I. Medienkompetenz für die politische Bildung - was sonst?
Wie kein anderer Bildungsbereich unterliegt politische Bildungsarbeit den Schwankungen einer mehr oder weniger rasch wechselnden Aufmerksamkeits-, Themen- und Erwartungskonjunktur. Dies ist zunächst nicht weiter verwunderlich, gehört es doch zum Anspruch der politischen Bildung selbst, angemessene Antworten auf die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft zu geben. Insofern wird man auch damit leben müssen, dass politische Bildung immer wieder mit der ihr zugewiesenen Feuerwehrfunktion gefordert und vielfach überfordert wird oder als pädagogischer Sündenbock für Fehlentwicklungen oder kurzfristig als Alibi für Problemlösungsaktivitäten herhalten muss.
Bildungstheorie und Bildungspraxis haben nicht nur die Aufgabe, auf gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen zu reagieren. Sie haben auch eine pädagogische und politische Verantwortung für gegenwärtige und zukünftige Lebens- und Entwicklungsverhältnisse der nachwachsenden Generation. Bildung - und insbesondere politische Bildung - orientiert sich deshalb immer auch an den epochalen Herausforderungen: sei es die Sicherung des Friedens, die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, der Abbau von gesellschaftlich bedingter Ungleichheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Globalisierung oder eben auch die Fähigkeit zur Orientierung in einer unübersichtlicher werdenden Informations- und Kommunikationswelt
Medienkompetenz als pädagogische Allerweltsformel
Dauerkonjunktur hat inzwischen auch die Forderung nach Medienerziehung in der politischen Bildung. "Medienkompetenz" ist zu einem rhetorischen Passepartout bei der Thematisierung kultureller, ökonomischer und politischer Herausforderungen geworden. Zum "Wort des Jahres" 1996 gekürt und in der Literatur breit diskutiert, erweist sich der Begriff als eine dehnbare Chiffre, über deren politische Bedeutung kaum Klarheit herrscht
Selbst wenn mit Recht darauf verwiesen werden kann, dass politische Mündigkeit den kommunikationskompetenten Bürger voraussetzt, so hat Medienkompetenz auch dabei durchweg den Charakter einer im weitesten Sinne pädagogischen bzw. einer Bildungskategorie
Die im Nachfolgenden näher zu begründende Antwort sei vorweggenommen: Politische Bildung sollte nicht in den Fehler verfallen, alles, was irgendwie mit Medien zu tun hat, zu ihrem Aufgabenbereich zu erklären. Politische Bildung ist keine Medienpädagogik, so wichtig medienpädagogische Elemente für die politische Bildungsarbeit sein können. Gegenstand der politischen Bildung ist die Politik. Die Medien und das Mediale interessieren im Rahmen politischer Bildungsarbeit deshalb und nur deshalb, weil sich - so jedenfalls die hier vertretene These - die Politik selbst durch die moderne Mediengesellschaft verändert hat und auch weiter verändern wird. Nun läßt sich zwar vieles politisieren, aber nicht alles ist per se politisch, wie der modische Slogan von der "Erfindung des Politischen"
Medienkompetenz als politische Kategorie
Was also in der pädagogisch dominierten Medienkompetenzdebatte im Zusammenhang mit politischer Bildung zu kurz bzw. eigentlich nicht in den Blick kommt, ist das Faktum, dass Medienkompetenz auch eine politische Kategorie ist. Die Funktionslogik politischer Systeme ist ohne die Auseinandersetzung mit der Medialisierung des Politischen nicht mehr zu vermitteln. Wie zu keiner Zeit vorher sind die Medien nicht nur "Medium", sondern auch ein "Faktor" gesellschaftlicher und politischer Entwicklung, wie es das Bundesverfassungsgericht wiederholt in seinen Rundfunkurteilen zum Ausdruck gebracht hat. Wie zu keiner Zeit vorher ist die moderne Gesellschaft eine Mediengesellschaft, ist Politik in der Mediengesellschaft medienimprägnierte Politik. Beides gilt es aus der Sicht der politischen Bildung in den Blick zu nehmen: Erstens die Mediengesellschaft, weil die Medien zum zentralen Modernisierungsfaktor geworden sind. Mit der Modernisierung der Gesellschaft verändert sich politisches Verhalten, verändert sich die politische Kultur demokratischer Gemeinwesen. Zweitens die zunehmend von der Medienlogik beeinflusste Politik, weil sich die institutionellen und prozessualen Bedingungen politischen Handelns, ja die Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Systems insgesamt verändern.
