Einleitung
Nach allen bekannten Daten aus Wahlen und empirischen Erhebungen sind die Ostdeutschen - auch die jüngeren Jahrgänge - in ihrem politischen Informationsstand, ihren politischen Einstellungen und ihren politischen Handlungsabsichten immerhin so deutlich unterscheidbar von den Westdeutschen, dass von der ursprünglich weithin erwarteten Angleichung noch keine Rede sein kann. So sind etwa Politikinteresse, politisches Engagement und die Wahrnehmung wahlbürgerlicher Möglichkeiten signifikant geringer ausgeprägt als in Westdeutschland. Parteien und Gewerkschaften haben in Ostdeutschland erheblich weniger Mitglieder, informelle politische Initiativen sind kaum verbreitet, und die Wahlbeteiligung an ostdeutschen Landtags- und Kommunalwahlen liegt unter derjenigen in westdeutschen Ländern. Gleichsam symptomatisch hierfür kann die Wahlrunde 1999/2000 genommen werden: Während ganz im Schatten der CDU-Spendenaffäre im März 2000 in Schleswig-Holstein fast 70 Prozent der Wahlbeteiligten zur Landtagswahl gingen, waren dies im strukturell vergleichbaren Brandenburg im September 1999 nur 53,3 Prozent - ohne erkennbare Gründe für einen speziellen Anlass zur Parteien- oder Politikverdrossenheit. War dies auch für ostdeutsche Verhältnisse ein sehr niedriger Wert, so lagen die anderen Landtagswahlbeteiligungen in Ostdeutschland doch im Schnitt um etwa zehn Prozent unter denen in westdeutschen Bundesländern.
Dabei fällt die Bilanz knapp zehn Jahre nach der Wiedervereinigung aus der Sicht der weitaus meisten Ostdeutschen positiv aus. In einer Forsa-Umfrage vom August 1999 bekundeten nur 12 Prozent der Befragten, dass es ihnen schlechter gehe als vorher, 51 Prozent hingegen, dass es ihnen persönlich besser gehe als in der DDR
Die Hintergründe von derlei Widersprüchlichkeiten werden auch zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung unterschiedlich, ja gegensätzlich interpretiert. Die einen sehen einen deutlichen Nachholbedarf der Ostdeutschen, der - je nach Gusto des Interpreten - aus jahrzehntelanger "Verzwergung" unter der Diktatur, kommunistischer Indoktrination, nachholender Modernisierung oder fehlender Fähigkeit zur Freiheit abgeleitet wird. Andere meinen, die mentalen oder kulturellen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland träten hinter den sonstigen Unterschieden zwischen den deutschen Stämmen und den Siedlungsformen zurück. Der städtisch geprägte Dresdener also in vergleichbarer Distanz zum Emsländer wie der Münchener gegenüber dem ländlich geprägten Mecklenburger?
Erfahrungshintergründe
Erinnern wir uns einmal mehr an den herausragendsten Tag jüngster deutscher Zeitgeschichte: Auf einer Pressekonferenz am 9. November 1989, die vom DDR-Fernsehen live übertragen wurde, machte um 18.53 Uhr das Politbüromitglied Günter Schabowski "nebenbei" die Mitteilung, dass die SED-Spitze beschlossen habe, eine Regelung zu treffen, die "die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik". Dann verlas er die neue Reiseregelung, die der Ministerrat der DDR beschlossen habe. Die Nachrichtensendungen des bundesdeutschen Fernsehens, das von den meisten DDR-Bürgern gesehen werden konnte, brachten diese Mitteilung um 20.00 Uhr als Spitzenmeldung. Um 20.15 Uhr begannen sich die ersten Berliner an den Grenzübergängen zu sammeln: Acht bis zehn Menschen in der Sonnenallee, zwanzig in der Invalidenstraße, etwa 50 in der Bornholmer Straße. Dort war es gegen 21.00 Uhr bereits eine Menschenmenge; die ersten wurden dann 21.20 Uhr "kontrolliert" nach Westberlin gelassen. Gegen 22.30 Uhr waren wegen des Ansturms Kontrollen nicht mehr möglich. "Wir fluten jetzt", meldete der zuständige Kommandeur des Übergangs Bornholmer Straße seinen Vorgesetzten
Sowohl für diejenigen, die sich nach 1945 in der SBZ bzw. der späteren DDR in einer gleichsam geopolitischen Falle nolens volens einzurichten hatten - insofern sie das Pech hatten, das sowjetisch und nicht das westlich bestimmte Kriegserbe antreten zu müssen -, als auch für jene, die mit der DDR ein positiv besetztes Gesellschaftsprojekt verbunden hatten, waren die Jahre seit 1985, besonders die Monate vom Spätsommer 1989 bis Winter 1990, eine Zeit rascher, auch geistiger Wandlungen. Das gewohnte Weltgefüge war ins Wanken geraten, Freund-Feind-Konstellationen und ihre Wahrnehmung veränderten sich durchgreifend. Mit der Erosion der sowjetischen Dominanzmacht waren Umdenkungsprozesse verbunden, die dem politischen Wandel teils vorangingen, teils ihn zu verarbeiten genötigt waren. Voraussetzung des Endes der DDR, zumal des friedlichen Verlaufs des Umbruchs, war somit ihre voraufgegangene Delegitimierung und Erosion.
