I. Der demokratiekompetente Bürger als Ziel politischer Erziehung
Dass die politische Bildung keine Erfindung profilierungssüchtiger Pädagogen ist, sondern von Politikern das Prädikat "staatspolitisch bedeutsam" zuerkannt bekommen hat, lässt sich schon an der Weimarer Reichsverfassung zeigen. Diese bestimmte in Artikel 148, dass in allen Schulen "staatsbürgerliche Gesinnung" anzustreben und zu diesem Zweck ein Lehrfach mit der Bezeichnung "Staatsbürgerkunde" einzurichten sei. Die Väter der Weimarer Verfassung waren sich offenkundig dessen bewusst, dass der neue demokratische Staat der politischen Grundeinstellung seiner Bürger beträchtliche Aufmerksamkeit schenken sollte.
Nun kam es in Weimar nicht zur Etablierung des eben erwähnten Lehrfaches. Wie allgemein bekannt ist, konnte sich in der ersten deutschen Republik auch keine gefestigte staatsbürgerliche Gesinnung entfalten. Aus diesem Scheitern zogen die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges nach 1945 den Schluss, dass in Deutschland eine Bürgerschaft herangezogen werden müsse, die "demokratietauglich" sei. Wie ein roter Faden durchzieht diese Einsicht auch die gesamte Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Zwar beherrschten in den siebziger und achtziger Jahren andere Themen die Diskussion, seit einigen Jahren hat aber der Bürger wieder Konjunktur in programmatischen Grundlagentexten der politischen Bildung.
Die entscheidende Aussage des 1995 von einer Gruppe namhafter Politikwissenschaftler, Soziologen und Vertretern der politischen Bildung veröffentlichten "Darmstädter Appells" lautet, dass das Ziel politischer Bildungsarbeit im Kern die Befähigung der Schüler zur Wahrnehmung ihrer Bürgerrolle in der Demokratie sein müsse. Zur Ausfüllung dieser Rolle benötigten die Menschen diverse Kompetenzen: Erstens gehöre dazu ein Wissen über das Gesellschafts- und vor allem das politische System und seine Institutionen, über den Ablauf politischer Prozesse und die dabei geltenden Regeln. Zweitens gehörten dazu bestimmte Einstellungen und Verhaltensdispositionen. Drittens würden Fähigkeiten wie Handlungs- und Gestaltungskompetenz zur Nutzung von Partizipationschancen sowie eine auf Politik bezogene Entscheidungs- und Problemlösungsfähigkeit benötigt
Eine ganz ähnliche Sichtweise wird im "Münchner Manifest" mit dem Titel "Demokratie braucht politische Bildung" vertreten, das die Leiter der Bundeszentrale und der Landeszentralen für politische Bildung im Mai 1997 beschlossen. Es heißt dort, dass der demokratische Rechtsstaat vom mündigen Mitdenken und Mittun seiner Bürger sowie von ihrer Bereitschaft lebe, sich selbstverantwortlich und sozialverantwortlich ein Urteil zu bilden, in der Verfassung normierte Regeln und Werte zu respektieren und sich für sie zu engagieren. Die durch gesellschaftliche Umbrüche gekennzeichnete Gegenwart fordere die Demokratiekompetenz der Bürger auf besondere Weise heraus. Nur eine Bürgerschaft, die auf qualifizierte Weise am Zustandekommen politischer Entscheidungen teilhabe, stehe auch in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche zur Demokratie. Politische Bildung arbeite für eine aktive Bürgergesellschaft, die den Staat als Summe aller Bürger begreife und nicht als dienstleistendes Gegenüber
Die beim Bürger zu erzielenden Kompetenzen weisen in beiden Texten der Sache nach kaum Unterschiede auf. Im Mittelpunkt der zu entwickelnden Bürgerrolle steht ganz deutlich der Partizipationsgedanke oder - in der Sprache der Staatsrechtslehre - der Status activus. Damit sich der Einzelne an der Politik beteiligen kann, sind nach Aussage der Texte diverse Handlungsfähigkeiten und -fertigkeiten auszubilden. Gemeinsam ist den Texten auch der Hinweis auf das Erfordernis von Sachkenntnissen sowie mündigen Mitdenkens und eigenständiger Urteilskraft.
Die Partizipationskompetenz kulminiert beim Darmstädter Appell in der Forderung, eine politische Gestaltungskompetenz sowie eine politische Entscheidungs- und Problemlösungsfähigkeit auszubilden. Das klingt nach unmittelbarer Zuständigkeit für die Gemeinwohlpolitik. Das Münchner Manifest optiert seinerseits ausdrücklich für eine aktive Bürgergesellschaft. In dieser spielt das mündige Mittun, das nicht durch individuelle Nutzkalküle motiviert ist, ebenfalls eine tragende Rolle.
Fasst man die wesentlichen Aussagen der beiden Texte zusammen, so ist das Zielbild der Bemühungen politischer Bildung und Erziehung offenkundig der mündige Bürger, der, um seine Beteiligungsrechte wissend, rational urteilt und aktiv-partizipatorisch in die Politik eingreift. Die Texte zeigen auch keine Zurückhaltung darin, den Bürger moralisch stark zu beanspruchen. Denn dieser soll seine Partizipationsanstrengung auf das Ganze, genauer: auf das Wohl des Ganzen richten. Von partikularen Interessen - immerhin Alltag in einer pluralistischen Demokratie - ist nicht eigens die Rede, wenn auch nicht behauptet werden soll, dass sie negiert würden.
