I. Methodische Ansätze zum Systemvergleich
Durch die deutsche Vereinigung wurde die Identifikation mit der nationalen Tradition, die bedeutsame Frage nach der nationalen Identität - ein zentrales Lernziel politischer Bildung in anderen Ländern - besonders herausgefordert
In der politisch-historischen Bildung der Bundesrepublik wie der DDR stellte sich nach 1945 die Frage nach dem Weiterbestehen der deutschen Nation, nach der Identität und (geographisch-politisch) nach "Deutschland als Ganzes" (Potsdamer Abkommen) bis zur deutschen Einigung als so genannte Deutsche Frage. Als Politikbegriff bedeutete sie nach Gruner auf nationaler Ebene "für die Deutschen zunächst einmal zwischen der Doppelkapitulation des Deutschen Reiches am 7./8. Mai 1945 und der Gründung von zwei Staaten in Deutschland 1948/49 die Frage nach der Erhaltung der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen sowie nationalen Einheit Deutschlands". Auf internationaler Ebene bedeutete die "Deutsche Frage" bzw. das "deutsche Problem" u. a.
"- die Frage nach der Eingliederung Deutschlands oder seiner Teilstaaten in die europäisch-regionale und international-globale Staatenordnung nach dem Zweiten Weltkrieg;
- die Frage nach der Festlegung der künftigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung Nachkriegsdeutschlands oder seiner Nachfolgestaaten/Teilstaaten;
- die Festlegung der Grenzen des Deutschen Reiches oder seines bzw. seiner Rechtsnachfolger in einem Friedensvertrag."
Die Beschäftigung mit der Deutschen Frage als innerdeutsches bzw. deutsch-deutsches Problem wie als Problem der internationalen Politik unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts ist für die Herstellung einer gemeinsamen Verständigungsebene auch heute noch von Bedeutung.
Als Interpretationsparadigmata standen im Westen die systemimmanente Richtung (Erklärung des Systems aus sich selbst heraus; kein direkter Vergleich der beiden Staaten untereinander; erstmalige Anwendung im "Bericht zur Lage der Nation" von 1974) und die Auffassung von der westlichen Systemüberlegenheit (teilweise unter Benutzung der Totalitarismustheorie: totalitäre Diktatur versus freiheitliche Demokratie; Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) "Totalitarismus", 1962, der die enge Verwandtschaft von Nationalsozialismus und Kommunismus unterstellt) sowie ein dritter Ansatz, der die Relevanz von politischen Zentralbegriffen für das jeweilige System testet
Die sozialwissenschaftlichen Theorieansätze in zeitlicher Reihenfolge - Totalitarismus, Konvergenztheorie, funktionale Vergleiche - entsprechen dem Dreiphasenmodell der internationalen Nachkriegspolitik: Kalter Krieg (bis zum Berliner Mauerbau 1961), Entspannungspolitik (innere Konsolidierung der DDR bis 1969), antagonistische Kooperation (Phase der neuen Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik). Eine vierte Phase umfasste die internationale Entspannungspolitik zwischen Ost und West.
Ein weiterer Ansatz für einen Systemvergleich bestand in den sich stark auf statistisches Zahlenmaterial berufenden geographisch-strukturellen Vergleichsuntersuchungen
"Soll . . . das Bewusstsein von der deutschen Einheit und der Wille zur Wiedervereinigung wacherhalten und entwickelt werden? Soll . . . dem Schüler der weltweite Anspruch des Bolschewismus und die damit verbundene Gefahr für die Menschheit gezeigt werden? Sollen anhand der Deutschen Frage exemplarisch die innen- und außenpolitische Verflechtung eines Problems, die jeweilige Interessenlage von Staaten und die hinter ihnen stehenden gesellschaftlichen Kräfte und Ideologien festgemacht werden, mit denen bestimmte Ziele erreicht werden? Soll die Behandlung der DDR im Unterricht dazu führen, die Entwicklung der DDR zu verstehen? Will man sich gegenüber dem Kommunismus/Sozialismus als alternativem Gesellschaftsmodell (positiv) abgrenzen? Sollen durch einen Vergleich mit einem sozialistischen System Eigenständigkeit und Schwächen des eigenen Systems aufgedeckt werden, oder soll die Unterrichtsreihe zu einer (kritischen) Identifikation mit der Bundesrepublik führen? Soll die Leitfrage gestellt werden, ob Deutschland noch eine Nation sein solle und sein wolle, oder soll ein auf die Bundesrepublik bezogenes nationales Selbstverständnis entwickelt werden?"