Diese vollzog sich jedoch nicht als schlichte Abwendung, sondern als Konstruktion alternativer Positionen, wenngleich in der Bürgerbewegung bzw. im Umfeld der SED in je unterschiedlicher Ausprägung. Insofern ragen die in den achtziger Jahren entwickelten Positionen in die Vereinigungsgeschichte hinein und besitzen als Deutungs- und Handlungsrahmen fortwirkendes Gewicht. Einige der Eigenheiten ostdeutscher Verhältnisse in den vergangenen zehn Jahren erscheinen so in einem anderen Licht, etwa Aspekte der Entwicklung der PDS oder die Distanz gegenüber Aktivitäten der politischen Klasse der Bundesrepublik. Nicht die "Rückstände" der alten DDR oder immer noch vorhandene Bindungen an Dogmen der SED, sondern mit der Erosion der SED-Herrschaft entstandene neue Positionen und Zustände sind es, die die Maßstäbe damals wie heute politisch bzw. wissenschaftlich engagierter Akteure wie auch vieler politisch engagierter "einfacher" Menschen für ihr Deuten und Handeln unter den Bedingungen des vereinten Deutschlands prägen.
Exemplarisch können hier in vielerlei Hinsicht ostdeutsche Lehrer betrachtet werden. Im Unterschied zu anderen sozialen und beruflichen Gruppen der Herkunftsgesellschaft DDR waren sie im Übergang zum neuen System nicht generell vom Verlust des Arbeitsplatzes und von Erwerbslosigkeit bedroht. Lehrern wurde allerdings nach 1989 in hohem Maße Systemnähe und Versagen angelastet, doch verblieb das Gros der Lehrerschaft im angestammten beruflichen Feld. Hatte die affektive Aufladung von Themen dieser "sensiblen" Sphäre (zumal die ideologisierte "Staatsbürgerkunde", auch "Rotlichtbestrahlung" genannt) im Herbst 1989 zu massiver öffentlicher Kritik an der Lehrerschaft geführt, so kam es doch zu dem geradezu paradoxen Ergebnis, dass die Lehrer als "Funktionäre des alten Systems" weitgehend nicht ausgetauscht worden sind. Die Schulen zu schließen und sie später mit anderen Lehrern neu zu eröffnen, war keine realistische Alternative. Viele Lehrerinnen und Lehrer empfanden die Situation in den beiden Wendejahren als anomisch, als "zwei völlig chaotische Jahre". Das erforderte, das Handeln auf die Aufrechterhaltung des grundlegenden Auftrages von Schule zu richten: im Unterricht Fachwissen zu vermitteln und das regionale, soziale und kulturelle Organisationssystem Schule aufrechtzuerhalten. Rückblickend wird diese Phase aber von Lehrerinnen und Lehrern auch als Aufbruch- und Neugierzeit betrachtet und ihr unter den Bedingungen der "neuen" Routine und deren Beschränkungen nachgetrauert.