II. Gesellschaftliche Modernisierung durch Medien - nicht erst im Fernsehzeitalter
Der lange Weg der Kommunikationsgesellschaft
Modernisierung meint zunächst einen bestimmten Typ des sozialen Wandels. Eingesetzt hat der Modernisierungsprozess nicht erst im Multimediazeitalter. Gesellschaftliche Modernisierung erhielt bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine besondere Dynamik. Ihre Hauptstoßkraft hatte sie in ökonomischer und sozialer Hinsicht in der englischen industriellen Revolution und in politisch-gesellschaftlicher Hinsicht in der Französischen Revolution. In der Folgezeit, also vor allem im 19. Jahrhundert, konnte mit dem Aufkommen der Massendruckpresse zum ersten Male von Massenmedien gesprochen werden. Deutschland erlebte - wie andere vergleichbare Staaten auch - eine "Leserevolution". Die moderne Gesellschaft sei "Kommunikationsgesellschaft" geworden. So beschreibt es Thomas Nipperdey in seiner dreibändigen "Deutschen Geschichte" des letzten Jahrhunderts. Und er charakterisiert dabei den Modernisierungsprozess infolge einer erfolgreichen Alphabetisierung und Ausbreitung von Zeitungen in einer Weise, die in der gegenwärtigen Debatte geradezu vertraut vorkommt: Kennzeichnend sei für die damalige Zeit "die Ablösung der Welt der Tradition, der Welt, in der Stand und Sitte, die mündliche und anschauliche Überlieferung das Verhalten und - mit der Religion zusammen - die Selbst- und Lebensdeutung bestimmten, der Welt der Statik, in der die alten und bleibenden Wahrheiten zentral waren, der Welt der nahen und partikularen Kommunikation".
"Die neue Welt", so sagt er weiter - wohlgemerkt mit Bezug auf die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts -, "ist die des ,persönlichen Standes', der Reflexion auf das Verhalten, der freien Wahl, der Selbst-,Bildung', die Welt der Änderungen und Fortschritte, für die das Neue und Zukünftige wie das jeweils Gegenwärtige wichtiger wird, die stärker auf universale und abstrakte Gemeinschaften und Normen bezogen ist, die Welt der freigesetzten Neugier." Jenseits der kirchlich-religiösen Deutungen habe es in dieser Welt einen steigenden Bedarf "nach neuen Formulierungen des Selbst- und Lebensverständnisses" gegeben. Und Nipperdey stellt dann eine für die Frage nach dem Stellenwert von Medienkompetenz interessante These auf: Die Lektüre gliche, so sagt er, die "Orientierungsprobleme" aus, die bei steigender Mobilität entstehen
Pluralisierung und Individualisierung durch Medien
Die historische Reminiszenz erscheint angebracht angesichts der Aufgeregtheit, mit der in der Gegenwart bisweilen über die gesellschaftlichen Folgen der modernen Medien diskutiert wird. Was Nipperdey zur gesellschaftlichen Modernisierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts sagt, erscheint jedenfalls recht vertraut aus der aktuellen Debatte zum sozialen Wandel: Säkularisierung und Rationalisierung normativer Grundlagen, Steigerung der persönlichen und gesellschaftlichen Mobilität in geographischer, psychischer und sozialer Hinsicht, Pluralisierung der Lebensstile und damit verbunden eine Ausdifferenzierung und Individualisierung der Sozialcharaktere - dies alles sind die immer wieder beschriebenen Charakterisierungen gesellschaftlicher Veränderung im Zusammenhang mit einer ungeheuren ökonomischen Dynamik
Mit Bezug auf die Gegenwart und Zukunft spricht Ulrich Beck von "reflexiver Modernisierung", die auf eine "Radikalisierung der Moderne" hinauslaufe - keine Revolution, sondern eine "potenzierte Modernisierung mit gesellschaftsverändernder Reichweite"
- sich die gesellschaftlichen Großgruppen und Sozialschichten ausdifferenzieren in komplexere Milieustrukturen;
- die Bindungskraft der kollektiven "Sinnproduzenten" (Schelsky) - heißen sie nun Parteien, Verbände, Kirchen oder wie auch immer - nachlässt;
- Lebensphasen, Lebensstile, Biographien variabler, instabiler werden;
- damit das Verhalten generell, aber auch politisches Verhalten "mobiler", "flexibler" wird, man kann auch sagen instabiler und unberechenbarer.
