I. Entdeckungen
Obwohl Wohlfahrtsverbände traditionsreiche, bisweilen über 100 Jahre alte Organisationen sind, erfolgte ihre wissenschaftliche Entdeckung erst bemerkenswert spät. So richtete die deutsche Sozialpolitikforschung ihr Augenmerk auf Fragen der sozialen Sicherung, insbesondere die Sozialversicherungen, während die Erbringung sozialer Dienstleistungen bis in die siebziger Jahre hinein kein sozialwissenschaftliches Thema war
Im Mittelpunkt der Verbändeforschung standen damals - unter dem Einfluss pluralismustheoretischer Ideen - klassische Interessenverbände, wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, und deren Versuche einer politischen Einflussnahme im Politik- und Gesetzgebungsprozess. Während Klaus von Beyme in seinem politikwissenschaftlichen Standardwerk Wohlfahrtsverbände weitgehend unbeachtet ließ
Damit hatten Wohlfahrtsverbände zwar Ende der siebziger Jahre Eingang in die politikwissenschaftliche Verbändeforschung gefunden, ihr eigentliches sozialwissenschaftliches Debüt erlebten sie aber mit dem Erfolg der Korporatismusforschung. In ihrem grundlegenden und zugleich richtungsweisenden Beitrag übertrugen Rolf G. Heinze und Thomas Olk
Bis Anfang der neunziger Jahre entwickelte sich der Korporatismus zwischen Sozialstaat und Wohlfahrtsverbänden - nachhaltig verstärkt durch die deutsche Vereinigung bzw. seine räumliche Ausdehnung auf die neuen Bundesländer - zu einer Erfolgsgeschichte für beide Seiten
Im folgenden sollen zunächst die erfolgreiche Etablierung des Korporatismus zwischen Wohlfahrtsverbänden und Sozialstaat und anschließend die in den neunziger Jahren einsetzenden gravierenden politischen Änderungen herausgearbeitet werden.
II. Wohlfahrtsverbände als korporative Akteure
1. Vom Makro- zum Mesokorporatismus
Das Verhältnis von Staat und Verbänden wurde bis in die siebziger Jahre hinein in der Perspektive der US-amerikanischen Pluralismustheorie als Versuch einer einseitigen Einflussnahme von freien Verbänden auf staatliche Politik gedeutet
In den achtziger Jahren setzte sich die vor allem von Niklas Luhmann propagierte Einsicht weitgehend durch, dass Gesellschaften weder eine hierarchische Spitze noch ein Zentrum haben
In der Sozialpolitik wandte sich die Korporatismusforschung einerseits ausgewählten Sektoren des sozialen Sicherungssystems, insbesondere der Gesundheitspolitik
2. Interessen und Leistungen
Wohlfahrtsverbände unterscheiden sich aber von klassischen politischen Interessenverbänden dadurch, dass ihre Mitgliederbasis in der Regel nicht aus persönlichen Mitgliedern, sondern aus Fachorganisationen besteht. In ihrer Funktion als Spitzenverbände aggregieren und repräsentieren Wohlfahrtsverbände die Interessen ihrer Mitgliedsorganisationen im Politik- und Gesetzgebungsprozess auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene. Diese Inkorporierung von Wohlfahrtsverbänden in die staatliche Sozialpolitik ist weitgehend institutionalisiert: Sei es in Ausschüssen, Anhörungen, Kommissionen oder Arbeitsgemeinschaften; hinzu kommt eine Vielzahl informeller Kooperationen und personeller Verflechtungen zwischen Verbänden und Sozialstaat. Für den Sozialstaat ergibt sich hieraus, dass ihm eine begrenzte Zahl verlässlicher und ressourcenstarker Verhandlungspartner gegenübersteht.
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege und ihre Mitgliedsorganisationen sind in vielen Bereichen sozialer Dienste, etwa für Kranke, Alte, Behinderte, Kinder und Jugendliche, die dominanten Leistungsanbieter: "So befinden sich rund 62 Prozent aller Alten- und Behindertenheime in freigemeinnütziger Trägerschaft . . . In der Jugendhilfe werden 47 Prozent aller Angebote von den Wohlfahrtsverbänden getragen . . . In der stationären medizinischen Versorgung befinden sich über 40 Prozent der Allgemeinen Krankenhäuser in freigemeinnütziger Trägerschaft."