Zugleich wirkte die Schule auch nach außen hin als Instanz zur Aufrechterhaltung von Grundfunktionen des sozialen Lebens mitten im Umbruch. Dies jedoch in eigenartiger Ambivalenz - nämlich dergestalt, dass die Autorität der Lehrer erheblich in Zweifel gezogen wurde - weniger in Gestalt von konkreter und diskursiv zu bearbeitender Kritik an Personen, an deren Verfehlungen oder an antiquierten erzieherischen Mitteln, als vielmehr an der Schule als Ort des Wissenserwerbs, der Aneignung von Kenntnissen, kulturellen Techniken und Praktiken. Die veränderte Situation des Umbruchs hatte starke Differenzierungen innerhalb der Schülerschaft mit sich gebracht: als Auswirkung der neuen gesellschaftlichen Differenzierungen und als Auswirkung der sozialen Segregationen bei den Eltern. Ränge und Rivalitäten ordneten sich neu, beim alltäglichen Vergleich der Erfahrungen und Meinungen war die Platzierung in sozialen Gruppen und Themenfeldern neu auszuhandeln. Dabei nahmen die Konflikte unter den Schülern zu, wurden Irritationen und Verunsicherungen aus dem familiären Umfeld affektiv aufgeladen und sank die Schwelle zur Regulierung von Konflikten mittels physischer Gewalt
Nicht zuletzt unter dieser doppelten Verunsicherung verlagerte sich bereits bald nach den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1989/90 der Diskurs in der Lehrerschaft um eine Schulreform von der Veränderung des Bestehenden hin zur Übernahme des westdeutschen Schulsystems. Es war die dezidierte Option der Elternschaft und der politischen Entscheidungsträger, den ostdeutschen Kindern gleiche Entwicklungschancen in Gesellschaft und Marktwirtschaft zu bieten. Die Übertragung des neuen (alten) Schulsystems auf die anders formierten strukturellen Bedingungen und subjektiven Erfahrungen und Erwartungsmuster in den ostdeutschen Ländern führte ihrerseits vielfach zur Entwertung von Qualifikationen und Routinen, zum Verlust von Sicherheitsgarantien und Platzierungen im sozialen Gefüge sowohl der Schule wie der Lebensumwelt. Auch wenn das berufliche Handlungsfeld nicht verlassen werden musste, waren Verunsicherungen, Verletzungen und biografische Brüche zu verarbeiten. Hinzu kam eine Vielzahl von Problemen, die mit der Übertragung des neuen Bildungssystems in seiner institutionellen Gestalt, mit den schulpolitischen Konsequenzen des drastischen Geburtenrückgangs im Osten sowie mit der finanziellen Lage der ostdeutschen Länder verbunden waren
Nimmt man andere Berufsgruppen in Ostdeutschland, findet man oft analoge oder ähnliche Verläufe, zumeist noch stärker verbunden mit völligen Brüchen in Berufsbiografien, temporärer oder längerfristiger Arbeitslosigkeit oder einem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Berufsleben. All dies erfolgte massenhaft vor dem Hintergrund, dass die DDR eine explizite Arbeitsgesellschaft war, d. h., sich gesellschaftliche Wertungen und Rangordnungen primär um die Arbeit gruppiert hatten
Ihre Mitglieder verbanden mehrheitlich mit dem Systemwechsel die Erwartung, endlich "richtig" arbeiten zu können und nicht aus den Arbeitsprozessen herauszufallen. Der Schock, die sozialen Umbrüche selber erlebt oder im sozialen Umfeld wiederholt erfahren zu haben, gehört zu den auch noch längerfristig wirksamen Prägungen im neuen System.
Die "Gewinn- und Verlustrechnung" in Bezug auf Freiheitsgewinne und den persönlich "gezahlten" Preis, die die Bürger der ostdeutschen Bundesländer im Hinblick auf die deutsche Vereinigung aufmachen, fällt individuell verschieden aus, zumal sich Gewinne und Verluste unterschiedlich verteilen und die Opfer der SED-Diktatur im engeren Sinne zahlenmäßig begrenzt waren. Die errungenen politischen Freiheitsrechte werden inzwischen als normal angesehen und zudem nicht der deutschen Vereinigung, sondern dem Herbst 1989 zugerechnet. Der Verlust der sozialen Sicherungen dagegen wird der deutschen Vereinigung, der Deindustrialisierung in Ostdeutschland und der Realisation des Prinzips "Rückgabe vor Entschädigung" zugewiesen.