Die Medien, allen voran das Fernsehen und zunehmend wohl auch die computergestützten Informations- und Kommunikationsmedien mit dem Internet als kaum mehr eingrenzbarem Möglichkeits- und Wirklichkeitsraum, sind dabei nicht nur Spiegel, sondern Beschleuniger, sie sind Generator und zugleich "Turbolader" des gesellschaftlichen Wandels
Der "flexible Mensch" mit erhöhtem Kommunikationsbedarf
Nach den in der sozialwissenschaftlichen Forschung inzwischen vielfach belegten Befunden zum sozialen Wandel verändert sich die gesellschaftliche und politische Willensbildung gravierend. Dem im Wirtschaftsleben ungeniert geforderten total "flexiblen Menschen" entspricht ein neuer politischer Verhaltenstypus, den man neudeutsch als "rational choice-Typus" bezeichnet
Die "flexible(re)n Menschen" (Sennett) stellen noch nicht die Mehrheit. Aber sie werden quantitativ zu einer politisch-strategischen Größe, wobei die Massenmedien verstärkt ins Spiel kommen. Politisch mobiler werdende Bürger wollen immer wieder neu informiert, überzeugt, überredet und - mehr und mehr - auch unterhalten werden. Wo traditionelle sozial-moralische Milieus und damit auch die politisch-weltanschauliche Daueridentifikation mit diesen brüchig werden, wächst der Bedarf an Orientierung, an Bewertung, an Hilfen auch zur Entscheidung bzw. zur eigenständigen Urteilsbildung, wächst damit auch der Informations- und Kommunikationsbedarf. Muss das aber ein Nachteil für die Demokratie sein? War das nicht schon immer eine Wunschvorstellung einer politischen Bildung, die sich kritisch-rationaler Urteilsbildung verpflichtet weiß?
III. Medien als gesellschaftliche und politische Wirklichkeitsgeneratoren
Legitimation durch Kommunikation
Die skizzierte Entwicklung der Mediengesellschaft hat Rückwirkungen auf das politische System. Mehr denn je steht Politik, stehen politische und gesellschaftliche Akteure im Zwang zur Begründung und Rechtfertigung ihres Handelns. Mehr denn je werden von ihnen kommunikative Leistungen, wird ihnen "Legitimation durch Kommunikation" abverlangt, wird Publizität zur gesellschaftlichen und politischen Eintritts- und Trumpfkarte. Das modernisierungstheoretisch grundsätzlich Neue ist dabei, dass die klassischen Konfliktmuster der Industriegesellschaft, die Auseinandersetzung zwischen mehr oder weniger stabilen Interessengruppen, zwar nicht völlig verschwunden sind. Dies zeigen auch aktuelle Interessenkonflikte, in denen ja durchaus gesellschaftliche Großgruppen - heißen sie nun Gewerkschaften oder Unternehmerverbände - Verteilungskämpfe austragen und auch zu konsensualen Entscheidungen fähig sind. Das alles gibt es noch. Es wird aber zunehmend bestimmt, oft auch überlagert und relativiert durch eine eher "themenzentrierte, an der massenmedialen Öffentlichkeit sich orientierende, vagabundierende Konfliktbereitschaft"
Realitätskonstruktion durch Massenmedien
Man muss sich in seiner erkenntnistheoretischen und vor allem politischen Radikalität vorstellen, was Wirklichkeit, was politische Wirklichkeit heute eigentlich ist, oder besser: was für die politische Wirklichkeit gehalten wird. "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen", so noch einmal der Systemtheoretiker Niklas Luhmann, wissen "wir durch die Massenmedien". Von der "Realität der Massenmedien", so der Titel seines Buches, spricht er deshalb, weil diese "für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint"
Die Medien sind zu einem integralen Bestandteil von Gesellschaft und Politik geworden und nicht bloß passive Vermittler i. S. von Relais oder Reflektoren einer Wirklichkeit, die autonom und unabhängig von Massenkommunikation existiert. Sie müssen stattdessen, so drückt es der Kommunikations- und Politikwissenschaftler Winfried Schulz aus, "als aktives Element in dem sozialen Prozess begriffen (werden), aus dem eine Vorstellung von Wirklichkeit erst hervorgeht". Sie hätten "teil am kollektiven Bemühen, eine Realität zu konstruieren und diese - durch Veröffentlichung - allgemein zugänglich zu machen, so dass eine gemeinsame Basis für soziales Handeln entsteht"
Medien als System der Selbstbeobachtung
Wie zu keiner Zeit vorher sind die Massenmedien inzwischen ein gesellschaftlicher und politischer "Ersatzindikator"
Wie ist politische Führung unter diesen Bedingungen möglich? Wie muss eine Politikvermittlung aussehen, der es um die Lösung legislaturperiodenübergreifender Probleme geht? Wie ist nachhaltige Politik, die die Verantwortung für die zukünftigen Generationen ernst nimmt, unter dem dauernden Druck einer medialen Zustimmungsöffentlichkeit möglich? Diese Fragen lassen erkennen, dass Medienkompetenz im Kontext politischer Bildungsarbeit heute auf Kernfragen des Politischen zielt.