Im Horizont der politischen Bildung verbinden sich mit dem Bürger also offenkundig große Hoffnungen. Dieser sieht sich aber auch mit hohen Ansprüchen konfrontiert. Die Frage ist, ob diese Erwartungen realistisch sind. Zu diesem Zweck ist es ratsam, sich bei der Politikwissenschaft nach den Aussichten zu erkundigen.
II. Der Bürger im Fokus der Politikwissenschaft
Ähnlich wie die politische Bildung widmet sich auch die Politikwissenschaft seit einiger Zeit wieder stärker dem Bürger. Der Bürger als individueller Akteur in der Demokratie ist auf die Agenda vor allem der politischen Theorie geraten, weil das Bewusstsein dafür gewachsen ist, dass er zu einer knappen Ressource der politischen Ordnung werden kann. Es gilt nicht mehr als selbstverständlich, dass ein funktionierendes politisches System automatisch bei den Bürgern die Einstellungen und Verhaltensweisen hervorbringt, die für den Fortbestand des Systems notwendig sind.
Dass die Demokratie höhere Anforderungen an den Einzelnen stellt als alle anderen Staatsformen, gehörte schon zum Gemeingut der Aufklärung. Die entsprechenden Stellen bei Montesquieu, Rousseau und Kant belegen dies nachdrücklich
Die Politikwissenschaft kann bei ihren Reflexionen über das dem Bürger Abzufordernde auf eine ehrwürdige Tradition zurückblicken. Von Aristoteles stammt die Vorstellung, dass der Staat - die Polis - eine geordnete Gemeinschaft von Bürgern darstellt und ein Bürger derjenige ist, der an den Regierungsgeschäften seiner Polis teilnimmt
In der Sprache der jüngeren Politikwissenschaft wird das von Sternberger fast poetisch Vorgetragene nüchterner formuliert und sachlich differenziert. Hier ist dann die Rede von der bürgerschaftlichen Kompetenz, die sich in kognitive, prozedurale und habituelle Kompetenzen entfaltet.
Mit der kognitiven Kompetenz ist das Erfordernis eines gewissen Niveaus an Wissen und Lernfähigkeit gemeint, wobei sich das Wissen auf die institutionelle Ordnung des politischen Systems, auf funktionale Zusammenhänge innerhalb dieses Systems bis hin zu seinen weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Abhängigkeiten bezieht. Der Bürger soll aber auch hinsichtlich der Inhalte der je aktuellen politischen Entscheidungen über sachlich informierte Kenntnisse verfügen.
Prozedurale Kompetenzen sind Kenntnisse und Fertigkeiten, die benötigt werden, um politische Einflussmöglichkeiten und Partizipationschancen auch tatsächlich wahrnehmen zu können. Der Bürger muss zu diesem Zweck Kenntnisse über administrative Zuständigkeiten und rechtliche Verfahren besitzen. Er muss über strategische Fähigkeiten verfügen, um eigene oder als richtig erkannte allgemeine Ziele verwirklichen zu können.
Habituelle Kompetenzen sind Einstellungen oder - in traditioneller Terminologie - Tugenden, die der Bürger dem Gemeinwesen zu dessen Bestandserhaltung entgegenbringen muss. Sie müssen affektiv fest verankert sein, damit sie handlungsmotivierend wirken können. Moderne Demokratien sind in ihren habituellen Erwartungen besonders anspruchsvoll. Als staatliche Gemeinwesen benötigen sie natürlich Rechtsgehorsam, darüber hinaus aber auch Opferbereitschaft, das Gemeinwesen gegen Bedrohungen von außen zu verteidigen. Als liberale Gemeinwesen bedürfen sie der Fairness und der Toleranz in weltanschaulichen Angelegenheiten. Als demokratische Gemeinwesen sind sie angewiesen auf Partizipation, die nach Möglichkeit rational, verantwortbar und regelmäßig sein soll. Als sozialstaatliche Gemeinwesen kommen sie nicht ohne sozialen Gerechtigkeitssinn und Solidarität aus
Es ist offenkundig, dass die bürgerschaftliche Kompetenz nicht von selbst besteht. Sie ist von inneren, also mentalen Voraussetzungen abhängig und bedarf der Ausbildung sowie der Pflege. Andererseits lässt sich vermuten, dass der die Bürgerkompetenz tragende Bürgersinn unaustilgbar ist, wenn die Annahme des Aristoteles zutrifft, dass der Mensch ein Zoon politikon ist, d. h. ein staatliches, besser noch: ein bürgerliches Wesen. Unter dieser Voraussetzung wird es immer Bürger geben, die sagen "Das geht mich an!"
Trifft aber die aristotelische Annahme in der Realität so ohne weiteres zu? In der Geschichte des westlichen politischen Denkens lassen sich bei aller Differenziertheit im Einzelnen jedenfalls zwei widerstrebende Traditionsstränge angeben, die auf die Frage nach den moralischen Qualitäten des Bürgers unterschiedliche Antworten geben und in der Folge zu divergierenden Staats- und Demokratieentwürfen gelangen.