Das östliche Kontrastprogramm zu den in westlichen Schulbüchern erörterten Fragen zur deutschen Nation war hingegen eindeutig. Schon im DDR-Lehrplan von 1950/51 wurde dem Geschichtsunterricht die Aufgabe zugewiesen, die DDR entsprechend den ideologischen Anweisungen durch das Politbüro zu legitimieren: "Den Schülern muss klar werden, dass der Klassenkampf der Inhalt der Geschichte aller Klassengesellschaften ist. Sie müssen erkennen, dass der Kampf zwischen Altem und Neuem ein Gesetz der historischen Entwicklung ist, und dass das Neue immer gesiegt hat."
II. Widerspiegelungen der deutsch-deutschen Beziehungen in der politischen Bildung
Die Rückgewinnung der deutschen Einheit war das Kernstück der Deutschen Frage, d. h. auf nationaler Ebene die Frage nach der Überwindung der Teilung Nachkriegsdeutschlands, auf der internationalen Ebene der Umgang mit der Existenz von zwei deutschen Staaten
Die Frage der Nation blieb aber auch deswegen bedeutsam, weil die Nationalstaaten auch im Zeitalter der Europäisierung und Universalisierung noch als die vorrangigen Ordnungsmächte gelten und sie die Hauptakteure der internationalen Politik (mit Abtretung von Kompetenzen an supranationale Institutionen) sind
Die "offene" Deutsche Frage gehörte für etwa zwei Jahrzehnte nach Kriegsende zu den zentralen Konfliktfeldern im Ost-West-Verhältnis. Die verschiedenen Konföderationspläne der sechziger Jahre verfolgten die "Wiedervereinigung" mit je blockeigenen Vorzeichen. Für die Bewertung der Pläne durch alle Bundesregierungen galt die Devise "Freiheit vor Einheit"; in der DDR wurde die Zentralisierung und Egalisierung aller Lebensbereiche fortgesetzt.
Seit dem Staatsratsvorsitz Walter Ulbrichts (1960) beherrschte die Vorstellung von einer totalen Konfrontation zwischen beiden Teilen Deutschlands das geschichtspädagogische Denken in der DDR und förderte die Strategie einer allmählichen Abnabelung der DDR von der Nation. Erich Honecker, der Nachfolger Ulbrichts, erklärte 1971 auf dem VIII. Parteitag der SED, über die nationale Einheit habe die Geschichte entschieden, in der DDR habe sich eine sozialistische Nation etabliert. Das "sozialistische Nationalbewußtsein", bestehend aus sozialistischem Patriotismus und Internationalismus, Freundschaft mit der Sowjetunion, Stärkung der Republik, Verteidigungsbereitschaft u. dgl. hielt sich bis in die achtziger Jahre. Der Anspruch auf Wiedervereinigung unter sozialistischem Vorzeichen wurde allerdings nie aufgegeben.
Das Ziel der staatsbürgerlichen Erziehung in der DDR war von Anfang an die "allseitig (und harmonisch) entwickelte sozialistische Persönlichkeit", was sich u. a. in "sozialistischem Staatsbewußtsein" (Lehrplan Staatsbürgerkunde 1959) und in "sozialistischem Patriotismus" sowie in der Loyalität zu Vaterland und Nation (Lehrplan Staatsbürgerkunde 1964) ausdrücken sollte. Die Westdeutschen galten bis zum Ende der DDR offiziell als Imperialisten, Militaristen, Klassenfeinde.