IV. Wandel der Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Systems
"Politikherstellung" und "Politikdarstellung"
Es wäre gewiss verkürzt, wollte man das Medienbild von Politik mit der Politik selbst, die "Politikherstellung" mit "Politikdarstellung" gleichsetzen
Aber war nicht die publizistische Dauerschlacht im Zusammenhang mit der Aufdeckung des Parteifinanzskandales eine erneute Bestätigung für die These von den Medien als so genannte vierter Gewalt, als kontrollierendem Gegenüber zur Politik? Die Wahrnehmung des demokratischen Wächteramtes in skandalträchtigen Sondersituationen - und dazu noch angestoßen durch staatsanwaltliche Ermittlungen - sollte über den grundsätzlicheren "Strukturwandel" (Habermas) der Medienöffentlichkeit nicht hinwegtäuschen. Mehr denn je ist für Medien entscheidend, was öffentliche Aufmerksamkeit erreicht. Mit der Ausweitung und der Vervielfachung der "Kanal-Kapazitäten" gerade auch für elektronische Medien stehen diese unter verstärktem Konkurrenzdruck, löst sich das Mediensystem weitgehend von politischen Institutionen und orientiert sich mehr und mehr an Marktbedingungen, d. h. am Geschmack zahlungskräftiger Publika. Doch mit der Umorientierung im Selbstverständnis der Massenmedien von publizistischen Angebots- hin zu Nachfragemedien steht die Public Service-Rolle, die Informationsfunktion unter dem Druck der wachsenden Unterhaltungsnachfrage.
Einfluss der Medienlogik auf die Politik
Die Frage, welche Rückwirkungen die Strukturveränderungen des Mediensystems auf das politische Entscheidungssystem haben, ist nicht einfach zu beantworten. Es gibt durchaus noch medienferne Verfahren und politische Prozesse vor allem in der unspektakulären "Routinepolitik"
In der Mediengesellschaft verändern sich also die Politik selbst, die institutionellen Grundlagen politischen Handelns, das politische Führungspersonal, die politische Willensbildung, der Regierungsstil, ja das demokratische System insgesamt. Dies ist es, was bei den zwar wohlwollenden, pädagogisch jedoch verengten Empfehlungen für Medienkompetenz in der politischen Bildung oft nicht in den Blick kommt.