Hinzu kommt, dass der Herbst 1989 zwar den Ausgangspunkt einer neuen politischen Öffentlichkeit in der damaligen DDR geschaffen hatte und es in vielerlei Ansätzen zu einer politischen Reflexion der eigenen Lage, der eigenen Interessen und möglicher Gestaltungsoptionen gekommen ist. Aber diese Chance blieb ungenutzt angesichts des Unvermögens, aus der Öffentlichkeit eine politische Macht hervorgehen zu lassen. Politische Zusammenhänge mit einem auf eigene Interessen und Voraussetzungen bezogenen politischen Willen sind daher nicht auf Dauer entstanden und folglich auch in die neue Bundesrepublik nicht eingebracht worden.
Dieser Vorgang hat Folgen bis heute. Die ostdeutsche Teilgesellschaft besteht aus "Mentalitätsgemeinschaften ohne politische Selbstreflexion und ohne politischen Willen"
Perzeptionsprobleme
Die zur Wendezeit in der DDR manifest gewordenen Ansätze zur Herausbildung einer demokratischen Politikkultur aus eigenen Wurzeln haben sich also offensichtlich in den Mühen der ostdeutschen Transformationsprozesse weitgehend verloren und sich aus westdeutschem Blickwinkel auf einem Niveau eingeebnet, das dort aus den fünfziger und sechziger Jahren bekannte Phänomene wieder zu erkennen nahe legt. Da folgt auf eine über viele Jahre betriebene Ideologieübersättigung eine "skeptische Generation", die in weiten Kreisen Politikverdruss und politische Abstinenz als Tugend empfindet. Waren es zunächst materielle Sorgen und der Kampf um den Erhalt des sozialen Status, die alte Bindungen und Solidarbeziehungen brüchig werden ließen, greifen inzwischen die allgegenwärtigen Individualisierungsimpulse - vielfach noch ohne auf entsprechende normative Orientierungen und Sozialisationsvoraussetzungen treffen zu können. Gefühle von sozialer Unbehaustheit verklären die den Realsozialismus prägende Mangelsolidarität zu einem Ausdruck sozialer Harmonie und Gerechtigkeit.
Auch sonst wird DDR-Realität, zumal bei Älteren, eher mit sympathisierendem Gedächtnis betrachtet: Ordnung habe geherrscht, Arbeit hätte es genug gegeben, die soziale Absicherung wäre umfassend, die DDR wäre das wirtschaftlich leistungsfähigste Land im sozialistischen Lager gewesen, die Sorge für die Jugend hätte eine hohe Priorität genossen
Man mag zu diesen verbreiteten und natürlich alles andere als gegenstandslosen Wahrnehmungen stehen, wie man will: Als Politikbedingung ist ihnen ebenso Rechnung zu tragen wie den Verdrängungen, die mit ihnen einhergehen. Dazu gehört die Tatsache, dass die DDR in den ausgehenden achtziger Jahren am Ende ihrer ökonomischen Möglichkeiten angelangt war, ebenso wie diejenige, dass die Treuhandanstalt und die Gauck-Behörde Schöpfungen der DDR-Volkskammer sind. Die Wirtschafts- und Währungsunion vom Juli 1990 wurde gegen den Rat fast aller wirtschaftlichen Sachverständigen aus zwingenden politischen Gründen eingeführt ("Kommt die DM, bleiben wir. Kommt sie nicht, gehn wir zu ihr"). Die westdeutsche Bundesrepublik hat sich die DDR nicht einverleibt, sondern diese ist ihr ziemlich überstürzt beigetreten, und die seit 1990 nach Ostdeutschland fließenden Transferleistungen haben schon quantitativ alles andere als den Charakter von Almosen. Ein klärender Blick auf das vergleichsweise ökonomische Elend der anderen osteuropäischen Staaten wird dagegen kaum getan. Die Referenzgröße ist und bleibt Westdeutschland, wobei West- wie Ostdeutsche gerne übersehen, dass die Differenz zwischen unverdientem Glück auf der einen und unverdientem Pech auf der anderen Seite wohl Solidarität, aber keinen Vorrangsanspruch und natürlich auch keinen Anspruch auf Rechtsausgleich begründet.