Wohlfahrtsverbände und ihre Mitgliedsorganisationen verfügen damit in sozialpolitisch wichtigen Domänen über ein interessenpolitisch wichtiges Repräsentationsmonopol und haben aufgrund ihrer dominanten Position als Leistungsanbieter einen nennenswerten Einfluss im Politik- und Gesetzgebungsprozess. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind kein homogener Block, sondern ein Kooperationsgefüge rechtlich eigenständiger Organisationen mit zum Teil divergierenden Interessen
3. Interessenverbände
Für die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege gestaltet sich die Interessenaggregation nicht einfach, da die multiplen Interessen heterogener Mitgliedsorganisationen bei in der Regel machtpolitisch eher schwachen Spitzenverbänden die gemeinsame Interessenfindung, -repräsentanz und -durchsetzung gegenüber relativ homogenen sozialstaatlichen Akteuren erschwert. Die Spitzenverbände sind folglich darauf angewiesen, dass sie der Sozialstaat in ihrer Funktion als Spitzenverbände und verlässliche sozialstaatliche Verhandlungspartner mittels sozialrechtlicher Privilegien und finanziellen Ressourcen nachhaltig stärkt.
Mit der Übertragung öffentlicher Sozialaufgaben und entsprechender Entscheidungskompetenzen verleiht der Sozialstaat Wohlfahrtsverbänden in den übernommen Bereichen so etwas wie einen "öffentlichen Status"
Im Rahmen ihrer Satzungsmacht können die Spitzenverbände selbst festlegen, was der Begriff "Freie Wohlfahrtspflege" bedeutet und wer zum "Club" dazugehört. So konnten die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege auf den Boom und die bisweilen massive Verbändekritik selbstorganisierter Initiativen, Gruppen und Vereine angesichts ihrer Satzungsmacht relativ gelassen reagieren und die neuen Initiativen auf die Möglichkeit der Mitgliedschaft im - weltanschaulich offenen und sich als Dachverband verstehenden - Paritätischen Wohlfahrtsverband verweisen. Um in den Genuss der politischer Einflussmöglichkeiten und öffentlichen Fördermittel der Freien Wohlfahrtspflege zu gelangen, war für viele selbstorganisierte Initiativgruppen der Beitritt zu einem Spitzenverband in der Regel unumgänglich. Einen letzten großen Erfolg ihrer Definitionsmacht konnten die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege bei den Verhandlungen über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland erzielen. Der Bestand und die öffentliche Förderverpflichtung zugunsten der (westdeutschen) Institution der Freien Wohlfahrtspflege wurde in Art. 32 des Einigungsvertrages festgeschrieben und im Sinne einer rechtlichen Statussicherung auf die neuen Bundesländer ausgedehnt
Für die Wohlfahrtsverbände schafft die fortschreitende Inkorporation in den Sozialstaat erhebliche Managementanforderungen, um eine Balance zwischen den Interessen der Mitgliedsorganisationen und den Forderungen sozialstaatlicher Akteure herzustellen
4. Dienstleistungsanbieter
Wohlfahrtsverbände unterscheiden sich aber nicht nur in ihrer Mitgliederstruktur von klassischen Interessenverbänden, denn Wohlfahrtsverbände sind in erster Linie nicht die Interessenvertreter ihrer Mitgliedsorganisationen, sondern Dienstleistungsorganisationen
5. Subsidiaritätspolitik
Der Erfolg der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege als politische Akteure und Dienstleistungsanbieter gründet in ihrer Inkorporierung in den Sozialstaat und ihrer rechtlichen Privilegierung. Deutlich wird die begünstigte Position der Freien Wohlfahrtspflege im sogenannten sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis zwischen Kostenträgern, Leistungsanbietern und Leistungsnehmer. Die öffentlichen Kostenträger haben sozialrechtlich garantierte Leistungsansprüche zu gewährleisten und beauftragten in der Vergangenheit bevorzugt Wohlfahrtsverbände mit der Leistungserbringung. Wohlfahrtsverbände wiederum erbrachten gegenüber den anspruchsberechtigten Bürgern Sachleistungen, deren Kosten vom öffentlichen Träger durch weitgehend kostendeckende Zuwendungen beglichen wurden. Somit wurden über die Mengen und Preise öffentlicher Sozialleistungen in bilateralen und wettbewerbsfreien Verhandlungen zwischen öffentlichen Kostenträgern und freigemeinnützigen Leistungsanbietern vereinbart. Eine derartige Verhandlungssituation war unter den Bedingungen eines expandierenden Sozialstaates für Wohlfahrtsverbände ein sicherer Wachstumspfad, wenngleich derartige Subventionen organisatorische Trägheit und Autonomieverluste nach sich ziehen können
6. Verfassungs- und sozialrechtliche Privilegierung
Bereits mit dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung wurde der Bestand der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege verfassungsrechtlich abgesichert. Dieser Bestandsschutz galt für die Kirchen und den ihnen angehörenden Organisationen, wie etwa die kirchlichen Wohlfahrtsverbände. Im Sinne einer rechtlichen Gleichstellung konnten sich auch die anderen nicht-kirchlichen Reichsspitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege auf diesen Bestandsschutz berufen. In den relevanten Sozialgesetzen, wie dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 und der Reichsfürsorgepflichtverordnung (1924) - dem Vorläufergesetz des heutigen Bundessozialhilfegesetzes - wurde Wohlfahrtsverbänden als Leistungsanbietern ein bedingter Vorrang gegenüber öffentlichen Trägern eingeräumt und der Sozialstaat verpflichtete sich zugleich zu einer institutionellen Förderung der Reichsspitzenverbände.