Im Lehrplan Staatsbürgerkunde 1959 wurde für Kl. 9 "Die nationale Frage in Deutschland und der Kampf des deutschen Volkes unter der Führung der Arbeiterklasse um die demokratische Wiedervereinigung Deutschlands" mit sechs Wochenstunden ausgewiesen
"3. Imperialismus, Sozialismus und nationale Frage
. . . Das unverrückbare Ziel der SED und der Regierung der DDR - Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands, die ohne gesicherten Frieden nicht möglich ist. Welches ist der Weg zur friedlichen Lösung der nationalen Frage in Deutschland? Herbeiführung einer Entspannung und Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten (7-Punkte-Vorschlag W. Ulbrichts auf dem VI. Parteitag der SED). Bildung einer Konföderation der beiden deutschen Staaten, der sich Westberlin anschließen könnte. Vorbereitung der Konföderation durch die Normalisierung der Beziehungen, Herstellung eines Minimums korrekter Beziehungen und Vereinbarungen zwischen der DDR, der westdeutschen Bunderepublik und Westberlin, Schaffung gemeinsamer Kommissionen."
Schließlich findet sich im revidierten Lehrplan von 1969 für die Kl. 7 (Stoffeinheit: "Warum bestehen heute zwei deutsche Staaten?") der Hinweis: Die Schüler "sollen die Einsicht erwerben, dass nur die Arbeiterklasse in beiden deutschen Staaten vereinen wird, was die Imperialisten gespalten haben"
Eine westdeutsche Analyse der DDR-Schulbücher stellt für das erste Jahrzehnt fest: Die Geschichtsbücher sind durchweg am Historischen Materialismus orientiert und übernehmen die Geschichtsinterpretation der Sowjetunion. Seit 1957/58 wird Staatsbürgerkunde (statt Gegenwartskunde) gelehrt. Von den Schülern wird u. a. verlangt, dass sie sich sichere Kenntnisse über die "antinationale und volksfeindliche Politik der Adenauer-Regierung, die Westdeutschland im Auftrag der deutschen Imperialisten und Militaristen vom deutschen Nationalverband abgespalten hat, erwerben"
III. Annäherungen an die Deutsche Frage in Lehrplänen und Schulbüchern um 1960
Die aus der Nachkriegssituation resultierende Unsicherheit der Deutschen im Umgang mit ihrer Geschichte dokumentierte sich auch im jahrelangen Ausfallen eines planmäßigen schulischen, an die Gegenwart heranführenden Geschichtsunterrichts in einigen Bundesländern bis in die Mitte der fünfziger Jahre, nicht zuletzt in der jahrzehntelangen Denunzierung fundamentaler Begriffe wie Staat, Nation, Vaterland durch die deutschen Linken. Auch die Behandlung der Teilung Deutschlands blieb bis 1955 besonders unzureichend. Der quantitative Anteil in westdeutschen Schulbüchern stieg erst seit 1970. Die Deutsche Frage wurde vom Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen im "Gutachten zur Politichen Bildung und Erziehung" (1955) erwähnt: Politische Erziehung könne nur gelingen, wenn sie u. a. die Verpflichtung für die Wiedervereinigung berücksichtigt. Daraufhin hat die Kultusministerkonferenz in ihren "Empfehlungen zur Ostkunde" (1956) an erster Position herausgestellt: "Das Bewusstsein von der deutschen Einheit und der Wille zur Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit ist wachzuerhalten und zu entwickeln. Dazu ist die Kenntnis Mitteldeutschlands - der heutigen SBZ -, der Menschen dieses Raumes und der sich dort vollziehenden Entwicklung eine notwendige Voraussetzung."