Entsprechend vermittelt das derzeitige politische Klima in Ostdeutschland nicht den Eindruck eines verbreiteten Freiheits- oder Partizipationsdefizits, sondern vielmehr den eines Ordnungs- und Gerechtigkeitsdefizits. So unterliegt beispielsweise das Rechtsstaatsverständnis selbst bei etlichen ostdeutschen Multiplikatoren der politischen Bildung immer wieder der Gefahr des Missverstehens, das sich in der Frage kristallisiert, ob die DDR ein Rechtsstaat gewesen sei. Wenn man unter Rechtsstaat einen Staat versteht, der für Ordnung sorgt und insbesondere Verfehlungen streng und umstandslos ahndet, war die DDR natürlich ein Rechtsstaat. Sieht man hingegen den Kern des Rechtsstaats in der einklagbaren Bindung staatlicher Herrschaft an übergeordnete Rechtsprinzipien - mit einer ausgebauten Verwaltungsgerichtsbarkeit, die der DDR völlig fremd war -, war diese kein Rechtsstaat.
Das ist weit mehr als nur eine graduelle Differenz; und die Tatsache, dies oft nur sehr mühsam in der Öffentlichkeit wie in der Schule vermitteln zu können, ist symptomatisch. Die hierbei häufig nur schwierig zu erschließenden Abstraktionen von Politik oder - wichtiger - die zu investierenden Vertrauenskredite sind nämlich auch in anderen Politikfeldern zu bewältigen, wo viele "Normalbürger" ihre politischen Probleme bereits mit einfachen Erklärungen oder schlichtem Politikverdruss befriedigt haben. Eine Forsa-Umfrage vom Februar 2000 ergab denn auch signifikante Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen in der Einschätzung des gerade heftig diskutierten Haider-Phänomens
Das immer wieder reklamierte Gerechtigkeitsdefizit artikuliert sich auf zwei Ebenen: Da ist einmal die politische Argumentation, die darauf abhebt, dass Ostdeutsche von ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung bis zu ihrer politischen Repräsentanz "Bürger zweiter Klasse" seien, die sich bei der Herausbildung eines eigenen Selbstbewusstseins teils selbst im Wege stehen, teils sich einem westlichen Generalverdacht ausgesetzt sehen, sie seien in "ostalgischer" Befangenheit integrationsunwillig
Wenn ein fundiertes Wissen um das Herkommen gerade in all seinen Brüchen erforderlich ist, um zu erkennen, wo man angelangt ist und wohin man will, so fehlt zu vielem in Ostdeutschland eben diese Voraussetzung. Ein breiterer Diskurs hierzu ist jedenfalls bislang nicht erkennbar. Die dafür umso deutlichere Lagerbildung lässt ihn auch in nächster Zukunft nicht erwarten: Bürgerbewegte und kritische Geister auf der einen Seite, die große Mehrheit als breite Mitte, die sich selektivem Gedächtnisverlust vor allem hinsichtlich der totalitären und repressiven Züge des alten Herrschaftssystems hingibt, und die Trotz-und-alledem-Fraktion auf der anderen Seite des politischen Spektrums haben sich zu den eigenen Angelegenheiten wenig zu sagen. Gemeinsame Befindlichkeiten gegenüber einem westdeutschen "Über-Ich" sind dafür eben kein Ersatz, immerhin aber durchaus eine ergiebige Quelle für Widerständigkeiten gegenüber westdeutschen Assimilationszumutungen
An dieser Nahtstelle dürfte das Verhältnis der beiden ungleichen Teilsysteme in Deutschland-Ost und in Deutschland-West als Dilemma erkennbar werden: Die kulturelle Illusion der Vereinigungseuphorie war die Erwartung, hier würden sich in wenigen Jahren zwei Teilgesellschaften auf gleicher Augenhöhe mit halbwegs symmetrischen Konfliktpotentialen begegnen und aufeinander einlassen. Was sich herausstellte, war im Osten ein Mangel an artikulations- und durchsetzungsfähigen Eliten
Andererseits gibt es auf der politischen Artikulationsebene keinen Anlass, bloße Negativbilanzen aufzumachen. So ist in Ostdeutschland die Aversion gegen reine Marketing-Politik sehr verbreitet, und dialogische Politikstile werden gegen das Parteiengezänk sehr geschätzt. Auch wächst die Bereitschaft zu direktem und indirektem politischen Engagement, wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Westdeutschland. In der politischen Alltagspraxis wissen sich die Ostdeutschen im neuen politischen System durchaus und zunehmend wirkungsvoll zu bewegen: Der im Nachkriegsdeutschland erstmalige Regierungswechsel durch die Wahlen vom Herbst 1998 wurde entscheidend durch die ostdeutschen Wähler bewirkt. Die Stimmenanteile für rechtsextremistische Kräfte sind nur in Sachsen-Anhalt höher als in einigen westdeutschen Regionen und werden zudem durch die Neigung zur Wechselwahl in den neuen Ländern relativiert. Dabei ist ein solches Wechselwahlverhalten keine nachteilige Besonderheit, sondern schreitet offenbar einer in Westdeutschland sich verbreitenden Flexibilisierung voran.
