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Innovative Potenziale von Politikerinnen Mehrfachorientierung auf Politik, Beruf und Privatleben

Brigitte Geißel

/ 16 Minuten zu lesen

Die "Doppel- und Dreifachbelastung" von Politikerinnen ist keineswegs nur als Handikap, sondern auch als Chance zu verstehen. Die Orientierung auf mehrere Lebensbereiche birgt vielfältige Innovationspotenziale.

Einleitung

Nicht erst seit der Wahl von Angela Merkel zur Parteivorsitzenden der CDU ist unübersehbar geworden, dass Frauen in den Parteien und Parlamenten stärker präsent sind als früher. Damit geht zugleich ein vermehrtes wissenschaftliches und journalistisches Interesse an Politikerinnen einher. Oft stehen dabei deren spezifische Schwierigkeiten und Probleme im Mittelpunkt, wofür in der Regel die so genannte Doppel- und Dreifach-Belastung verantwortlich gemacht wird.

Im Folgenden wird auf der Basis von Politikerinnen-Interviews ein Perspektivenwechsel vorgenommen. So kommt zum Vorschein, was bislang meist übersehen wurde: Die Orientierung vieler Politikerinnen auf mehrere Lebensbereiche - auf Politik, Beruf und Privatleben - ist keineswegs nur als Handikap, sondern auch als Chance zu interpretieren: Die Mehrfachorientierung birgt auch Innovationspotenziale, sowohl für die Politikerinnen selbst als auch für die Politik und für eine zukunftsfähige Entwicklung der Gesellschaft.

Zunächst wird das Konzept der Mehrfachorientierung erläutert und die Mehrfachorientierung von Politikerinnen beschrieben. Anschließend werden deren innovative Potenziale vorgestellt und im Spiegel politischer Theorien diskutiert. Das Augenmerk liegt dabei auf den positiven Auswirkungen von Mehrfachorientierung, die damit verbundenen Anstrengungen rücken bewusst in den Hintergrund. Dass Mehrfachorientierung unter den gegebenen Umständen eine Belastung darstellt, soll selbstverständlich nicht geleugnet werden. Deshalb steht im Mittelpunkt des darauf folgenden Abschnitts die Frage, unter welchen Bedingungen sie gelingen kann.

I. Zum Konzept der Mehrfachorientierung

Es ist eine Besonderheit der Biographien vieler Frauen, dass diese sich nicht auf nur einen Lebensbereich konzentrieren, sondern sich gleichzeitig oder phasenweise in verschiedenen Lebensbereichen bewegen. Dies wird häufig mit dem Terminus der "Doppel- und Dreifachbelastung" beschrieben, der eine gleichsam tragische Zuweisung an und Belastung für Frauen impliziert. Doch sind Frauen keineswegs nur gesellschaftlichen Strukturierungsprinzipien unterworfen, sondern auch in der Lage, ihre Biographien selbst zu gestalten. Lebensgeschichte spielt sich immer in einem Spannungsfeld zwischen subjektiver Handlungsautonomie und objektiven Einschränkungen ab. Um sowohl die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten wie auch die vorgegebene Struktur des Lebens von Frauen konzeptionell mitdenken zu können, wurde der Terminus "potenzielle Mehrfachorientierung" (auf Beruf, Familie, Freundschaften, Ehepartner, Politik, Ehrenamt usw.) entwickelt. "Orientierung" verdeutlicht gegenüber dem Begriff der "Doppel- und Dreifach-Belastung", dass Frauen heute vielfach verschiedene Optionen haben. Sie sind mit Entscheidungsmöglichkeiten wie auch -zwängen konfrontiert, sie können und müssen sich aktiv entscheiden.

Zur Doppelorientierung von Frauen auf Beruf und Familie - und den dieser innewohnenden Innovationspotenzialen - liegen mittlerweile Forschungsergebnisse vor: Aufgrund ihrer Erfahrungen im Beruf sowie in der Familie verfügen viele Frauen über einen im Vergleich zu (den meisten) Männern weiteren Orientierungshorizont. Hier liegen "innovative Potenziale", welche die "gesellschaftlich gegensinnigen Optionen in einem Lebensentwurf . . . realisieren und so sozial voneinander getrenntes - Privates und Öffentliches - im Sinne einer Integrationsleistung zusammenführen" . Die Orientierung auf einen dritten Bereich neben der Familie und dem Beruf - auf die Politik -, also die Mehrfachorientierung von Politikerinnen blieb bislang jedoch eher unbeachtet.