Die republikanische, auf Aristoteles und den italienischen Bürgerhumanismus zurückgehende Tradition lässt sich von der bisher skizzierten Idee des Bürgers leiten. Die Tugend des Bürgers, verstanden als Habitus, das Wohl des Gemeinwesens höher zu schätzen als die je eigenen Interessen, ist hier der entscheidende Grundgedanke. In diesem Denken findet sich der Bürger immer schon in eine politische Ordnung eingebunden. Er ist in seinem politischen Wollen am Gemeinwohl und an öffentlicher Verantwortung orientiert. Er identifiziert sich mit dem Gemeinwesen als seiner Res publica. Der Status des Bürgers definiert sich folglich in erster Linie von der politischen Teilhabe her. Die Bürgerschaft begreift sich als sittlicher Lebenszusammenhang freier und gleicher Rechtsgenossen. Diese Sichtweise verdient mit Recht den Namen Republikanismus.
Demgegenüber geht die liberale, durch Thomas Hobbes und John Locke fundierte Traditionslinie vom Individuum aus, das in erster Linie auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Allgemein anerkannte Prinzipien sind hier das Selbstinteresse, das Privateigentum und der sozioökonomische Wettbewerb. Rationalität besteht in der individuellen Nutzenkalkulation. Zum Gemeinwesen hat der Einzelne ein strategisches Verhältnis: Ihm geht es in erster Linie darum, seine privaten Interessen politisch zur Geltung zu bringen. Im Verhältnis zum Staat achtet der Bürger vor allem auf die Respektierung subjektiver Rechte, die ihm einen Optionsspielraum gewährleisten sollen. Dieses Denken rechnet im öffentlichen Bereich nicht mit der Moralität des Bürgers - sondern oft mit dem Gegenteil! Politiktheoretischen Ausdruck hat diese Sichtweise im Gesellschaftsvertragsdenken gefunden. Sie lässt sich daher unter der Bezeichnung Kontraktualismus zusammenfassen, könnte aber auch einfach politischer Liberalismus genannt werden
III. Unterschiedliches Bürgerbild - unterschiedliche Demokratievorstellung
Der dem Bürger eine politisch-moralische Kompetenz grundsätzlich zutrauende Republikanismus favorisiert eine Demokratievorstellung, in der den aus bürgerschaftlicher Kommunikation und Teilnahme hervorgehenden Anregungen erhebliches Gewicht für die Politikformulierung beigemessen wird. Der den Bürger ganz anders einschätzende politische Liberalismus neigt demgegenüber zu einer Demokratie, in der gewählten Repräsentanten die politische Entscheidungsformulierung mit der Maßgabe überlassen ist, den als wenig rational empfundenen empirischen Volks- oder Bürgerwillen zu einem echten Gemeinwohl zu sublimieren.
Mithin stehen sich prinzipiell die auf Bürgeraktivität setzende partizipatorische und die auf Arbeitsteilung basierende repräsentative Demokratie gegenüber. In zugespitzter Formulierung entspricht dem Republikanismus eine basisorientierte, dem politischen Liberalismus eine eher elitenorientierte Demokratie. Demokratietheoretisch hat sich die Gegenüberstellung, die auf der konkreten politischen Ebene nicht völlige Unvereinbarkeit bedeuten muss, im Laufe der Zeit weiter verfeinert. Auf der Seite des Republikanismus stehen die eng zusammenhängenden Konzepte des Kommunitarismus, der Zivil- oder Bürgergesellschaft, der assoziativen und der deliberativen Demokratie. Eine Weiterführung des politischen Liberalismus ist in der pluralistischen Demokratietheorie zu sehen, insofern hier die im Republikanismus unterstellte sozio-moralische Kompetenz des Bürgers mit einer gehörigen Portion Skepsis betrachtet wird.
Auslöser der kommunitarischen Bewegung ist die diagnostizierte Abnahme altruistischer Verhaltensweisen und gemeinschaftsorientierter Werte. Verantwortlich gemacht hierfür wird der "Liberalismus der Gier". Als Gegenmittel wird die Steigerung des bürgerschaftlichen Engagements für politische und soziale Ziele zum Wohle der Gemeinschaft empfohlen
Die Zivil- oder Bürgergesellschaft setzt auf die Selbstorganisation und vielfältige Mitwirkung der Bürger an allen Angelegenheiten, die nicht rein privater Natur sind. Vorbild ist die durch die lebendige Vielfalt von Assoziationen gekennzeichnete Gesellschaft im Amerika des 19. Jahrhunderts, wie sie von Tocqueville berichtet worden ist. Eine solche Gesellschaft besteht aus freiwilligen, nicht ökonomisch orientierten Vereinigungen, sozialen Bewegungen und einer autonomen öffentlichen Kommunikation. Sie bestellt das weite soziale Feld jenseits des ökonomischen und des staatlichen Zugriffs. Ihre Aktivitäten sind freiwillig, aber nicht privat, öffentlich, aber nicht staatlich. Sie erfüllt die zum Demokratieversprechen gehörenden Dimensionen der Subsidiarität, Selbstverwaltung und Teilhabe
Das Konzept der assoziativen Demokratie hebt hervor, dass nicht auf wirtschaftlichen Gewinn bedachte Assoziationen - wie Vereine, Stiftungen, soziale Bewegungen und Weltanschauungsgemeinschaften - Überzeugungen, Präferenzen, Denk- und Handlungsgewohnheiten der Bürger maßgeblich bestimmen sowie moralische Kapazitäten und Kooperationsbereitschaften aktivieren und in dieser Hinsicht das intermediäre Unterfutter einer funktionstauglichen Demokratie bilden. Ziel ist die Übergabe staatlicher Kompetenzen auf assoziative Selbstverwaltung. Autonome Aushandlungen und Diskurse zwischen den Assoziationen, die ihr Mandat auf die Unterstützung der Bürger zurückführen, sollen das politische Leben der modernen demokratischen Gesellschaft prägen. Allerdings sind solche Assoziationen nicht flächendeckend vorhanden. Eine Verbreiterung der assoziativen Basis der Demokratie wird daher für erforderlich gehalten
