I. Einleitung
Die deutsche Interessenvermittlung, das Zusammenspiel zwischen Regierung, Parteien und Interessengruppen, steht auf dem Prüfstand. Seit langem stehen Probleme an, von denen man meinen könnte, sie würden am besten im Akkord der verschiedenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Interessen gelöst. In zentralen Politikfeldern wie zum Beispiel Arbeitsmarkt, Renten, Bildung und Ausbildung stehen Lösungen aus, die sozial und wirtschaftlich von fundamentaler Bedeutung sind. In Deutschland sind zwischen 1991 und 1997 fast 7 Prozent aller Arbeitsplätze verloren gegangen
Das "deutsche Modell" der Interessenvermittlung konnte sich bisher immer zurechnen, dass es durch den Austausch von Wissen, Positionen und Problemlösungsstrategien zwischen Politik, Wirtschaft und gesellschaftlichen Kräften zu einer Konzertierung von Interessen kommen konnte, die es möglich machte, kritische Situationen abzufangen. Es war erfolgreich bei der ersten - im Vergleich zu heute - kleinen Rezession in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre und bei der Bewältigung der ersten und zweiten Ölkrise 1974 und Anfang der achtziger. Mitte der sechziger Jahre wurde die "Idee kooperativer Krisenbewältigung"
II. Korporatismus als Politikmuster
Verbände und Interessengruppen wurden in der Forschung und Politik lange Zeit als Akteure angesehen, die - lediglich auf ihr spezielles Partikularinteresse orientiert - staatliches Handeln und Gesetzgebung zu beeinflussen suchen. Die ältere Staats- und Demokratietheorie stand der wachsenden Zahl der Interessengruppen aus diesem Grund mit starkem Misstrauen gegenüber und befürchtete, dass Verbände sich den auf Gemeinwohl bedachten Staat zur Beute machen könnten
Derartige Arrangements können nur unter bestimmten Bedingungen erfolgreich sein. Zentral ist, dass die Verbändelandschaft durch ein System individueller Organisationen gekennzeichnet ist, die mehr oder minder über Repräsentationsmonopole verfügen und in der Lage sind, ihre Mitglieder auch auf das in der Konzertierung vereinbarte Handeln zu verpflichten. Schmitter hat vor allem diese Strukturkomponente (Monopolverbände, hierarchisch organisiert) als Definitionskriterium für Korporatismus hervorgehoben
III. Korporatismus und deutsches Modell
Im internationalen Vergleich gilt Deutschland nicht unbedingt als typisch korporatistisches Land
Das Jahr 1967 markiert den Einstieg in den "Makrokorporatismus". Das vor dem Hintergrund der drohenden Rezession initiierte Stabilitätsgesetz gab der Bundesregierung ein konjunkturpolitisches Instrumentarium an die Hand; Planbarkeit wurde Anspruch und Ziel der Politik. Dieser Paradigmenwechsel ging einher mit der von Wirtschaftsminister Schiller angeregten "Konzertierten Aktion" (1967-1977), die im Februar 1967 erstmals zusammentraf. Anfänglich bestand der Kreis aus 34 Personen aus neun Organisationen
Nach 1969 und insbesondere ab 1972 verlor die Konzertierte Aktion schnell an Bedeutung, nicht zuletzt deshalb, weil effektive Aushandlungsprozesse durch die Ausweitung des Teilnehmerkreises (Bauern, Beamte, Banken, Verbraucherverbände usw.) auf bis zu 80 Teilnehmer