Das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland knüpft in Art. 7 GG in Verbindung mit Art. 140 GG an diese verfassungsrechtliche Tradition der Weimarer Republik an: Der Bestand und die Autonomie der kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie wird verfassungsrechtlich garantiert, wobei sich auch die nicht-konfessionellen Spitzenverbände auf diesen Rechtsstatus berufen können. Im Gesetzgebungsprozess zum Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und zum Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) war die christdemokratische Bundesregierung bestrebt, den bedingten Vorrang freigemeinnütziger Leistungsanbieter weiter zu stärken. Während in der Reichsfürsorgepflichtverordnung freigemeinnützigen Leistungsanbietern nur dann ein bedingter Vorrang eingeräumt wurde, wenn sie bereits über entsprechende Dienste und Einrichtungen verfügten, konnten freigemeinnützige Organisationen laut der 1962 in Kraft getretenen Fassung des BSHG dieses subsidiaritätspolitische Privileg bereits dann schon für sich in Anspruch nehmen, wenn sie ihre schlichte Bereitschaft zur Übernahme einer entsprechenden öffentlichen Aufgabe erklärten.
Diese rechtliche Privilegierung brachte die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in eine relativ komfortable Situation, da sie als Institution öffentlich gefördert und bei der Erbringung öffentlicher Sozialaufgaben bevorzugt wurden. In der legendären Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1967 zu den Kompetenzen öffentlicher Träger im Rahmen des neuen JWG, wurde die Bevorzugung freigemeinnütziger Jugendhilfeorganisationen gegenüber öffentlichen Leistungsanbeitern grundsätzlich bestätigt. Gleichwohl wurde in dieser Entscheidung darauf hingewiesen, dass es nicht um ein Betätigungsverbot zu Lasten öffentlicher Jugendhilfeträger, sondern um eine effektive Arbeitsteilung zwischen freigemeinnützigen Leistungsanbietern und öffentlichen Gewährleistungsträgern geht. Diese Vorstellung von einer funktionalen Arbeitsteilung fand auch Eingang in das 1975 in Kraft getretene Sozialgesetzbuch (SGB I). In § 17 SGB I wurden die öffentlichen Träger zur effektiven "Zusammenarbeit mit gemeinnützigen und freien Einrichtungen und Organisationen" zum Wohle der Leistungsempfänger verpflichtet. Mit der Formulierung "gemeinnützigen und freien Einrichtungen und Organisationen" deutet sich im SGB bereits eine Abkehr vom verbändezentrierten Subsidiaritätsverständnis an, die aber erst mit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) im Jahre 1990 konkrete Gestalt annahm: Dem KJHG zufolge sollen aus der gesamten Bandbreite freigemeinnütziger Leistungsanbieter, die von selbstorganisierten Gruppen bis hin zu Verbänden reicht, diejenigen bei der Erbringung öffentlicher Sozialaufgaben bevorzugt werden, die den fachpolitischen Leitorientierungen des KJHG am ehesten entsprechen
Die Phase wohlfahrtsstaatlichen Wachstums bis Anfang der neunziger Jahre ist somit von einer verfassungs- und sozialrechtlichen Privilegierung der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege und ihrer Mitgliedsorganisationen und einer entsprechenden institutionellen und leistungsbezogenen Förderung der Freien Wohlfahrtspflege durch öffentliche Träger gekennzeichnet. Eine derartige Privilegierung in Zeiten wohlfahrtsstaatlichen Wachstums kann folgenreich sein:
- Die Inkorporierung von Wohlfahrtsverbänden in die staatliche Sozialpolitik, die rechtliche Absicherung ihres Status, steigende öffentliche Sozialausgaben und entsprechend kontinuierlich wachsende Zuwendungen können auf seiten freigemeinnütziger Leistungserbringer das Entstehen einer Subventionsmentalität begünstigen und Innovationen verhindern
- Unter der Voraussetzung, dass Wohlfahrtsverbände sowohl korporative als auch autonome Akteure sind, wäre davon auszugehen, dass sie diese günstigen Ausgangsbedingungen dazu nutzen, ihre spezifischen Organisationspotenziale und -profile weiter zu entwickeln.