Die äußerste Zuspitzung findet die republikanische Tradition zweifellos in der deliberativen Demokratie. Dieses insbesondere von Jürgen Habermas entwickelte Modell
Gegen das den republikanischen Modellen zugrunde liegende optimistisch-idealistische Bürgerbild stellt die Pluralismustheorie eine betont nüchterne anthropologische Annahme. Sie geht davon aus, dass die Verfolgung von Eigeninteressen einen essentiellen Bestandteil der menschlichen Natur bildet und dass der Mensch auch in seiner Eigenschaft als Staatsbürger nicht ganz aus seiner Haut als interessenbehaftetes Individuum heraus kann. Sie hält sich zugute, ihr politisches Denken an dem Bild des Menschen auszurichten, wie er ist, und nicht an der Vision eines Idealbürgers. Ihr im deutschen Sprachraum maßgeblicher Vertreter Ernst Fraenkel betonte, dass die Pluralismustheorie mit ihrer Auffassung des nicht perfekten, d. h. des an sich selbst denkenden und insofern "gefallenen" Menschen in Übereinstimmung sowohl mit den pragmatischen Erfahrungen westlicher Demokratien wie mit der jüdisch-christlichen Tradition stehe
Bezüglich der politischen Willensbildung unterscheidet die Pluralismustheorie mehrere Wirkungsebenen für den Bürger: Eine individuelle Teilhabe an der Politik geschieht über die Ausübung des Wahlrechts, über die Wahrnehmung des Petitionsrechts und - ganz generell - über die teilnehmende Beobachtung am politischen Geschehen. Darüber hinaus kann der Einzelne Mitglied einer ideellen Vereinigung oder sozialen Bewegung sowie Parteimitglied oder -sympathisant sein. Schließlich gibt es die Möglichkeit, über Mitgliedschaft oder Mitarbeit in einem Interessenverband die Regelung derjenigen Dinge zu beeinflussen, die mit seiner individuellen sozialen und wirtschaftlichen Lage zu tun haben
Frei von jeder Überschätzung des dem einfachen Bürger Möglichen und in Übereinstimmung mit dem Grundgedanken demokratischer Repräsentation geht Fraenkel davon aus, dass der Einzelne selber nicht zur Konzeption von Politik befähigt ist, mit der Stimmabgabe am Tag der Wahl aber Zustimmung oder Ablehnung getroffener bzw. beabsichtigter politischer Entscheidungen ausdrücken kann. Grundsätzlich verlangt die Pluralismustheorie vom Bürger nicht, dass er seine Interessenbindung verleugnet, wenn er das Gebiet des Politischen betritt. Sie erwartet von ihm lediglich, dass er die Spannung zwischen Partikularinteresse und Gemeinwohl nicht aus den Augen verliert und die Gemeinwohlverpflichtung der Repräsentanten respektiert
Im politikwissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahre dominiert jedoch der Republikanismus mit seinen hohen Erwartungen an die Bürgerschaftlichkeit des Menschen. Die Begriffe der herkömmlichen Politikwissenschaft wie Heterogenität, Konflikt, Interessen, Kompromiss, Konsens, Macht und Herrschaft finden in der vom Geist des Republikanismus geprägten "appellativ-normativen" Politikwissenschaft kaum noch Verwendung. Insbesondere in Gestalt der akademischen deliberativen Demokratietheorie lebt diese Politikwissenschaft von der Hoffnung (oder der Illusion?), dass die Tugendhaftigkeit des Bürgers vorhanden sein und sich ausbreiten könnte, dass ein ständiger Kommunikationsprozess unter Freien und Gleichen auf Dauer so etwas wie "Gemeinwohltugend" erzeugen werde
Gegen diese Annahme lässt sich kritisch einwenden, dass die Bedingungen für ein solches abstraktes Ethos und ein solches Kommunikationsverhalten mit der gesellschaftlichen Realität offenkundig nicht kompatibel sind. Die Zivilgesellschaft als gesellschaftliches Substrat der deliberativen Demokratie setzt permanenten politischen Aktivismus der Bürger voraus, der ebenfalls in der Wirklichkeit nicht zu erwarten ist. Die tägliche Sicherung des Lebensunterhaltes sowie andere Interessen absorbieren die Zeit und die Energie, welche für die permanente öffentliche Auseinandersetzung erforderlich wären
IV. Aussagen über den Bürger in der empirischen Politikwissenschaft
Nun gibt es sicherlich Beispiele für politische Tugendhaftigkeit von Bürgern. Auch gibt es bürgerschaftliches Engagement im sozialen und karitativen Bereich. Zweifellos ist jede bürgerschaftliche Aktivität zu begrüßen. Allerdings ist ebenso festzustellen, dass es nicht selten schnell zur Überforderung und Erschöpfung kommt. Außerdem sagt auch die Alltagserfahrung, dass ein ausgeprägter Gemeinsinn nur bei einer Minderheit von Bürgern anzutreffen ist. Diese Erfahrung wird gestützt durch die empirische Politikwissenschaft, die hinreichend gesicherte Belege für die Diskrepanz hat, welche zwischen normativem Anspruch und alltäglichem Verhalten hinsichtlich der zentralen republikanischen Bürgerkompetenzen Partizipation, Gemeinsinn und Rationalität herrscht.
