekte, die seit Jahren auf der politischen Agenda stehen – wären geeignete Instrumente.
Mit diesen und weiteren politischen Maßnahmen könnte die Europäische Union den derzeitigen Integrationsstillstand überwinden und den Bürgerinnen und Bürgern eine progressive europäische Sozialpolitik bieten. Die Tatsache, dass nicht alle Mitgliedsstaaten bereit dazu sind, diesen Weg zu gehen, rechtfertigt nicht die derzeitige Passivität hinsichtlich der Bekämpfung sozialer Ungleichheiten. Einen Ausweg bietet das Instrument der Verstärkten Zusammenarbeit. Solange die Mitgliedsstaaten eine Form der differenzierten Integration wählen, die durch die EU-Verträge gedeckt ist und ein hohes Maß an Inklusivität sichergestellt ist, kann ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten eine Chance für eine demokratischere und sozialere EU bieten.
Für hilfreiche Anmerkungen zu einer vorherigen Version des Beitrages danke ich Lukas Böhm.