Betrachtet man die seit der Wende hohen Stimmenanteile der PDS mit allen Wahlforschern nicht als bloßen Ausdruck von politischer Nostalgie, sondern als ein Phänomen eigener politischer Ambitionen mit vergleichsweise hohen Mobilisierungsraten, so ist auch dies kein schlechtes Zeichen (vor allem im Westen wird gerne vergessen, dass die SED durch ihre eigene Basis demontiert wurde). Die verbliebenen Aktivisten der DDR-Bürgerbewegung mögen auf den ersten Blick marginalisiert sein; eine nähere Betrachtung zeigt jedoch, dass von ihnen nach wie vor sehr kräftige und wirkungsvolle Impulse ausgehen. Schließlich und nicht zuletzt gibt es sehr viele Ostdeutsche, die in unterschiedlicher Intensität ihre eigenen biografischen Erfahrungen aus autoritärer Bevormundung, aber auch aus dem Scheitern des realsozialistischen Experiments produktiv verarbeitet haben, was wiederum ein genuin ostdeutsches Ereignis politischer Sozialisation von kaum zu überschätzender Bedeutung ist.
Politische Bildung in Ostdeutschland
Die bislang erörterten ostdeutschen Politikbedingungen sind zugleich Anlass und Problem für politische Bildung, auf deren institutionelle Voraussetzungen kurz eingegangen werden soll. Nach der deutschen Vereinigung wurden in den ostdeutschen Bundesländern teilweise vorhandene Fort- und Weiterbildungsstrukturen übernommen bzw. verändert und teilweise die aus Westdeutschland bekannten Grundstrukturen der politischen Bildung adaptiert: Es wurden Landeszentralen für politische Bildung eingerichtet und die mit politischer Bildungsarbeit beschäftigten westdeutschen Stiftungen (zuerst die parteinahen) dehnten ihre Tätigkeit auf Ostdeutschland aus. Ferner kam es bald zu Aus- oder Analoggründungen anderer renommierter westdeutscher Einrichtungen. Schließlich entstanden viele unabhängige Einrichtungen und Initiativen. Inhaltlich orientierte man sich zunächst ganz überwiegend an westdeutsch inspirierten Konzepten und Bedarfsannahmen. Offensichtlich waren eigene nicht zur Hand oder es mangelte ihnen an Plausibilität bzw. dem Willen, sie gegen die anfangs ja noch wohlfeilen westlichen Hilfsangebote zu realisieren. Allerdings stellte sich recht schnell heraus, dass eine bloße Übernahme von in Westdeutschland bewährten Rezepten unter ostdeutschen Bedingungen kaum funktionieren konnte.
Die Hauptgründe hierfür lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen:
- Die Finanzierung, zumal der unabhängigen freien Träger, ist häufig außerordentlich prekär: Fast immer auf öffentliche Mittel angewiesen, balancieren sie mangels finanzieller Rücklagen ständig an Abgründen des institutionellen Scheiterns, was bereits durch die Verzögerung von Mittelzusagen etwa aufgrund von Haushaltssperren oder (häufiger) bloßen Bearbeitungsstaus ausgelöst werden kann. Zudem sind viele Träger auf Räumlichkeiten und Liegenschaften angewiesen, die mit mangelhafter Ausstattung und marodem baulichen Zustand zwar beträchtliche Kosten verursachen, gleichzeitig aber den potentiellen Adressaten von politischer Bildung wenig Anreiz bieten, derartige Veranstaltungsorte aufzusuchen.
