Einleitung
Organisierter Interessenvertretung werden nicht selten vorwiegend negative Wirkungen zugeschrieben. Verbände würden notwendige Veränderungen blockieren, weil ihre Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen und die damit verknüpfte Kompromissbildung allenfalls marginale Veränderungen erlaubten und notwendige Strukturreformen ausschlössen. Gleichzeitig unterminiere Verbandsmacht das politische Gleichheitsversprechen liberaler Demokratie, das in dem Postulat one man one vote einen wirkungsmächtigen Ausdruck gefunden hat. Organisationsmacht von Verbänden und Interessengruppen beruhe dagegen auf Handlungsmacht und gesellschaftlichen Ressourcen, die ungleich verteilt seien und dieses Postulat tendenziell in Frage stellten. Schließlich fehle verbandlicher Einflussnahme auch ein Verfahren, das, ähnlich wie Wahlen, zu einer grundsätzlichen Legitimation ihrer Entscheidungsträger und ihrer Politik führen könnte
Mit diesem - hier nur wenig zugespitzten - Negativbild übermächtiger, undemokratischer und gemeinwohlgefährdender Verbände kontrastiert die ebenso pointierte Auffassung, dass Interessenorganisationen Träger und Initiatoren des politischen und sozialen Wandels sind und Legitimationsdefizite territorialer, parlamentarischer Repräsentation ausgleichen könnten. Interessenorganisationen erbringen danach wichtige Integrations-, Vermittlungs- und Steuerungsleistungen für das politische System
Zurückzuführen sind diese ebenso konträren wie verbreiteten Einschätzungen unter anderem darauf, dass häufig Teile für das Ganze genommen werden. Beispielsweise stehen in der korporatismustheoretisch inspirierten Interessengruppenforschung zumeist gesellschaftliche Großorganisationen im Vordergrund
Das mag - wie Ulrich von Alemann nicht zu Unrecht kritisiert - auf "mangelndes Methodenbewusstsein" von Teilen der Interessengruppenforschung und deren Hang zu "theoriegesättigten Dachkonstruktionen" verweisen
I. Zivilgesellschaftliche Bedeutung und Strukturveränderungen
Der Begriff "organisierte Interessen"
Allerdings greifen gesellschaftliche Großverbände ebenso auf Mittel der "Vergemeinschaftung" (Max Weber) zurück, die nicht unmittelbar der Realisierung primärer, materieller Verbandszwecke oder der ausschließlichen Repräsentation von Interessen gegenüber dem politischen System dienen. Neben Kollektivgütern und individuellen Dienstleistungen, mit denen sich freiwillige Mitgliedschaft in Verbänden "zweckrational" erklären lässt, sind die Präsenz "vor Ort", der unmittelbare persönliche Kontakt in Versammlungen, die Ehrung von langjährigen und besonders engagierten Mitgliedern oder andere Formen sozialer Integration Instrumente, um ein Gefühl der "Zusammengehörigkeit" zu erzeugen oder zu bestärken
In Deutschland organisieren sich Menschen dabei keineswegs wesentlich häufiger als in vielen anderen Gesellschaften, das Klischee von der deutschen "Vereinsmeierei" ist mithin zumindest zu relativieren. So gaben 1990 57 Prozent der Befragten in Deutschland an, einem Verein oder Verband anzugehören, eine zwar durchaus beachtliche, aber keineswegs außergewöhnlich hohe Organisationsneigung, die beispielsweise von den Dänen und den Niederländern noch übertroffen wurde, von denen 86 bzw. 75 Prozent sagten, Mitglied in einem Verein oder Verband zu sein
Empirisch wird dies häufig mit dem zu beobachtenden Mitgliederverlust vor allem von Großorganisationen belegt, die zudem Funktionsdefizite aufweisen. Das "Aussterben der Stammkunden"
Weder hat die Organisationsneigung im Zeitablauf signifikant abgenommen noch findet die häufige Klage, dass ehrenamtliches Engagement im Schwinden begriffen wäre
Die Neigung, sich aktiv am Vereinsleben zu beteiligen und ehrenamtliche Funktionen zu übernehmen, variiert darüber hinaus nach Organisationstyp und -ebene. Insbesondere gesellschaftliche Großorganisationen können nur ein vergleichsweise geringes Mitgliederpotenzial für ehrenamtliche (und vor allem überregionale) Aufgaben mobilisieren. Dem entspricht, dass sie verstärkt versuchen, durch Beteiligungsangebote und durch dezentrale, lokal und zeitlich befristete Kampagnen die Mitgliedsbindung zu erhöhen und ihre Mobilisierungsfähigkeit zu stärken (siehe Tabelle 1).
Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass die Zahl der eingetragenen Vereine in (West-)Deutschland zwischen 1960 und 1990 kontinuierlich von 88 572 auf rd. 286 000 gestiegen ist. Das bedeutet, dass 1960 ca. 160 eingetragene Vereine auf 100 000 Einwohner kamen, während dies 1990 474 Vereine waren
Bestätigung findet diese These in einer Studie von Martin Sebaldt, der auf Grundlage der Lobbylisten des Deutschen Bundestages untersucht hat, ob und inwieweit sich der "organisierte Pluralismus" seit 1974 gewandelt hat. Sebaldt kommt zu dem Ergebnis, dass das Spektrum der registrierten Verbände wichtige soziale und politische Konfliktstrukturen widerspiegelt und - zeitverzögert - gesellschaftlichen Veränderungen folgt. So stieg der Anteil der Interessenorganisationen, die sich der "Dienstleistungsgesellschaft" zuordnen lassen, an allen in der Lobbyliste registrierten Verbänden von 61,7 Prozent (1974) auf 71,3 Prozent (1994), wobei zu beachten ist, dass die Gesamtzahl aller gemeldeten Verbände von 635 (1974) auf 1 572 (1994) ebenfalls deutlich zugenommen hat. Ähnliches gilt für Verbände, die Interessen der "Risikogesellschaft" vertreten; in diesem Sektor ist, so Sebaldt, sogar ein "Entwicklungsboom" festzustellen
Nun lassen sich solche Befunde keineswegs ohne weiteres verallgemeinern und zu der These zuspitzen, dass organisierte Interessenvertretung reibungslos funktionieren würde und sich alle gesellschaftlichen Interessen in gleicher oder ausreichender Weise organisieren und vertreten ließen. Im Gegenteil: Insbesondere gesellschaftlich marginalisierte Gruppen - wie etwa Obdach- oder Arbeitslose
II. Binnenorganisatorische Entwicklungen
Die Interessengruppenforschung hat, wie erwähnt, die zivilgesellschaftlichen Dimensionen von Verbänden und Vereinigungen weitgehend vernachlässigt. Im Zentrum der sozialwissenschaftlichen Forschung über funktionale Interessenvermittlung standen Verbände, die als intermediäre Organisationen Vermittlungsleistungen zwischen Gesellschaft und Staat erbringen und folglich unterschiedliche und nicht selten konfligierende Funktionsanforderungen erfüllen müssen. Wolfgang Streeck und Philippe C. Schmitter haben dabei zwischen "Mitgliedschafts-" und "Einflusslogik" unterschieden
Keineswegs im Widerspruch zu diesen Integrationsbemühungen und der Dezentralisierung von Organisationsstrukturen stehen Rationalisierungs- und Professionalisierungsbemühungen von Vereinen und Verbänden. Einnahmeverluste, Mitgliederrückgänge, technologischer Wandel, die Pluralisierung der Organisationslandschaft etc. zwingen vielfach zu einem ökonomischen Mitteleinsatz und zu einer Flexibilisierung des Organisationsapparates. Organisatorische Umstrukturierungen gehören daher in der Zwischenzeit zum Alltag vieler Großverbände. Gleichzeitig wird versucht, mit dem Aufbau dauerhafter Kooperationsbeziehungen zwischen Verbänden und/oder Fusionen administrativen Doppelaufwand zu vermeiden, die politische Handlungsfähigkeit zu stärken und Leistungen für Mitglieder zu verbessern.
Viele gesellschaftliche Großorganisationen erwiesen sich denn auch als durchaus anpassungs- und reformfähig. Gewerkschaften unternahmen Programm- und Strukturreformen, die auch früher schwer vorstellbare Zusammenschlüsse (wie etwa bei der geplanten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di) umfassten. Ähnlich reagierten Arbeitgeber- und Unternehmerverbände, die mit einer veränderten Tarifpolitik, mit neuen Aufnahmebedingungen, der Etablierung von Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung etc. internen Konflikten und zuletzt häufiger vorkommenden Austritten zu begegnen suchten. Ebenso konnten sich Wohlfahrtsverbände als dominierende Anbieter sozialer Dienstleistungen behaupten, obwohl sozialpolitische Reformen ihre frühere Monopolstellung in Frage stellten
Begleitet werden solche Strukturreformen häufig von einer Professionalisierung vor allem von klientel- und mitgliederbezogenen Bereichen. Nach Helmut K. Anheier stiegen in den alten Bundesländern zwischen 1961 und 1990 die Beschäftigten im sogenannten Dritten Sektor, der alle Organisationen umfasst, die weder dem Staat noch dem Markt zuzuordnen sind, um knapp 300 Prozent von 0,42 Millionen auf ca. 1,26 Millionen, während die Gesamtbeschäftigtenzahlen zwischen 1960 und 1990 lediglich um 12 Prozent wuchsen
Auch wenn zwischen den Bereichen beträchtliche Unterschiede existieren, lässt sich konstatieren, dass sich binnenorganisatorisch weitreichende Anpassungsprozesse und Versuche bemerkbar machen, sich auf veränderte Rahmenbedingungen einzustellen. Dezentralisierungsprozesse einschließlich lokal und zeitlich befristeter Beteiligungsangebote an Mitglieder einerseits sowie Rationalisierungs- und Professionalisierungstendenzen in Verbänden und Vereinen andererseits sind Reaktionen auf die gesellschaftlichen Veränderungen. Verbände und Vereinigungen sind also durchaus in der Lage, ihre eigenen Bestands- und Handlungsvoraussetzungen zu beeinflussen.