Im Hinblick auf die Deutschlandfrage lassen sich keine festen inhaltlichen Konturen erkennen, obwohl sie in jener Zeit durchaus diskutiert wurden
Der jeweilige andere deutsche Teilstaat wurde als Teil der Nation zwar wahrgenommen, aber als Staat ausgegrenzt
IV. Didaktische Konsequenzen streitiger Politik
Nach dem Bau der Berliner Mauer kündigte sich deutschlandpolitisch in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre die Wende an. Die DDR distanzierte sich unter Ulbricht und Grotewohl mehr und mehr vom "imperialistischen" Westen und suchte das weltpolitische Entrée zunächst in der "sozialistischen Staatengemeinschaft" des Ostblocks und den vornehmlich sozialistischen Ländern in der Dritten Welt. Die Regierung der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD unter Kiesinger/Brandt (1966-1969) sandte einheitspolitische Signale in Gestalt der sog. Kiesinger-Briefe (1968) vergeblich an Ulbricht. Die DDR kreierte eine eigene Staatsbürgerschaft (1967). Die westdeutsche Linke profilierte sich vor der Bundestagswahl 1969 mit der Forderung nach Totalverzicht auf die deutsche Einheit in einer "Denkschrift für eine realistische Deutschlandpolitik"
Unter der Bevölkerung fand ein innen- und außenpolitischer Stimmungswandel statt: durch Zusage von mehr sozialer Gerechtigkeit, die neue Ostpolitik, die extensive Bildungspolitik, die Relativierung des einheitlichen Nationbegriffs durch die Formel "zwei Staaten, eine Nation" (W. Brandt), die Ablehnung der (angeblich) vordemokratisch-obrigkeitlichen Struktur und des (vermeintlichen) "neuen Nationalismus" in der Bundesrepublik, die Aufkündigung des antitotalitären Nachkriegskonsenses bürgerlich-konservativer Kreise.
Didaktisch wurde die neue Richtung - die Orientierung am Konflikt
In seiner Analyse von DDR-Schulbüchern stellte Horst Siebert 1970 u. a. fest: Die Interpretation der Bundesrepublik erfolge ausschließlich auf der Grundlage des Marxismus. Die Konvergenztheorie werde im Osten abgelehnt, weil sie der Klassenkampfthese und dem (angeblichen) gesellschaftlichen Antagonismus im Westen widersprechen würde. Die herrschenden Kräfte in Westdeutschland werden als aggressiv und gefährlich in der dortigen (angeblichen) Klassengesellschaft dargestellt. Die Wiedervereinigungspolitik wird als Eroberungspolitik zurückgewiesen
Für die Schulbücher der Bundesrepublik stellte Siebert einen nichtaggressiven Antikommunismus fest; der "real existierende" Sozialismus gelte den Autoren als nicht diskussionswürdige Alternative zum westlichen System. Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung sei der Maßstab für die Darstellung und Bewertung der DDR (Hallstein-Doktrin, Nichtanerkennung der DDR usw.). Als Fazit hält Siebert fest: "Das DDR-Bild der Schulbücher entspricht überwiegend dem Stand der fünfziger Jahre."
Die abgrenzende Ostpolitik der Vorgängerregierungen wurde von der sozialliberalen Regierung Brandt/Scheel (SPD/FDP, 1969-1974, ab 1974 bis 1982 Schmidt/Scheel) zu einer kooperativen umgestaltet und zum Hauptthema der deutschen Außenpolitik gemacht. Voraussetzung dafür war die Festschreibung eines deutsch-deutschen Status quo in Brandts Regierungserklärung am 28. Oktober 1969. Nach wiederholten Erklärungen von Bundeskanzler Brandt gab es in Deutschland "zwei Staaten, eine Nation" und damit die Unterscheidung von nationaler und staatlicher Einheit. Die CDU/CSU-Sprachregelung unterschied sich nur graduell von der Auffassung der Koalition: "zwei Staaten in Deutschland". Der westliche (Teil)-Staat übernahm nach wie vor die Verantwortung für die deutsche Geschichte und hielt am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes fest. Für die SPD waren die Beziehungen der beiden Staaten zueinander "deutsch-deutsche", für die CDU/CSU "innerdeutsche" Sonderbeziehungen nicht völkerrechtlicher Natur. Der neuen Ostpolitik waren mit dem Abschluss der sog. Ostverträge zwischen 1970 und 1973 rasche Erfolge beschieden. Mitten hinein fiel die Ablösung Ulbrichts durch Erich Honecker. Auf dem dafür maßgebenden VIII. SED-Parteitag 1971 wurde in einer Entschließung festgestellt: "Zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der BRD, zwei voneinander unabhängigen Staaten mit entgegengesetzter Gesellschaftsordnung, vollzieht sich gesetzmäßig ein Prozess der Abgrenzung."