Von der parlamentarisch-repräsentativen zur medial-präsentativen Demokratie
Als Spezifikum politischer Bildungsarbeit muss in der Medienkompetenzdebatte demnach die Auseinandersetzung mit einer politisch folgenreichen Gewichtsverschiebung in den Mittelpunkt gerückt werden: Vordergründig betrachtet handelt es sich um Mediengewinne, denen Institutionenverluste gegenüberstehen. Demokratietheoretisch lässt sich diese Entwicklung als Wandel von einer parlamentarisch-repräsentativen in eine medial-präsentative Demokratie charakterisieren
Fand die "alte" Parteiendemokratie im Konfliktfall ihre Machtbasis im Rückhalt von Parteifunktionären und Parteitagsdelegierten, so findet die Mediendemokratie ihre Legitimationsbasis mehr und mehr im plebiszitären Schulterschluss mit dem Medienpublikum einerseits und in der quasipräsidialen Moderation der konkurrierenden Interessen und Machtansprüche andererseits. Hauptadressat ist jedenfalls das über die Medien anzusprechende Publikum und nicht mehr das Institutionengeflecht einer heterogenen Partei. Die politische Währung dieses Systems ist die Publikumssympathie in der Münze der Einschaltquote - eine instabile Währung also. Trotz aller konstitutionellen Unterschiede stehen politische Führungspersönlichkeiten vom Schlage eines Bill Clinton, Tony Blair oder auch Gerhard Schröder für diesen neuen Typus demokratischer Führer. Dass dieser Systemwandel - der Weg von der traditionellen Parteiendemokratie in die Mediendemokratie - gerade auch in Deutschland nicht ohne Widerstände, Brüche und Rückschläge abgeht, auch dafür gibt es reichlich aktuelles Anschauungsmaterial.
V. Medienkompetenz in der politischen Bildung
Politische Bildung statt allgemeiner Medienerziehung
Was bedeutet dies alles für das Bemühen um Medienkompetenz in der politischen Bildungsanstalt? Inwieweit können die bisherigen Überlegungen zum gesellschaftlichen und politischen Wandel in einer modernen Medienumwelt weiterhelfen bei der Suche nach dem spezifisch Politischen im Zusammenhang mit Medienkompetenz? Kann es im Folgenden auch weniger um praktische Handlungsanleitungen als vielmehr um konzeptionelle Klarheit gehen, so lassen sich zunächst sehr vereinfacht drei Perspektiven unterscheiden, die auf ihre Eignung für die politische Bildungsarbeit zu überprüfen wären:
1. Die medienpädagogische Perspektive: Dieses Modell lässt sich zugespitzt als "Medienerziehung statt politischer Bildung" charakterisieren. Hier wird Medienkompetenz als Grundqualifikation der allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung und Befähigung zur eigenständigen Wirklichkeitserschließung und -auseinandersetzung. Dieser unstrittige, allgemeinpädagogische Begründungszusammenhang kann jedoch als Spezifikum politischer Bildungsarbeit nicht genügen.
2. Die publizistische Perspektive: Nach diesem Modell heißt Vermittlung von Medienkompetenz in der politischen Bildungsarbeit Hinführung zu den Medien, zum richtigen Umgang mit der Publizistik. Hermann Giesecke hat mehrfach dafür plädiert, nicht zuletzt mit der Begründung, politische Bildung müsse erwachsen werden. Nach Jahrzehnten bewährter Demokratie sollte sie den politischen Umerziehungskomplex ablegen, sich von der Politik emanzipieren und als professionelle Disziplin verstehen
3. Die politische Perspektive: Bei diesem hier favorisierten Modell geht es um "politische Bildung über Politik unter den Bedingungen einer Mediengesellschaft". Im Mittelpunkt steht nicht nur die "Aufklärung" über die mediale "Darstellung" von Politik, sondern auch die vertiefende Auseinandersetzung mit den medienabhängigen und -unabhängigen Faktoren der "Herstellung" von Politik. Mit Blick auf die Vermittlung politikrelevanter Medienkompetenz gilt es dabei zweierlei im Auge zu behalten: den Systembezug ebenso wie den Subjekt- bzw. Bürgerbezug. Deshalb interessieren die Medien einmal als Agenturen der Politikvermittlung, wie überhaupt das Mediale als eine Dimension des Politischen bzw. auch Unpolitischen in den Blick kommen muss. Zum anderen ist Medienkompetenz als Teil einer spezifisch politischen Handlungskompetenz, als Basisqualifikation demokratischer Bürgerkompetenz zu begreifen.
Politische Bildung für den "Medien-Citoyen" und "Medien-Bourgeois"
Wer sind die Adressaten von Medienkompetenz vermittelnder politischer Bildung? Vor der Neigung, Medienkompetenz mit einem idealisierten Bürgerbild in Verbindung zu bringen, ist zu warnen. Im normativen Horizont der politischen Bildung erscheint der Bürger als eine Art "Mediencitoyen": ein menschliches Wesen, das sich politisch interessiert und sich mit einer starken Informationsorientierung den Medien zuwendet. So hätte man es jedenfalls gerne.