II. Innovative Potenziale infolge der Mehrfachorientierungen von Politikerinnen

Sowohl im Selbstbild von Politikerinnen als auch im Ergebnis wissenschaftlicher Studien ist die Orientierung auf mehrere Lebensbereiche eine Gemeinsamkeit zwar nicht aller, aber relativ vieler Politikerinnen . Sie vertreten einen Lebensentwurf, der als "Gleichgewichtskonzept" bezeichnet werden kann, erachten sie es doch als erstrebenswert, sich im Leben auf mehrere Standbeine bzw. Lebensbereiche zu stützen, die im Gleichgewicht miteinander stehen. Mehr und mehr Politikerinnen der achtziger und neunziger Jahre wollen für sich keinen der drei oder mehr Lebensbereiche gänzlich ausblenden. Die Orientierung auf die Politik muss in ihren Augen eine Orientierung auf andere Bereiche nicht ausschließen. Sie wollen gleichzeitig politisch aktiv sein, im Erwerbsarbeitsleben stehen, ein erfülltes Privatleben führen und zum Teil auch eine Familie gründen. Diese Drei- oder Mehrfachorientierung von Politikerinnen birgt, wie im Folgenden dargestellt werden soll, bislang wenig wahrgenommene Innovationspotenziale.

Die Lebenskonzepte der Mehrfachorientierung vieler Politikerinnen bieten zukunftsfähige Potenziale in (mindestens) dreierlei Hinsicht. Erstens befreit die Mehrfachorientierung auf individueller Ebene von der Fixierung auf nur einen Lebensbereich und kann somit auch als Freiheit wahrgenommen werden. Zweitens ist eine Beteiligung von mehrfachorientierten Personen innovativ für die politisch-instiutionelle Ebene. Denn Mehrfachorientierte spiegeln die Lebenskontexte und damit die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung in größerem Umfang wider als nur auf die Politik fixierte Personen. Und drittens kann ein solches Lebenskonzept als ein zukunftsfähiges Leitbild auf gesamtgesellschaftlicher Ebene gelten. In einer Gesellschaft, in welcher die erwerbsförmig vermittelte Arbeit abnimmt, die Forderung nach mehr politischer Mitbestimmung, z. B. durch Volksentscheide, immer lauter wird und das Geschlechterverhältnis sich verändert, sind vor allem Lebenskonzepte zukunftsfähig, die unterschiedliche Orientierungen in sich vereinen. Diese drei genannten Innovationspotenziale werden im Folgenden diskutiert.

1. Mehrfachorientierung: Selbstentfaltung - Unabhängigkeit - Freiheit

Viele Politikerinnen betrachten die potenziell vielseitige Lebensorientierung trotz aller Anstrengungen auch als Chance zu mehr individueller Freiheit. Sie befreit in ihren Augen von dem Zwang, sich (nahezu) lebenslänglich und ausschließlich auf nur einen Lebensbereich zu konzentrieren. Eine einseitige Orientierung auf die Politik wirkt sich ihrer Ansicht nach problematisch aus. Wenn die Politik bzw. der politische Aufstieg der wesentliche Lebensinhalt ist, würde zur eigenen Karriereförderung "der eigene Kopf irgendwo abgegeben" . Ein unabhängiges Denken könne man sich dann nicht mehr leisten, vielmehr ordnet man sich problemloser in die politischen Hierarchien ein.

Politikerinnen beschreiben eher ihre männlichen Parteikollegen als "profillos, angepasst, opportunistisch" . Bei ihnen sei eine größere Abhängigkeit von Machtpositionen zu konstatieren. Ähnliches ist auch in der Wirtschaft festzustellen: Firmenchefs sind häufig "Sklaven ihrer Machtpositionen. Sie sind arbeitssüchtig und fühlen sich einzig während ihrer Arbeitszeit wohl und lebendig. Ohne ihre Tätigkeit - am Feierabend, am Wochenende und vor allem in den Ferien - erleben sich diese Männer als leer, nutzlos und verloren."