Die "nationale Frage" blieb im Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR (1972) ungeklärt, und schließlich wurde in der (dritten) DDR-Verfassung (1974) jeder Bezug auf die Nation entfernt. Der Grundlagenvertrag (mit dem "Brief zur deutschen Einheit") konstituierte "besondere", d. h. nicht völkerrechtliche Beziehungen. Die beiden Kontraktparteien sollten für einander nicht Ausland und - nach westlicher Auffassung - das Streben nach nationaler Einheit nicht suspendiert sein (BVerfGE v. 31. 7. 1973).
V. Didaktische Auswirkungen der neuen Ostpolitik
Eine politikdidaktische Belebung der Deutschen Frage erfolgte durch die neue Ostpolitik und die Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen von 1973 und 1975 (Beibehaltung des Wiedervereinigungsgebotes). Anregungen zum KMK-Beschluss "Die Deutsche Frage im Unterricht" (1978) kamen aus verschiedenen politischen Richtungen (so im Expertenhearing des Innerdeutschen Ausschusses des Deutschen Bundestages 1977 über die "Deutschlandpolitik" und 1978 über "Die deutsche Frage in der politischen Bildung"). Danach nahm ihre (obligatorische) unterrichtliche Vermittlung im Politik- und Geschichtsunterricht der Schulen sowie in allen Bereichen der Erwachsenenbildung (fakultativ) zu
Der stark auf die verfassungsrechtliche Begründung sowie auf die Verankerung in der europäischen Integrationsbewegung abhebende KMK-Beschluss von 1978 blieb inhaltlich heftig umstritten, so dass die Kultusministerkonferenz in ihrem auf das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes fokussierten, ungewöhnlich umfangreichen Beschluss sich zu Beginn des Textes zu der lapidaren Forderung eines nationalen Bildungsauftrags veranlasst sah: "Das Bewusstsein von der deutschen Einheit und der Wille zur Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit ist wachzuhalten und zu entwickeln."
Es blieb gleichwohl eine starke Bindung an die (einheitliche) deutsche Nation in beiden Teilstaaten erhalten
Die deutsche Teilung wurde allmählich zur Normalität, das Sichabfinden mit dem Status quo zu einer Generationenfrage, die Betonung der "Offenheit" der Deutschen Frage oft zu einer verbalen Pflichtübung in Westdeutschland, während Honecker auf dem IX. Parteitag 1976 sowie das Parteiprogramm 1976 feststellten, an der Deutschen Frage sei nichts mehr offen. Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre trat die Deutsche Frage wieder in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Die Frage nach der Nation wurde intensiv diskutiert, wie die Häufung der Publikationen belegt
Der Historiker und Geschichtsdidaktiker Karl-Ernst Jeismann führte zu den Geschichtsbüchern in der Bundesrepublik seit 1970 unter Hinweis auf die Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition in einem Aufsatz von 1981 zusammenfassend aus: "Auch in den neueren Auflagen der älteren, 1955-1970 entstandenen Bücher kann man einen Schwund an Polemik gegenüber der DDR und an Selbstgewissheit gegenüber dem eigenen Staat feststellen. Die älteren Ausgaben bleiben jedoch in ihrer Begrifflichkeit stärker auf die nationale Einheit fixiert; sie halten wohl deutlicher die Norm der freiheitlich parlamentarischen Demokratie gegenüber dem leninistischen System wertend fest, lassen aber auch Stimmen aus der DDR selbst zu Wort kommen."