- Eine Folge dieser misslichen Situation besteht darin, dass die Träger politischer Bildung vielfach ein gesundes Mischungsverhältnis zwischen Kooperation und Konkurrenz mit anderen Trägern noch nicht haben finden können, vielmehr in teilweise ruinösen Konkurrenzverhältnissen agieren. Hinzu kommt, dass die Egoismen im Aufbau befindlicher Initiativen und Einrichtungen naturgemäß besonders ausgeprägt sind. Dies drückt sich bisweilen auch darin aus, dass inhaltliche und qualitative Vorgaben öffentlicher Mittelgeber als ungerechtfertigte Bevormundungen angesehen werden.
- Auf der "Abnehmerseite" ist festzustellen, dass die Bereitschaft, politische Bildungsangebote wahrzunehmen bzw. sich in Initiativen zu engagieren, die politikbildenden Anspruch haben, in Ostdeutschland generell deutlich geringer ausgeprägt ist als in Westdeutschland. Die nach wie vor verbreiteten Orientierungsschwierigkeiten im politischen System bundesdeutscher Prägung führen gerade nicht dazu, dem durch politisches Engagement und mehr Informationsgewinnung abhelfen zu wollen, sondern eher zu Desinteresse und zu politischer Apathie.
- Die oft nur geringe Nachfrage korrespondiert auf der Angebotsseite vielfach mit wenig attraktiven Bildungsofferten, sei es, dass aktuelle Probleme nicht oder nicht publikumswirksam aufgegriffen werden, sei es, dass das Marketing politischer Bildung insgesamt vernachlässigt wird, sei es schließlich, dass die notwendige Vernetzung mit anderen Bildungssektoren außer Acht gelassen wird. Die Angebotsprobleme kristallisieren sich in deutlichen Qualifikationsdefiziten vieler Dozenten der politischen Bildung in den neuen Bundesländern. Häufig sind sie fachlich nicht auf dem Stand einer auch nur mäßig anspruchsvollen politischen Diskussion; ihre fachdidaktische Kompetenz steht oft in keinem positiven Verhältnis zu ihrem Engagement, und ihr Vermögen, politische Bildung langfristig wirksam zu betreiben, ist wenig ausgeprägt.
- Da in Ostdeutschland, zumal in ländlichen Räumen, der formelle (Vereine) wie auch der informelle (örtliche Lebens- und Kommunikationsbeziehungen) Zusammenhalt als Folge der Transformationsprozesse vielfach sehr ausgedünnt ist, mangelt es der politischen Bildung an dieser Infrastruktur, die überhaupt erst die Umgebung schafft, in der sie sich entfalten kann. Zwar könnte die Arbeit an dieser Infrastruktur durchaus auch als Gegenstand von politischer Bildung verstanden werden, derlei Vorhaben begeben sich allerdings in die Schwierigkeit, neben den Förderrichtlinien öffentlicher Mittelgeber zu liegen, mithin nicht bezuschusst werden zu können. Die in den alten Ländern durchaus verbreitete Praxis, derlei in einem Förderungsmix aus unterschiedlichen Förderern anzugehen, gelingt in Ostdeutschland noch unvollkommen. Hier mangelt es sowohl an dem Know-how der potentiellen Förderungsnehmer als auch an der Phantasie und Bereitschaft potentieller Förderungsgeber.
- Während sich handlungsbezogene politische Bildung vor allem auf der kommunalen Ebene entfalten muss, verharren die ostdeutschen Stadt- und Gemeindevertretungen bzw. ihre Administrationen noch weithin in einem Selbstverständnis, das auf vertikale Steuerung zielt und in dem die qualifizierte Bürgerbeteiligung überflüssig bis suspekt erscheint. Selbst die in der ausgehenden DDR verbreiteten Mediationsforen der "Runden Tische" haben kaum überlebt. In Westdeutschland vielerorts praktizierte und weithin plausible Modelle der kommunalen Bürgerbeteiligung wie Bürgerbüros, Zukunftswerkstätten, Planungszellen und Anwaltsplanung sind in Ostdeutschland noch eher exotische Einzelphänomene.