III. Ende oder Wandel des Korporatismus?
1. Korporatistisches Modell?
Korporatistische Verhandlungen zwischen Staat und Verbänden sind konstitutiv für das deutsche Gesellschaftsmodell und galten bis in die achtziger Jahre hinein als ein Garant für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands. Gleichwohl boten korporatistische Verhandlungsformen immer auch Anlässe zu Auseinandersetzungen. Aus einer demokratietheoretischen Perspektive stellt sich beispielsweise die Frage, ob es sich bei korporativen Akteuren um gemeinwohlorientierte Organisationen oder schlicht um unzureichend legitimierte Formen privater Einflussnahme handelt. Unter wirtschaftspolitischen Prämissen ist zu untersuchen, ob kooperative Akteure - etwa durch ihre Leistungen bei der gesellschaftlichen Konsensfindung - zur wirtschaftlichen Prosperität beitragen oder ob sie mit ihren machtpolitischen Vetomöglichkeiten nicht vielmehr wirtschaftliche Innovationen verhindern.
Seit Anfang der neunziger Jahre, das heißt nach der staatlichen Vereinigung und im Zuge der europäischen Integration, steht die Zukunft des deutschen Sozialstaatsmodells mit seiner starken Inkorporierung von Wohlfahrtsverbänden zur Diskussion. Mit der als Globalisierung beschriebenen Veränderung des Wirtschaftens wird in der deutschen politischen Rhetorik häufig das vermeintliche Ende nationalstaatlicher Politik und korporatistischer Verbandsformen beteuert. Die Phänomene der Globalisierung werden so zu handlungslimitierenden Sachzwängen stilisiert, obwohl man mit guten Gründen ebenso die neu gewonnenen Handlungsoptionen hervorheben könnte
2. Staatliche Wettbewerbspolitik
In der hier interessierenden Sozialpolitik ist davon auszugehen, dass die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Auswirkungen auf die sozialpolitischen Entscheidungsspielräume haben, wobei sozialpolitische Entscheidungen im Kern aber nationale Entscheidungen bleiben werden. Die in der politischen Diskussion mit dem Begriff des "schlanken Staates" umschriebene Haushaltskonsolidierung und Begrenzung öffentlicher Aufgaben setzten dem bis Anfang der neunziger Jahre praktiziertem quantitativen Wachstum nationaler Sozialpolitik ein Ende
3. Vom rechtlich abgesicherten Status zu leistungsbezogenen Vereinbarungen
Bei den sozialrechtlichen Reformen des vergangenen Jahrzehnts stand der Gedanke der Wettbewerbspolitik im Vordergrund, insbesondere bei der Abschaffung der "wettbewerbsverzerrenden" Privilegierung der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Für die gesetzlichen Novellierungsvorhaben dienten die Wettbewerbsregelungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vielfach als Vorlage. Die GKV ist der einzige Zweig des sozialen Sicherungssystems, für den ein politisch regulierter und sachlich begrenzter Wettbewerb zwischen Leistungsanbietern und auch zwischen Kostenträgern ein konstitutives Merkmal ist. Folglich sieht die GKV weder eine besondere institutionelle Förderung der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege vor, noch räumt sie ihnen einen bedingten Vorrang als Leistungsanbieter ein.
Die politisch gewollte Einführung der Pflegeversicherung (SGB XI) eröffnete dem Gesetzgeber die Chance, seine Wettbewerbsideen an wichtiger Stelle im sozialen Sicherungssystem zu verankern, - verbunden mit der Vorstellung, dass sich hieraus Impulse für eine entsprechende Novellierung anderer Sozialgesetze ergeben würden. In dem am 26. Mai 1994 im Bundesgesetzblatt veröffentlichten Pflegeversicherungsgesetz hat der Gesetzgeber seine wettbewerbspolitischen Vorstellungen gegenüber der Freien Wohlfahrtspflege unmissverständlich zum Ausdruck gebracht:
- "Freigemeinnützige und private Träger haben Vorrang gegenüber öffentlichen Trägern" (§ 11 Abs. 2 Satz 3 SGB XI)
- "Bei notwendiger Auswahl zwischen mehreren geeigneten Pflegeeinrichtungen sollen die Versorgungsverträge vorrangig mit freigemeinnützigen und privaten Trägern abgeschlossen werden" (§ 72 Abs. 3 Satz 2 SGB XI).