Im Großen und Ganzen gab es einen deutschlandpolitischen Grundkonsens der westdeutschen Parteien, zuletzt die Gemeinsame Erklärung des Deutschen Bundestages zur Lage der Nation vom 9. 2. 1984 (gegen die Stimmen der Grünen). Darin ging es um die friedliche Überwindung der deutschen Spaltung, die Ablehnung einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR sowie die Beibehaltung einer deutschen Nation. Es entstand ein Binnenbewusstsein in Ost und West, eine fragmentierte Identität, wie sie auch in Unterrichtsmaterialien
Der (deswegen sehr gescholtene) Schriftsteller Martin Walser gehörte zu den wenigen Schriftstellern, die sich mit der deutschen Teilung aus prinzipiellen Überlegungen nicht abfinden wollten: "Wir dürfen die BRD sowenig anerkennen wie die DDR."
VI. Ausblick
Die Deutsche Frage ist in ihren staats- und völkerrechtlichen Aspekten seit dem 3. Oktober 1990 gelöst. Auf der Agenda steht (innerstaatlich) die demokratische Frage
Der Nationalstaat ist heute im Rahmen von europäischer Integration und Globalisierung eine relative, jedoch vorläufig unverzichtbare, national wie international agierende Größe, worauf jüngst Außenminister Fischer in seiner Berliner Rede hinwies. Er tendiert in seiner Allgemeinheit zur alten Forderung Kants, eine Menge von Menschen auf einem umgrenzten Gebiet unter Rechtsgesetzen, d. h. zu einer Zweckgemeinschaft, zu vereinen. Nation und Staat erhalten unter den Bedingungen der europäischen Integration eine neue Qualität. Sie würden eher auf Sprache, (liberale) Institutionen und Verfassung aufgebaut sein, nicht mehr auf Volkszugehörigkeit und kulturellem Erbe. Es bleibt allerdings zu fragen: Wo soll nationale Identität herkommen, inwieweit soll der Nationbegriff relativiert werden? Es ergibt sich eine paradoxe Situation (mit der Möglichkeit multipler Identitäten und Loyalitäten) zwischen Regionalisierung, Globalisierung und nationaler Eingebundenheit. Gemeinschaftsbewusstsein ohne gemeinsames Geschichtsbewusstsein ist schlecht vorstellbar. Dies wird durch die Tatsache bestätigt, dass die Deutschen sich Ende 1989 mit dem Ruf "Wir sind ein Volk!" wieder zur Nation zusammengeschlossen haben.
Durch massenweise Einbürgerungen und die fortgesetzte Zuwanderung erheben sich Fragen nach der Identität: Sind die neuen Deutschen (Passinhaber) Angehörige der deutschen Nation, des deutschen Volkstums oder "nur" Staatsangehörige? Gibt es künftig zwei Sorten Deutsche: die einen, die qua Abstammung mit der deutschen Geschichte verbunden und für sie haftbar sind, und die andern, die "Auschwitz und die Folgen" sowie die deutsche Kultur im Grunde nichts angehen? Der einheitliche Wertbezug muss zweifellos das Grundgesetz sein "als lebende Verfassung, an der wir täglich mitwirken" und der sich die Bürger in "Staatsfreundschaft" sittlich verbunden wissen (D. Sternberger), also nicht nur im Sinne einer Rechtsgrundlage, sondern als "rechtliche Lebensordnung und Wertgrundlage des Gemeinwesens" (E. W. Böckenförde). Der nationale Verfassungspatriotismus bezieht sich zwar auf das spezifische Gemeinwesen, er kann aber auch zugleich universalistisch orientiert sein.
Die Deutsche Frage ist angesichts der neuen, gänzlich anderen Herausforderungen also nicht am Ende. Sie ist vielmehr mutiert zu einer "innerdeutschen Frage", zumal im Hinblick auf die Herstellung der inneren Einheit sowie der immer drängenderen Frage nach dem eigenen Selbstverständnis des deutschen Volkes (oder nur noch "der Bevölkerung"?) und der eigenen Interessen des deutschen Staates hinsichtlich zunehmender EU-Integration, Globalisierung und Massenzuwanderung.