- Die Landeszentralen für politische Bildung versuchten zwar, eigene Profile zu entwickeln, stießen aber dort, wo deutlich von westdeutschen Üblichkeiten abweichende Wege gesucht wurden, schnell an Strukturgrenzen, die durch die notwendige Übernahme des westdeutschen Zuwendungsrechts gezogen werden. Die Förderrichtlinien sind auf spezifische ostdeutsche Problemlagen, die eben nur hier auftreten, nicht eingerichtet; man denke an die hierzulande nahe liegende Verknüpfung von berufsnaher und politischer Weiterbildung.
Das eigene Haus bestellen
Vielleicht muss politische Bildung in Ostdeutschland sich hinsichtlich dessen, was sie als "normale" Wirkungsmöglichkeiten ansieht, tatsächlich auf eine Art Moratorium einstellen: Sie muss Entwicklungen im politischen Bewusstsein wachsen lassen, wo immer es geht, Enttabuisierungen fördern und sensibel werden, wo sich eigene, authentische Zugänge für Politik öffnen. Dazu gehört das Ausgehen von spezifischen Problemlagen und Anknüpfungen, die eben weniger mit dem gemeinsamen Nenner "ostdeutsch" als vielmehr mit regionalen Eigenheiten, Mentalitäten und Vertrautheiten zu tun haben. Politische Aktivierung und Partizipation findet zuerst hier, in hiesigen Zusammenhängen, unter hiesigen Bedingungen und für hiesige Belange statt. Die von manchen immer wieder beschworene Ineinssetzung von staatlicher Einheit einerseits und kultureller wie sozialer Einheitlichkeit andererseits verbietet sich angesichts der auch in Deutschland konstitutiven kulturellen Vielfalt ebenso wie angesichts der zunächst absehbar weiter auseinander gehenden Schere im Wohlstandsgefälle zwischen Ost- und Westdeutschland
Bei näherem Betrachten erhebt sich auch primär gar nicht die Frage, welche Art und welcher Grad von Informiertheit oder persönlicher Zufriedenheit am besten dazu geeignet sein könnte, das Vertrauen in politische Einrichtungen zu mehren und das Wissen um ihren Sinn, ihre Strukturen und damit ihre Veränderbarkeit zu verbreiten. Bei der Politik verhält es sich nicht anders als in den Wahrnehmungsmustern zu anderen Lebensbereichen: Es sind nicht abstrakte Informationen über Notwendigkeiten, auch nicht über Sachzwänge, die Leute dazu bringen, sich für eine Sache zu engagieren, über sie zu streiten und sich auf ihre Problemzusammenhänge einzulassen, sondern lauter Faktoren, die vor dem eigentlichen Informationsbedürfnis, ja vor der Fähigkeit, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, liegen: Grundüberzeugungen, Einsichten, Hoffnungen, Ängste, Vorurteile, Vertrauen und Misstrauen, Sympathien und Antipathien. Und eben hier scheint die Bereitschaft vieler Ostdeutscher, sich mit dem politischen System anzufreunden, noch sehr verhalten zu sein.
Eine wichtige Katalysatorwirkung hierfür dürfte vor allem die Jugend entfalten: Zunächst sind es Jugendliche, die vergleichsweise häufig unter im Konsumstress entstehender mangelnder familiärer Zuwendung leiden, oft von unzureichend qualifizierten Lehrern und Ausbildern unterrichtet werden, mit grassierender Jugendarbeitslosigkeit und einem ausgedünnten System an jugendgemäßen Integrationsangeboten konfrontiert sind. Bereits spätestens seit dem Jahrgang 1980 sind junge Erwachsene und Jugendliche nur noch entfernt und mittelbar von der DDR geprägt. Was ihnen Eltern und Lehrer über ihre DDR-Erinnerungen mitteilen, werden sie mit jugendtypischer Skepsis betrachten. Sicher wird es zu Fragen kommen, die alle nachwachsenden Generationen den Älteren stellen - zumal, wenn deren Erbe zu kritischen Fragen einladende Besonderheiten aufweist.
Vielleicht stehen wir ja bereits an einer solchen Schwelle, deren Überschreiten der politischen Bildung in den Ländern und Regionen Ostdeutschlands den notwendigen Streit über die eigenen Themen und Zustände beschert. Zeichneten die empirischen Umfragen zum politischen Jugendbewusstsein für die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung ein den Einstellungen der Älteren entsprechendes Bild, so wird dies in den letzten zwei Jahren uneinheitlicher