Tatsächlich hat politische Bildungsarbeit mit den real existierenden Medienrezipienten zu tun, jungen Menschen mit oft ausgeprägten Medienrezeptionsgewohnheiten; Rezeptionsgewohnheiten, die es allerdings eher rechtfertigen, von einem "Medien-bourgeois" mit starker Unterhaltungsorientierung zu sprechen. Denn die Vorstellung, junge Menschen verfügten aufgrund entsprechender Mediennutzung über einen fundierten politischen Informationsvorrat, geht an der Wirklichkeit vorbei. Zwar hat sich durch intensiven Medienkonsum bei Jugendlichen Informationsballast, vielleicht auch Informationsmüll angehäuft, und politische Bildung muss diesen "bearbeiten, abtragen, aufteilen und aussortieren, bevor sie sich an selbstgesteckte Informationsziele machen kann"
Kompensation für die Informationsdiät des "anpolitisierten" Publikums
Wer in der politischen Bildungsarbeit politikspezifische Medienkompetenz nicht an den Adressaten vorbei vermitteln will, wird einige Befunde aus der Medienforschung zu berücksichtigen haben:
- Politische Informationsaufnahme ist in hohem Maße "ein Nebenprodukt von Alltagshandlungen"
- Die flächendeckende Versorgung mit Print- und elektronischen Medien bedingt keineswegs automatisch einen hohen Informationsgrad. Vielmehr variieren Umfang und Art der informationellen Teilnahme am politischen Geschehen in den verschiedenen Medien Zeitung, Hörfunk und Fernsehen je nach politischen Prädispositionen und sozialstrukturellem Hintergrund der Rezipienten. Unterschiedliche Präsentationsweisen und "Politikformate"
- Mit der so genannten Wissenskluft-Forschung kann inzwischen gut belegt werden, dass die Ausweitung des Mediensektors und gestiegener Nutzungsumfang schichtspezifische Differenzen und Benachteiligungen nicht, wie dies als politisches Argument lange Zeit im Zusammenhang mit der Dualisierung des Rundfunks und der Ausweitung des elektronischen Mediensektors insgesamt vorgetragen wurde, ausgleichen können
- Mit der Erhöhung des Bildungsgrades ("kognitive Mobilisierung") verändert sich die Publikumsrolle. Nachweisbar ist, dass sich langfristig die "Beobachtungskompetenz für und die Beteiligungskompetenz . . . sowie der faktische Beteiligungswunsch an Politik erhöht hat"
- Winfried Schulz hat schon vor Jahren den medieninduzierten gestiegenen Partizipationsanspruch - nicht die tatsächliche Beteiligung - als eine "diskrepante Situation" bezeichnet. Obwohl die meisten Leute vom politischen Geschehen objektiv wenig wüssten, hätten sie doch zunehmend das Bedürfnis nach Anteilnahme und das Gefühl der Betroffenheit entwickelt. Sie lebten - salopp ausgedrückt - mit ihren partizipatorischen Ansprüchen über die Verhältnisse ihrer politischen Bildung
- Ein weiterer Befund verweist auf eine ungebrochene Attraktivität des Fernsehens, das sogar noch einen "Nutzungsschub" im Laufe der letzten Dekade erfahren hat und das mit der Ausweitung des Programmangebots die Fragmentierung des Publikums verstärkt und die Unterscheidung zwischen Information und Unterhaltung immer schwerer macht
- Schließlich hat die Medienforschung längst Abschied genommen von einfachen Medienwirkungsmodellen. Die alte Frage, was machen die Medien mit den Mediennutzern?, wird schon lange umgekehrt: Was machen die Mediennutzer mit den Medien? Lange wurde das Publikum unter- und die Wirkung der Medien überschätzt. Netzwerkanalysen jedenfalls nähren Zweifel daran, inwieweit die apokalyptischen Befürchtungen über einen Verfall demokratischer Öffentlichkeit tatsächlich berechtigt sind. Denn Medienrezeption und politische Meinungsbildung sind kein Akt überwiegend isolierter Informationsverarbeitung. Michael Schenk und seine Forschungsgruppe haben nachgewiesen, dass Menschen in ihrer persönlichen Umgebung durchaus eigene Ansichten und Meinungen zu relevanten Dingen besitzen und äußern und sich nicht von der Mediendarstellung blenden lassen. Sie sehen einen "zyklischen Zusammenhang von Massen- und interpersonaler Kommunikation". Massenmedien dienten der themenspezifischen Erstinformation und leiteten interpersonale Kommunikation ein, die zur Themengewichtung (Agenda-Setting) beitrage. Interpersonale Kommunikation über "wichtige" Themen führe dann zu weiterer Aufnahme von Informationen aus den Medien. "Interpersonale Kommunikation stellt somit ein entscheidendes Scharnier im Medienwirkungsprozess dar, indem sie die Themenwichtigkeit und die fortgesetzte Medienwahrnehmung stützt." Im Themengewichtungs- wie im politischen Meinungsbildungsprozess des Alltags sind demnach Bezugsgruppeneinflüsse in Form von interpersonalen Umwelten bzw. persönlichen Netzwerken nach wie vor von Bedeutung. "Das Schutzschild ,Interpersonaler Kommunikation' ist weiterhin intakt."