So konstatiert die empirische Forschung eine kontinuierliche Abnahme konventioneller, d. h. rechtlich geregelter und sozial allgemein anerkannter Beteiligungsformen wie die Teilnahme an Wahlen und die Mitgliedschaft in Verbänden und Parteien
Auch mit der Vernunft der Bürger in politischen Dingen ist es nicht gut bestellt. Kenntnisse über die Strukturprinzipien der politischen Ordnung sind nur marginal vorhanden. Das parlamentarische Regierungssystem wird in seiner Funktionslogik von den meisten Bürgern nicht verstanden. Viele Bürger sind über die aktuellen Problemlagen der Politik wenig oder nur oberflächlich informiert, so dass von einer verbreiteten politischen Ignoranz gesprochen werden kann. Die Neigung zur Politisiererei "aus dem Bauch heraus" ist gleichwohl vorhanden. Diese brisante Mischung aus Wissensfragmenten, Verständnismängeln und Vorurteilen lässt das wenig schmeichelhafte Urteil zu, dass nicht Institutionen und Politiker, sondern die Bürger die eigentliche Schwachstelle und Achillesferse des Gemeinwesens sind
V. Der Bürger im Sog des politischen und gesellschaftlichen Wandels
Offenbar wird der akademisch geprägte Republikanismus der Wirklichkeit nicht gerecht. Damit sehen sich der politische Liberalismus und die repräsentative Demokratie mit ihren sehr gemäßigten Erwartungen an Rationalität und Partizipation des Bürgers bestätigt. Das dies so ist, scheint auf einem Theoriefehler zu beruhen, nämlich auf der falschen anthropologischen Annahme, dass der Mensch im Prinzip ein partizipationswilliger, gemeinsinnorientierter und rationaler Citoyen sei. Falls die These vom Theoriefehler zutrifft, wäre dies gleichbedeutend mit einem prinzipiellen Scheitern der republikanischen Hoffnung. Denkbar ist aber auch, dass die Schwierigkeiten des Republikanismus nicht hierauf zurückzuführen sind, sondern auf Wandlungsprozesse in Politik und Gesellschaft. In diesem Falle wären Aussichten auf Abhilfe eröffnet.
In der Tat spricht manches dafür, dass die politische Apathie vieler Bürger Ausdruck der Komplexität gesellschaftlicher Problemlagen ist, die zu durchschauen ein sehr hohes Maß an Kenntnis und Urteilsvermögen verlangt. Gleichzeitig ist - systemtheoretisch formuliert - der Grad an funktionaler Differenzierung des politischen Systems so hoch und die nicht spezialisierte Problemlösungsfähigkeit des Bürgers dem so wenig angemessen, dass der Einzelne aus Einsicht in seine Begrenztheit ein politisches Engagement unterlässt.
Entscheidende Aufmerksamkeit verdient der von der empirischen Sozialforschung für die letzten Jahrzehnte festgestellte Wandel der Wertorientierungen in der Bevölkerung. Es spricht viel dafür, hierin eine bestimmende Ursache für positive wie negative politische Grundeinstellungen und Verhaltensweisen zu sehen. Das Fazit der Untersuchungen der Forschungsgruppe um Helmut Klages lautet, dass generell ein Bedeutungsverlust so genannter Pflicht- und Akzeptanzwerte zugunsten von Selbstentfaltungswerten eingetreten sei. Die Menschen kombinierten die Werte aber unterschiedlich. Je nach vorgenommener Synthese entstünden mehrere Persönlichkeitstypen und werde politische Handlungsbereitschaft entweder gefördert oder erschwert bzw. verhindert. Es leuchtet ein, dass der Wertewandel Einfluss auf die Chancen der Vermittlung von Demokratiekompetenz hat.
Aus der Fülle der Daten kristallisieren sich nach Auffassung der Wertewandelforschung vier Persönlichkeitstypen heraus. Sie werden von Klages identifiziert als ordnungsliebender Konventionalist, als nonkonformer Idealist, als hedonistischer Materialist und als aktiver Realist. Die Typen unterscheiden sich deutlich in ihrer Eignung für die Übernahme der Bürgerrolle:
Der Konventionalist, der auch als Traditionalist bezeichnet werden kann, zeigt eine hohe Pflicht- und Akzeptanzbereitschaft in Verbindung mit einem gering ausgeprägten Bedürfnis nach Selbstentfaltung und aktivem Engagement. Partizipationsbereitschaft ist von diesem Typus kaum zu erwarten.
Als Autozentriker ist der Idealist der Gegentypus zum Konventionalisten. Bei ihm haben die Pflicht- und Akzeptanzwerte stark an Gewicht verloren. Eindeutig ausgeprägt sind dafür die individualistischen und idealistischen Selbstentfaltungswerte. Partizipationsbereitschaft in dieser Hinsicht ist von diesem Typus ohne Frage zu erwarten. Nur mit Vorbehalten wird man ihm jedoch zutrauen, dass er Verständnis für die "Zumutungen der Demokratie" zeigt wie Gesetzesgehorsam und Pflichtenübernahme zum Schutze des Gemeinwesens.