Damit hat das Pflegeversicherungsgesetz in zweierlei Hinsicht in Anknüpfung an die GKV eine sozialrechtliche Pilotfunktion, nachdem entsprechende gesetzgeberische Absichten bei der Novellierung des BSHG im Jahre 1993 zunächst gescheitert waren. Erstens ziehen sich öffentliche Träger aus der konkreten Leistungserbringung weitgehend zurück und beschränken sich auf die Funktion des politisch verantwortlichen Gewährleistungsträgers. Zweitens verlieren Wohlfahrtsverbände ihren Status als privilegierte Leistungsanbieter und werden in einem Preis-Leistungs-Wettbewerb privatgewerblichen Anbietern gleichgestellt
4. Der Anfang vom Ende des Korporatismus?
Die Institution der Freien Wohlfahrtspflege ist somit als institutioneller deutscher Sonderweg unter ökonomischen Wettbewerbs- und politischen Legitimationsdruck geraten. Die Finanzierung einer rechtlich privilegierten Wohlfahrtspflege mittels Zuwendungen bzw. Subventionen gilt mittlerweile als unwirtschaftlich und wettbewerbsverzerrend. Stattdessen ist das Spektrum zugelassener Leistungsanbieter im Bereich öffentlicher Sozialaufgaben auf alle freien Organisationen, insbesondere privatgewerbliche Anbieter, ausgeweitet und der neue Pluralismus freier Leistungsanbieter sogleich einem politisch regulierten Wettbewerb ausgesetzt worden. Ist diese Deprivilegierung der Freien Wohlfahrtspflege bzw. die Gleichsetzung von freigemeinnützigen und privatgewerblichen Leistungsanbietern unter kostenpolitisch motivierten Wettbewerbsbedingungen der Anfang vom Ende des Korporatismus in der Sozialpolitik? Tritt in der Sozialpolitik ein freier Wettbewerb an die Stelle korporatistischer Verhandlungen?
Zunächst einmal hat der Korporatismus in der Sozialpolitik - nicht zuletzt aufgrund seiner bis in die Weimarer Republik zurückreichenden Traditionen - zu einer Institutionalisierung des Verhältnisses zwischen Wohlfahrtsverbänden und Sozialstaat beigetragen. Die Beteiligung von Wohlfahrtsverbänden in politischen Entscheidungs- und Beratungsgremien sowie spezifische Förderprogramme zugunsten der Freien Wohlfahrtspflege auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene bringen diesen Sachverhalt nachhaltig zum Ausdruck. Derartige institutionelle Entwicklungen sind nicht einfach qua politischer Entscheidungen und rechtlicher Regelungen zu beenden, sondern allenfalls schrittweise zu verändern.
Unter den Bedingungen eines langsamen institutionellen Wandels haben politisch etablierte und betriebswirtschaftlich betrachtet ressourcenstarke Wohlfahrtverbände ausgesprochen günstige Ausgangspositionen. So sind die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege und ihre Mitgliedsorganisationen - im Unterschied zu privatgewerblichen Unternehmen - institutionell geregelt in den Politik- und Gesetzgebungsprozess eingebunden und als Leistungsanbieter verfügen sie in relevanten Teilbereichen sozialer Dienste, etwa für Kranke, Alte, Behinderte, Sozialhilfeberechtigte sowie Kinder und Jugendliche, immer noch über verbandliche Domänen. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege nehmen am neuen Pluralismus und Wettbewerb freier Leistungsanbieter als korporative und ressourcenstarke Akteure teil. Gleichwohl wäre eine Strategie des "Weiter so" angesichts der gravierenden ordnungs- und sozialrechtlichen Änderungen kontraproduktiv, da sie die notwendige Bereitschaft zum Lernen und für organisatorische Veränderungen unterbinden würde
Internetverweise des Autors:
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege: www.bagfw.de;
Arbeiterwohlfahrt: www.awo.org;
Deutscher Caritasverband: www.caritas.de;
Deutsches Rotes Kreuz: www.rotkreuz.de;
Diakonisches Werk: www.diakonie.de;
Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband: www.paritaet.org