Im Vergleich zu ihren meisten männlichen Parteikollegen fühlen sich viele Politikerinnen unabhängiger von ihrer Partei - und von Machtpositionen. Das Konzept "Politik als Lebensinhalt" teilen sie mehrheitlich nicht. Politische Karrieren werden zwar verfolgt, diese sollen aber kompatibel mit anderen, biographisch relevanten Orientierungen sein. Das gleichzeitige Eingebundensein in verschiedene Lebensbereiche, die "amtsunabhängigen Vernetzungen" und die Möglichkeit der Prioritätenänderung verhindern die einseitige Fixierung auf die Politik. Diese relative Unabhängigkeit ist - so lassen die Selbstbeschreibungen vermuten - überparteilich, überregional und von der Kommunalpolitik bis in die politischen Eliten zu finden. Infolge der potenziell vielseitigen Orientierungen könnten Politikerinnen laut Selbsteinschätzung eher unkonventionell handeln. Mehrfachorientierung ist somit auch als Befreiung wahrzunehmen, denn sie schützt vor der "Entwicklung der allseitig reduzierten, auf die Karrieredienlichkeit abgerichteten Persönlichkeit" , vor einer angepassten Profillosigkeit und vor der Sucht nach Positionen und Ämtern.

Spannend erscheint mir in diesem Zusammenhang der Gedanke von Hannah Arendt zu sein, ein "nur in der Öffentlichkeit verbrachtes Leben" führe unweigerlich zu einer "eigentümlichen Verflachung" . Psychisches Gleichgewicht und eine gewisse Integrität können nur aufrechterhalten werden, wenn Menschen sowohl im privaten wie im öffentlichen Raum verwurzelt sind. Eine Verflachung attestieren einige der interviewten Politikerinnen, wenn auch mit anderen Worten, einseitig orientierten Parteikollegen und -kolleginnen. In ihren Augen besteht die Gefahr einer Verflachung, wenn die alltägliche Haus- und Familienarbeit - und damit auch die Sorge um Kinder, Eltern, Partner und Partnerinnen, Freunde und Freundinnen - zugunsten einer unbalancierten und einseitigen Politikorientierung vernachlässigt wird. Wenn Beziehungen und Bindungen keinen eigenen Wert mehr haben, sondern ausschließlich als Instrument betrachtet werden, um eine politische Karriere zu verfolgen, bzw. nur der Regeneration dienen, ist das "Eindimensional-Werden" unausweichlich . Besonders drastisch beschreibt eine Politikerin jene Kollegen, die "ihre Kinder in die Mülltonnen stecken, wenn sie im Weg sind, und dann Jugendpolitik machen". Einem solchen Verhalten können amtsunabhängige Bindungen, die einen Wert jenseits von Instrumentalisierung und Regeneration haben, und die Verantwortung für die alltäglichen, lebensnotwendigen Verrichtungen entgegenwirken.

Andererseits berichten Politikerinnen aber auch von einer Verflachung, wenn sie über die Zeit sprechen, in der sie nicht politisch engagiert waren. Sie hätten in "ihrer kleinen Welt gelebt" . Viele betonen, dass ihnen die persönlichkeitsbildende Erfahrung wie auch die Bestätigung und die Anerkennung des öffentlichen politischen Handelns verborgen geblieben wäre, hätten sie nur in den anderen Bereichen gelebt.

Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass die Mehrfachorientierung auf individueller Ebene infolge des Eingebunden-Seins in mehrere Lebensbereiche die Möglichkeit von Selbstentfaltung, Unabhängigkeit und Freiheit bietet.