Der Materialist ist stark am Lebensgenuss interessiert. Das Interesse an den allgemeinen Problemen von Gesellschaft und Politik ist demgegenüber unterentwickelt. Der hedonistische Teil der Selbstentfaltungswerte bestimmt Haltung und Einstellung dieses Persönlichkeitstypus. Von den Pflicht- und Akzeptanzwerten werden nur bestimmte Segmente wie Ordnung und Gehorsam praktiziert. Dieser Typus neigt sowohl zur politischen Passivität als auch zu einem engen Horizont dessen, was seine politische Aufmerksamkeit erfährt. Er tritt der Politik aber mit einer hohen Erwartungshaltung gegenüber, was die Erbringung von materiellen Leistungen betrifft. Es bedarf keiner großen Phantasie, sich vorzustellen, dass dies leicht in Enttäuschung und Abwendung vom Gemeinwesen umschlagen kann, wenn vermeintliche Ansprüche nicht befriedigt werden.
Der Persönlichkeitstyp des aktiven Realisten weist gleichermaßen hoch ausgeprägte Pflicht- und Akzeptanzwerte wie Selbstentfaltungswerte auf. Er ist ein die Institutionen und Regeln des Gemeinwesens respektierender, die Notwendigkeit von Leistungsbereitschaft und Selbstdisziplin einsehender, von einem lebhaften Interesse am Gemeinwohl geleiteter und hier auch zum kritischen Engagement bereiter, auf die Verteidigung seiner Rechte und Interessen in der Auseinandersetzung mit Ämtern und Behörden achtender und bei alledem auch auf Autonomie und Selbstentfaltung bedachter Mensch aus der Mitte der Gesellschaft. Bei diesem Typus kommt eine Wertsynthese zum Tragen, die dem demokratischen Verfassungsstaat offenkundig besonders gut entspricht. Nach Klages scheinen wir daher "in diesem Typus eine Annäherung an den oft vergeblich gesuchten, ideal verfassten Menschen der Moderne vor uns zu haben, der deren gewaltige Herausforderungen und Möglichkeiten ohne substantielle Abstriche anzunehmen vermag"
Der Wertewandel hat - neben anderem - also offensichtlich einen Persönlichkeitstypus hervorgebracht, der unter dem Gesichtspunkt der Demokratiekompetenz immer schon gesucht wurde. Denn der aktive Realist scheint eine Verkörperung des Aufklärungsideals des mündigen Bürgers sowie der republikanischen Idee des gemeinsinnorientierten Citoyens zu sein. Vor zu viel Optimusmus muss dennoch gewarnt werden. Hinzuweisen ist erstens darauf, dass der aktive Realist nur bei einem knappen Drittel der Bevölkerung anzutreffen ist, folglich zwei von drei Personen eine andere Wertkombination bevorzugen. Ferner ist darauf aufmerksam zu machen, dass er vielleicht ein mündiger, bei näherer Betrachtung aber eher ein schwieriger Bürger ist.
Zwar unterstützt dieser Bürger generell das Leitbild der Demokratie, denkt dabei aber in erster Linie an die zum Demokratieversprechen gehörenden Ideen der Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums. Vor allem aber will er sich als individuelle Persönlichkeit anerkannt sehen und diese intensiv ausleben. Er neigt zur Ablehnung formaler Autorität und zu einer Haltung, Pflichten nur dann zu akzeptieren, wenn sie ihn persönlich motivieren. Im herkömmlichen Sinne moralisch begründete Handlungsverpflichtungen verfallen eher der Ablehnung. Die Bereitschaft, sich mit transpersonalen sozialen Gebilden und Institutionen wie der Kirche oder dem Staat zu identifizieren, ist stark gemindert. Das bedeutet, dass die Werte der etablierten Institutionenwelt des demokratischen Verfassungsstaates nur unter Vorbehalt anerkannt werden.
Das vergleichsweise große politische Interesse des hier beschriebenen Bürgers hat mit dem "heroischen Interesse" am Allgemeinen, das dem Republikanismus vorschwebt, wenig zu tun. Denn die Politik wird vor allem analysiert und bewertet nach ihren Leistungen, wobei das Bewertungskriterium hierfür die individuelle Nutzenmaximierung ist. Wenn dieser Bürger bereit ist, sich an der Politik zu beteiligen, so denkt er weniger an eine auf Dauer angelegte Mitgliedschaft in Organisationen als vielmehr daran, zu Dingen, die ihn persönlich angehen, seine Meinung einzubringen. Dabei achtet er darauf, dass er sein Engagement jederzeit aus eigenem Entschluss zurücknehmen kann.
VI. Interventionsfähigkeit als Kern der Bürgerkompetenz
Die empirischen Befunde zeigen hinreichend deutlich, dass das Bürgerengagement nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zu wünschen übrig lässt. Die - relativ - wenigen aktiven Realisten sind nicht mit selbstlosen Citoyens zu verwechseln. Von einem dem demokratischen Verfassungsstaat angemessenen bürgerschaftlichen Ethos kann bei Konventionalisten, Idealisten und Materialisten noch viel weniger die Rede sein. Gilt es nun, sich hiermit abzufinden, oder sieht die Politikwissenschaft Möglichkeiten zur Verbesserung der Lage?