III. Organisierte Interessen und der Staat
Noch immer beschreibt die von Theodor Eschenburg in den fünfziger Jahren beschworene Gefahr von der "Herrschaft der Verbände" einen wichtigen inhaltlichen Bezugspunkt für die deutsche Interessengruppenforschung (auch wenn Eschenburg die Gefahr mit einem Fragezeichen versehen hat). Eschenburg war keineswegs alleine mit seiner Auffassung
Gegen diese These einer "Herrschaft der Verbände" spricht schon, dass sie Interessenorganisationen auf ihre Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen und ihre Präsenz im politischen System verkürzt und sie damit die beschriebene zivilgesellschaftlichen Funktionen von Verbänden und Vereinigungen außer Acht lässt. Darüber hinaus wurde insbesondere im Rahmen der korporatismustheoretischen Diskussion herausgearbeitet, dass Verbände zur Akzeptanz politischer Programme beitragen und öffentliche Aufgaben erfüllen können
Auch die Analyse von politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen zeigt, dass von einer Herrschaft der Verbände keine Rede sein kann. Primärer Adressat von Verbänden für politische Einflussnahme ist die staatliche Verwaltung und die politische Exekutive, und noch immer gelten Information und Sachverstand als die wichtigsten Ressourcen von Verbänden
Die "Verbandsfärbung" des Deutschen Bundestages zeigt dabei seit 1987 einen deutlichen Rückgang (siehe Tabelle 3). Nur noch weniger als 40 Prozent der Abgeordneten des Deutschen Bundestages gaben in der zwölften Legislaturperiode an, eine ehren- oder hauptamtliche Funktion in einer Vereinigung ausgeübt zu haben oder noch immer auszuüben
Im Gegensatz dazu ist die Präsenz von Vertretern von Vereinigungen aus den Bereichen Kultur, Wissenschaft, Religion und Politik sowie aus dem Sozialbereich (unter anderem Wohlfahrts-, Jugend-, Geschädigten- und Frauenverbände) absolut und relativ gestiegen. Auch wenn solche Daten vorsichtig interpretiert werden müssen - sie beruhen auf Selbstangaben der Abgeordneten und sie geben keinen Hinweis darauf, dass der oder die Abgeordnete sich primär als Vertreter/in eines Interessenverbandes im Parlament betrachtet - verdeutlichen sie immerhin, dass die Verbandsfärbung des Parlaments einen sektoralen Wandel erfahren hat und dass im Bundestag ein breites Spektrum gesellschaftlich organisierter Interessen repräsentiert ist. Damit ist eine Konkurrenz von Interessen möglich und eine umfassende Instrumentalisierung des Staates durch einzelne Interessen ausgeschlossen
Verfehlt wäre es jedoch, aus dieser pluralistischen Struktur der im Bundestag vertretenen Interessen die Schlussfolgerung zu ziehen, es bestünde ein Machtgleichgewicht der Interessenorganisationen. Dagegen spricht schon, dass Politiknetzwerke existieren, die sich durch personelle Überlappungen, intensive Kontaktstrukturen zwischen Verbänden, Verwaltung und Abgeordneten sowie "Erbhöfen" bei Ausschussbesetzungen auszeichnen
IV. Organisierte Interessen in der Bundesrepublik Deutschland
Die Bestands- und Organisationsvoraussetzungen für organisiertes kollektives Handeln haben sich in der Bundesrepublik Deutschland also keineswegs pauschal verschlechtert. Das "soziale Kapital", das sich in einem solchen "Assoziationsverhalten" niederschlägt, ist nicht geringer geworden. Auch wenn auf einzelverbandlicher oder sektoraler Ebene durchaus Funktions- und Strukturprobleme festzustellen sind, ist daraus keine Krise des Systems organisierter Interessenvermittlung abzuleiten. Der tendenzielle Bedeutungsverlust etablierter Verbände und die Entstehung neuer Interessenorganisationen lassen sich vielmehr als "Modernisierungsprozess" und Strukturwandel deuten, der, zeitlich verzögert, dem gesellschaftlichen Wandel folgt. Darauf verweist auch, dass sich in den letzten Jahrzehnten Interessen zusammenschließen konnten und Zugang zum politischen System erhielten, die als organisationsunfähig und konfliktschwach gelten. Gerade ökologische oder ideelle Anliegen und Verbände, die sich der "Dienstleistungs-" und "Risikogesellschaft" zuordnen lassen, weisen eine hohe Entwicklungsdynamik auf.
Das soll nun keineswegs bedeuten, dass verbandliche Einflussnahme und Lobbyismus ohne Probleme sind. Illegitime oder illegale Formen der Einflussnahme, Verflechtung zwischen Unternehmen, Verbänden, Parteien und Regierungen und auch die Benachteiligung bestimmter gesellschaftlicher Interessen sind dauerhafte Probleme, auf die bisher im Wesentlichen nur normative Antworten gefunden wurden