Mit der politischen "Wende" durch den Regierungswechsel 1982 verschlechterten sich jedoch die Möglichkeiten für einen übergreifenden Konsens. Gewerkschaften und Regierung waren einander angesichts der Deregulierungsbemühungen der christlich-liberalen Bundesregierung (Versuche der Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, Änderung § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes und Änderung des Beschäftigungsförderungsgesetzes) regelrecht feindselig gesinnt
Mit der deutschen Vereinigung gab es jedoch wieder Ansätze, auf korporatistische Vermittlungsmuster zurückzugreifen. Das zeigte sich jedoch erst, als in der ersten Jahreshälfte 1991 der massive Anstieg der Arbeitslosigkeit erkennbar wurde. In der Frühphase der Vereinigung gab es zwar die sogenannte Kanzlerrunde, diese stellte aber kein effektives konsultatives Netzwerk dar. Es herrschte das dezisionistische Primat der Politik
Zwar stieß die Initiative des IG-Metall-Vorsitzenden Klaus Zwickel für ein "Bündnis für Arbeit" Ende Oktober 1995 auf große öffentliche Resonanz, die die Bundesregierung angesichts ihres mäßigen Wahlerfolges 1994 zunächst nicht ignorieren konnte. Aber sowohl Regierung als auch Arbeitgeber schwenkten sehr schnell wieder um auf den Kurs einer zügigen marktorientierten Deregulierung
Erst die neue Bundesregierung nahm den Ansatz zur Konzertierung wieder auf. Die SPD machte 1998 ein "Bündnis für Arbeit" zum Wahlkampfthema, die rot-grüne Koalition vereinbarte, ein solches Bündnis für Arbeit zu mobilisieren, zu dem alle Beteiligten ihren Beitrag zu leisten hätten. Das Bündnis ist beim Kanzleramt angesiedelt und aufgeteilt in Spitzengespräche, eine Steuerungsgruppe und sieben Arbeitsgruppen zu Themen von Aus- und Weiterbildung bis zu Aufbau Ost sowie zwei weitere Gruppen zu speziellen Themen. Seine arbeitsteilige formale Struktur leistet einer verhandlungsorientierten kooperativen Politik Vorschub und wird "durch vergleichbare Konstruktionen in fast allen Bundesländern" flankiert
Die "Konjunkturen" im Rückgriff auf verhandlungsdemokratische, korporatistische Mechanismen politischer Steuerung verweisen darauf, dass eine entsprechende Verbändelandschaft und -struktur nicht gleichzusetzen sind mit korporatistischer Politik. Dazu bedarf es vor allem des Willens und der Fähigkeit der Regierung, gesellschaftliche Kräfte und Verbände unter der Bedingung der Freiwilligkeit dazu zu bewegen, sich auf eine Konzertierung der Interessen einzulassen. Nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in anderen Ländern scheint ein solches verhandlungsdemokratisches Politikmodell eher sozialdemokratischen als christdemokratischen, liberalen oder konservativen Regierungen zu entsprechen. Korporatismus scheint einen sozialdemokratischen Charakter zu haben. Teilweise wird er sogar als die "höchste Form" sozialdemokratischer Politik angesehen
Allerdings ist die Konzertierung von Interessen nicht allein ein Willensakt. Bestimmte Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit es überhaupt zu solchen Arrangements kommen kann. Die derzeitige Diskussion um die Krise der traditionellen Großorganisationen und der Einschränkung der Handlungsspielräume des Nationalstaates in einer globalisierten Weltwirtschaft verweisen auf besondere Herausforderungen, die von vielen als Grenzen korporatistischer Politik angesehen werden.