Auch wenn die Medien zu allgegenwärtigen Miterziehern geworden sind und insofern eine bedeutende Rolle im Prozess latenter politischer Sozialisation spielen, so können sie doch die zielgerichtete und systematische politische Bildungsarbeit nicht ersetzen. Die politische Bildung ist selbst ein Schlüsselfaktor in dem Netzwerk interpersonaler Kommunikation, dem für die Verarbeitung von Medieninhalten große Bedeutung zukommt.
VI. Einige praktische Hinweise
Insgesamt sind die Veränderungen im medialen Bereich doch zu vielschichtig, zu komplex, als dass sie sich auf einen Nenner bringen ließen. Pauschale Thesen, wie etwa die vom medienverusachten Niedergang der politischen Kultur oder die These von einer fernsehbedingten allgemeinen Politikverdrossenheit, die These von der angeblich Totalentertainisierung des Medienangebots oder auch die Verheißung der "Cybercitizenship" im Zuge einer "Internetisierung von Öffentlichkeit und Demokratie"
- Die mediale Angebotsvielfalt überhaupt kennen- und mit der Vielfalt umgehen lernen: Welcher Schüler, welcher Student weiß denn beispielsweise, dass es ein werbefreies Radio gibt mit anspruchsvollen Informationsangeboten? Welche jungen Menschen haben Zugang und praktische Erfahrung mit den meinungsführenden Zeitungen?
- Die Medienwirklichkeit entschlüsseln lernen: Wer verstehen will, warum Bildmedien, Nachrichtenmedien, Zeitungen so sind, wie sie heute sind, muss sich mit den Arbeits- und Marktbedingungen der Medien auseinandersetzen; das ist auch ein Stück Aufklärung.
- Mediale Wirklichkeitsangebote und -konstruktionen vergleichen lernen: Der Vergleich ist der erste Schritt zur Informationserweiterung, ein Schritt zur Relativierung, zur inneren Distanz, Reflexion und Kritik.
- Durch die kritische Beschäftigung mit Druckmedien einen Gegenakzent gegen die wachsende Visualisierung setzen: Zwar ist das Fernsehen inzwischen zu einer Art politischem Leitmedium geworden. Doch bei aller Notwendigkeit einer kritischen Analyse der "Macht der Bilder" dürften in der politischen Bildung Sprache und Schrift weiterhin ein bewährtes Medium für die Auseinandersetzung mit Politik sein.
- Über politische Prozesse jenseits medialer Darstellungen informieren und mit Realitäten jenseits der Medien konfrontieren: Es ist besonders wichtig, eigene Erfahrungen zu ermöglichen, die nicht medienvermittelt sind. Dies ist auch der Ort für einen "aufgeklärten Institutionalismus"
- Medien, politische Informationen selber herstellen: Handlungsorientierte politische Bildungsarbeit sowie selbsttätiger und selbstproduzierender Umgang mit Druck-, Hör- und Bildmedien ermöglichen nicht nur eine Auseinandersetzung mit den medienspezifischen Techniken. Sie bieten auch die Chance zur Selbstartikulation und zur individuellen sowie kollektiven Interessenvertretung.