Zunächst sollte in nüchternem Realismus zur Kenntnis genommen werden, dass die Demokratie den politischen Aktivbürger, der sich ständig um die Angelegenheiten der Res publica kümmert, nicht als Regelfall annehmen kann. Selbst in den über eine lange Demokratietradition verfügenden Vereinigten Staaten genügen die meisten Bürger nicht den hehren Ansprüchen republikanischen Verhaltens. Dort unterscheidet man den "öffentlichen Bürger" (public citizen) vom "privaten Bürger" (private citizen) und beide vom "perfekten Privatier" (perfect privatist). Ersterer ist identisch mit dem republikanischen Citoyen, letzterer ist nichts anderes als der an Politik nicht Interessierte. Die Mehrzahl der Amerikaner sieht sich nicht ständig in einer Pflicht zu Aktivitäten dem Gemeinwesen gegenüber. Sie wollen aber ihre Bürgerrechte gewahrt wissen und zeigen ein Interesse an dem Gemeinwesen, dem sie angehören. Sie lesen Zeitung, verfolgen im Fernsehen die Ereignisse, gehen wählen und sind Mitglied in der einen oder anderen Freiwilligenorganisation. Mehr Engagement einzubringen, sind die meisten jedoch nicht bereit. Das aber heißt, dass die Figur des privaten Bürgers - im Grunde eine Minderform des aktiven Realisten - vorherrscht
Geht man von diesen Gegebenheiten aus, dann müsste es schon ein Gewinn für die Demokratie sein, wenn viele Bürger über die Tugend der Interventionsfähigkeit verfügten. Diese Tugend verlangt kein politisches Dauerengagement, erlaubt vielmehr eine die privaten Dinge in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellende Lebensweise. Sie enthält aber die Kompetenz, sich in das politische Geschehen wirkungsvoll einmischen zu können, wo es geboten erscheint. Dies impliziert die Fähigkeit, beurteilen zu können, wann die Einmischung nötig wird und wie sie wirksam werden kann. Die Tugend der Interventionsfähigkeit ermöglicht die Identifikation mit dem Gemeinwesen allein durch das Bewusstsein, nach eigener Entscheidung in das politische Leben eingreifen zu können
Bezogen auf die aus dem Wertewandel hervorgegangenen Persönlichkeitstypen kann vermutet werden, dass nicht nur der aktive Realist, sondern auch der nonkonforme Idealist eine Disposition zur Interventionsfähigkeit aufweist. Chancen für die Vermittlung und Verankerung dieser Bürgerkompetenz bei nicht wenigen Menschen sind also durchaus gegeben. Es liegt nahe, der politischen Bildung hier ein bedeutsames Aufgabenfeld zuzuweisen.
VII. Der Beitrag der politischen Bildung zur Förderung der Demokratiekompetenz
Wenn die politische Bildung aus den Ergebnissen sozialwissenschaftlicher Empirie und politikwissenschaftlicher Reflexion über den Bürger eine Lehre ziehen kann, dann ist es die, Bescheidenheit hinsichtlich dessen zu zeigen, was die Bildungsbemühung bewirken kann. Der gemeinwesenorientierte Citoyen ist selten anzutreffen, obwohl doch alle Bürger, wenn auch unterschiedlich stark, in der Regel in ihrer Schulzeit politische Bildung erfahren haben. Man kann sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, als hätten sich die eingangs vorgestellten Konzeptionen nicht von dieser Bescheidenheit leiten lassen, sondern seien der schönen Idee des republikanischen Aktivbürgers gefolgt. Der politischen Bildung ist zu empfehlen, auf die Erkenntnisse der empirischen Sozialforschung zurückzugreifen. Die von der Wertewandelforschung ermittelten Persönlichkeitstypen lassen sich unter dem Blickwinkel ihres politischen Engagements mit einer gewissen Interpretationsfreiheit in folgende - aufsteigende - Ordnung bringen. Diese besteht aus
1. Desinteressierten,
2. reflektierten Zuschauern,
3. interventionsfähigen Bürgern und
4. Aktivbürgern.
Daraus ergibt sich ein wesentlich differenzierteres Bild über das Publikum wie auch über die Wirkungschancen der politischen Bildung.
Die Desinteressierten kann man auch als die perfekten Privatiers bezeichnen. Ihnen sind vermutlich viele ordnungsliebende Konventionalisten und die hedonistischen Materialisten zuzurechnen. Diese zahlenmäßig nicht unerhebliche Bevölkerungsgruppe nimmt für sich das Recht in Anspruch, sich um Politik nicht zu kümmern und von ihr in Ruhe gelassen zu werden.
Die reflektierten Zuschauer oder privaten Bürger setzen sich - mit Ausnahme der hedonistischen Materialisten - aus allen Persönlichkeitstypen zusammen. Diese große Gruppe mischt sich zwar nicht in die Politik ein, nimmt aber Kenntnis von den politischen Abläufen und spricht im jeweiligen persönlichen Umfeld über Politik. Sie geht zur Wahl und beteiligt sich an Abstimmungen.
Die interventionsfähigen Bürger, die auch als öffentliche Bürger bezeichnet werden könnten, setzen sich aus aktiven Realisten und nonkonformen Idealisten zusammen. Diese Gruppe zeigt zwar kein dauerhaftes politisches Engagement, ist aber fähig und bereit, je nach Situation aktiv in die Politik einzugreifen.
Die Aktivbürger können als eine Steigerungsform der öffentlichen Bürger begriffen werden. Das Politische nimmt in dieser zahlenmäßig kleinen Gruppe einen sehr hohen Stellenwert ein. Die Angehörigen dieser Gruppe haben sich zur Mitgliedschaft und zur Mitarbeit in Parteien, Interessenverbänden oder ideellen Vereinigungen entschlossen. Aus dieser Gruppe rekrutiert sich auch das politische Führungspersonal eines Gemeinwesens.