IV. Herausforderungen: Verpflichtungsfähigkeit und Internationalisierung
Eine zentrale Determinante des Erfolgs der Initiierung von Interessenkonzertierung sind die Anreize für die Akteure, sich auf ein solches Arrangement einzulassen, die der Staat bzw. die Regierung setzen kann. Tauschprozesse müssen konsensual sein, was die Überzeugung von der Existenz eines gemeinsamen Nutzens voraussetzt. Eine Regierung muss also Maßnahmen mindestens flankierender Art anbieten können, die unter der Bedingung, dass die beteiligten Interessenvertretungen auf Teile ihrer Interessen verzichten, wirksam werden und insgesamt einen größeren Nutzen für alle Beteiligten erbringen. Ein fiktives Beispiel: Wenn die Regierung anbietet, die Lohnnebenkosten zu senken, was die Arbeitnehmer mit Beiträgen für private Zusatzversicherungen belastet, können die Gewerkschaften nur dann dazu bereit sein, wenn die Arbeitgeber bereit sind, die Einsparungen arbeitsmarktwirksam werden zu lassen. Der Gesamtnutzen könnte eine höhere Beschäftigung sein, die im Interesse der Gewerkschaften liegt und zudem dem Staat mehr Einnahmen und weniger Kosten beschert, für Arbeitgeber die Arbeitskosten senkt und insgesamt das Wirtschaftswachstum befördert. Der entscheidende Punkt einer solchen Vereinbarung wäre die Arbeitgeberzusage auf Arbeitsplätze. Die durch Senkung der Lohnkosten erzielten Produktionszuwächse dürften nicht nur nicht in weniger Beschäftigung, sondern müssen vielmehr in mehr Beschäftigung umgesetzt werden. Wie haltbar eine solche Überlegung wirtschaftstheoretisch auch immer sein mag, sie verweist auf eine weitere zentrale Determinante der Erfolgsbedingungen von Konzertierung: die Verpflichtungsfähigkeit der Verbände gegenüber ihren Mitgliedern, im Beispiel also der Arbeitgeberverbände gegenüber ihren Mitgliedsbetrieben. Die Bindung an Verhandlungsergebnisse kann jedoch selbst im maximalen Falle lediglich alle Mitglieder umfassen. Daher sind Mitgliederstärken und Mitgliederdichten ein nicht unwichtiger Indikator für die Verpflichtungsfähigkeit. Die zentralen Organisationen des korporatistischen Kerns, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, leiden jedoch seit Jahren an Mitgliederverlusten. Monatlich verlieren die Gewerkschaften zwischen 30 000 und 40 000 Mitglieder. Am stärksten ist dieser Trend in den neuen Bundesländern, was in Grenzen auch als eine Rückführung exorbitant hoher Organisationsgrade (etwa 60 Prozent unmittelbar nach der Vereinigung) auf ein Westdeutschland entsprechendes Niveau und somit als Normalisierung angesehen werden kann. Hält die Entwicklung jedoch an, werden die Gewerkschaften bald im vereinigten Deutschland nur noch so viele Mitglieder haben wie vor der Vereinigung allein in der alten Bundesrepublik
Die Randbedingungen für erfolgreiche korporatistische Politik haben sich aber nicht nur aus Gründen der Organisationsschwäche verändert. Auch die Globalisierung der Wirtschaft und die Einschränkung nationalstaatlicher Handlungsspielräume im Rahmen der europäischen Integration schränken die Möglichkeiten erfolgreicher nationaler "Alleingänge" ein. Gleichwohl bedeutet dies gerade nicht ein Ende des Korporatismus. Wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit hängt sicherlich mit ab von der Flexibilität der Beschäftigungsverhältnisse und der Höhe der effektiven Arbeitskosten. Nicht selten wird ausschließlich Marktmechanismen zugeschrieben, die notwendige Flexibilität sichern zu können sowie eine adäquate Kostenstruktur zu etablieren und damit die Fähigkeit, die Angebotsstruktur einer Volkswirtschaft zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Dabei wird übersehen, dass sich korporatistische Arrangements gerade auch in dieser Beziehung als durchaus erfolgreich erwiesen haben. Häufig ging es ja um nichts anderes als die Verbesserung der Angebotsseite, wie z. B. beim "Tausch" von Lohnzurückhaltung gegen Investitionen im Rahmen der "Konzertierten Aktion" der sechziger Jahre oder bei der Stabilisierung der Kosten im Gesundheitssystem als Grundlage für die Stabilität der Lohnnebenkosten im Rahmen der "Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen". Dass Korporatismus nur mit einer keynesianischen nachfrageorientierten Politik kompatibel ist, wird keiner behaupten können, der auf die Niederlande oder Dänemark blickt
Auch die Internationalisierung des Regierens im EU-Kontext spricht nicht gegen einen erfolgreichen Korporatismus. Zwar beschneidet die Institutionalisierung globaler Geldpolitik im Rahmen der europäischen Währungsunion die Möglichkeiten für eine erfolgreiche Nachfragesteuerung, die auf eine Konzertierung zwischen Fiskal-, Geld- und Lohnpolitik angewiesen ist
Internetverweise des Autors:
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit: www.iab.de/index.htm
Max-Planck-Institute für Gesellschaftsforschung, Köln: www.mpi-fg-koeln.mpg.de
International Reform Monitor der Bertelsmann- Stiftung: www.reformmonitor.org/