Die politische Bildung ist gut beraten, bei ihrer Zieldefinition auf diese vier Gruppen Rücksicht zu nehmen. So sollte sie den reflektierten Zuschauer als ihr Minimalziel ansehen. Als anspruchsvolleres, aber wohl doch realistisches Regelziel sollte sie den interventionsfähigen Bürger betrachten. Den Aktivbürger sollte sie keinesfalls aus den Augen verlieren, ihn sogar als Maximalziel ihrer Arbeit betrachten, aber nicht vergessen, dass nur die wenigsten diesen Grad an Bürgerschaftlichkeit erreichen. Die Desinteressierten schließlich bilden eine ständige Herausforderung für die Bildungsbemühung. Ihre Zahl zu verringern und aus Desinteressierten wenigstens im Ansatz reflektierte Zuschauer zu machen, ist der politischen Bildung dauerhaft aufgegeben. Sie darf sich nicht entmutigen lassen, wenn ihre Erfolge auf diesem Feld nur sehr bescheiden sind.
Gegen das Minimalziel des reflektierten Zuschauers könnte kritisch eingewendet werden, dass hier zu wenig verlangt werde. Dagegen ist aber zu sagen, dass dieses Ziel prominente Fürsprecher wie Theodor Eschenburg und Wilhelm Hennis hat. Sie weisen darauf hin, dass es nicht Aufgabe der schulischen politischen Bildung sein könne, Politiker heranzuziehen, und dass sie schon Großes leiste, wenn sie Zeitungsleser mit kritischem Verstand hervorbringe
Hennis vergleicht den Bürger mit dem Zuschauer eines Fußballspiels: Wie Letzterer müsse der Bürger soviel Wissen von den Zusammenhängen des politischen Lebens besitzen, dass er die Welt nicht als eine fremde, seiner Einsicht entzogene betrachte. Der Sinn des in der politischen Bildung vermittelten Wissens liege nicht in der Bereitstellung von Techniken des Regierens, sondern in der Ermöglichung sachangemessenen Urteilens. Denn der Einzelne erweise sich als Bürger vor allem in der Art, wie er über Politik denke und spreche. Dem sachangemessenen Denken müsse politische Bildung ihre besondere Aufmerksamkeit schenken
Für die Praxis der politischen Bildung bedeutet die - an sich bescheidene - Zielmarke des reflektierten Zuschauers schon eine erhebliche Herausforderung. Denn das Interesse für Politik kann nicht einfach vorausgesetzt, es muss vielmehr erst hervorgerufen werden. Dann muss die Bereitschaft, sich mit Hilfe von Medien zu informieren, geweckt und die Fertigkeit dazu geübt werden. Es ist klar, dass hierzu auch die Fähigkeit zur kritischen Medienanalyse gehört. Weiterhin bedarf der reflektierte Zuschauer natürlich eines gesicherten Grundwissens über Institutionen und Verfahrensweisen. Am anspruchsvollsten ist die Vermittlung politischer Analyse- und Urteilskriterien. Diese setzen nämlich ein nicht geringes Abstrahierungs- und Transfervermögen voraus, was wiederum nur mittels erheblicher kognitiver Anstrengungsbereitschaft zu erlangen ist. Auf jeden Fall gehört zur Demokratiekompetenz des reflektierten Zuschauers die Fähigkeit, politische Vorgänge selbständig zu untersuchen und normativ zu beurteilen.
Das eigentliche Ziel der politischen Bildung ist jedoch der interventionsfähige Bürger. Über die Kenntnisse und Fähigkeiten des reflektierten Zuschauers hinaus muss dieser über Qualifikationen verfügen, gegebenenfalls auf verschiedenen politischen Handlungsfeldern agieren zu können. Hierzu zählen einmal bestimmte schriftliche und gestalterische Fertigkeiten, wie die Formulierung eines Leserbriefes, das Abfassen einer Beschwerde oder gar einer Petition, die Gestaltung eines Flugblattes oder eines Plakates. Dann gehören dazu organisatorische Fähigkeiten, wie das Werben von Gleichgesinnten für eine politische Intervention, das Gründen einer Organisation, die Durchführung einer Versammlung oder Kundgebung. Eine gewisse Nähe mancher dieser Aktivitäten zum politischen Protest ist nicht zu bestreiten, eine Intervention muss allerdings nicht notwendig Protest sein. So gehört zur Interventionsfähigkeit beispielsweise auch die Bereitschaft, sich an Formen der Bürgermitwirkung auf kommunaler Ebene zu beteiligen
Der Aktivbürger als Maximalziel verlangt keine eigens auf ihn abgestimmten Bildungs- und Erziehungsbemühungen. Man darf annehmen, dass die Bereitschaft zur Aktivbürgerschaft von der betreffenden Person selbst ausgeht. Denkbar und wünschenswert ist, dass diese Bereitschaft durch eine gelungene politische Bildung angestoßen oder verstärkt wird. Denn es gehört zum Selbstverständnis politischer Bildung, unter strenger Wahrung parteipolitischer Äquidistanz und ständiger Betonung der Respektierung des Rechts zur politischen Aktivität zu ermuntern.
Man tut gut daran, die Möglichkeiten und Wirkungen der politischen Bildung nicht zu überschätzen. Das gilt allein schon deshalb, weil sie ihre Erfolge nicht nachweisen kann. Dennoch bleibt die Hoffnung auf sie eine wesentliche Quelle des Glaubens an die Zukunft der Demokratie. "Noch nie war die Demokratie ein Selbstläufer. Niemand wird als Demokrat geboren. Demokratie ist keine Vollkaskoversicherung ohne Selbstbeteiligung."