2. Mehrfachorientierung - Voraussetzung für einen realistischeren Zugang zur Politik

Mehrfachorientierte decken eine größere Bandbreite an gesellschaftlichen Aktivitäten ab. Das ist in Bezug auf die politisch-institutionelle Ebene als Vorteil zu werten, spiegelt diese Ausrichtung doch die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung wirklichkeitsgetreuer wider. Interessenvielfalt der Bürger und Bürgerinnen kann besser berücksichtigt werden, wenn Erfahrungen aus verschiedenen Bereichen in der Politik vertreten sind. Bislang scheinen im Wesentlichen einseitig orientierte Personen über die Geschicke unserer Gesellschaft zu bestimmen. Themen auf der politischen Agenda und Entscheidungen sind davon gekennzeichnet. Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth ist beispielsweise "überzeugt, dass die Frage . . . der Anerkennung von Tätigkeiten außerhalb des Erwerbsberufs, ganz anders beurteilt werden würde, wenn wir schon 30 Jahre lang einen weitaus größeren Frauenanteil im Parlament hätten" . Eine erstaunliche Ausblendung relevanter Lebenskontexte und -konzepte lässt sich auch anhand der Zusammensetzung des Bündnisses für Arbeit nachweisen. Dieses Gremium ist ein nahezu reines Männergremium, welches von anderen Vorstellungen als der lebenslangen Vollzeiterwerbsarbeit offenbar nur wenig Notiz genommen hat. In der Einbeziehung von Personen mit breiterem Erfahrungshorizont und mehrfachen Orientierungen, und dies sind bislang in der Regel Frauen, läge eine Chance für einen realistischeren Zugang der Politik.

3. Mehrfachorientierung - ein zukunftsfähiges Lebenskonzept

Das dritte Innovationspotenzial der Mehrfachorientierung liegt in der Zukunftsfähigkeit dieses Lebenskonzepts. Einseitige Lebensorientierungen können mit den Erfordernissen zukünftiger Gesellschaften kaum standhalten. Die monetär vergütete, über den Markt vermittelte Arbeit nimmt ab, die gegenwärtige repräsentative Parteiendemokratie gerät immer mehr in die Kritik und das traditionelle Geschlechterverhältnis, das die Alleinzuständigkeit von Frauen für die Haus- und Familienarbeit begründet, beginnt langsam zu wanken. Immer mehr Bürger und Bürgerinnen distanzieren sich von den arbeitsorientierten Lebenskonzepten , fordern zeitgleich mehr politische Mitbestimmung, sichtbar zum Beispiel an dem Wunsch nach der Ausweitung plebiszitärer Elemente (z. B. Referenden), und Frauen lassen sich zunehmend weniger auf den Lebensbereich Familie festlegen. Lebenserfüllung und Identität werden kaum mehr in nur einem einzigen Lebensbereich gesucht und dort auch immer seltener gefunden. Demnach wäre zu vermuten, dass mehrfachorientierte Personen eine Art "Modernisierungsvorsprung" haben, denn die anstehendenden Veränderungen unserer Gesellschaft, deren Mitglieder erwerbstätige, politisch aktive und gleichzeitig im Privatleben engagierte Bürger und Bürgerinnen sind, haben sie bereits - quasi individuell - vollzogen. Dass ein mehrfachorientiertes Lebenskonzept den klassischen Idealen eines Politikers sowie der politischen Praxis widerspricht, wird im folgenden Abschnitt diskutiert.

III. Mehrfachorientierung im Kontext politischer Theorie und Praxis

Das Lebenskonzept der Mehrfachorientierung steht im krassen Gegensatz zu jenen klassischen politischen Demokratietheorien, die auf die Partizipationsformen in der altgriechischen Polis, gewissermaßen dem Vorbild heutiger Demokratien, rekurrieren. In diesen Theorien wird die politische Macht durch Personen konstituiert, die frei sind von einfachen, lebenserhaltenden Arbeiten. "Genau diese Fähigkeit, solche Belange hinter sich zu lassen", kennzeichne die Handlungsfähigkeit von Politikern, denn - so kommentiert Bonnie Honig polemisch - "in der Politik steht schließlich ,nicht das Leben, sondern die Welt' auf dem Spiel" . Möglich wurde die Freiheit im öffentlich-politischen Leben dadurch, dass "man Andere zwang, einem die Sorge um das tägliche Leben abzunehmen" . Frauen und Sklaven waren hierfür verantwortlich - und dementsprechend von jeglicher politischer Beteiligung ausgeschlossen. Selbst Handwerker oder Bauern erschienen nicht geeignet zum politischen Handeln, "denn es bedarf voller Muße zur Ausbildung der Tugend und der Besorgung der Staatsgeschäfte" . Der Zugang zur Welt der Politik war mit dem Eingebunden-Sein in die Welt der lebensnotwendigen Tätigkeiten nicht kompatibel. Diese Idealvorstellung blieb keineswegs auf die griechische Polis beschränkt. Sie hat bis heute Bestand. Mehrfachorientierte Politikerinnen gehen einen neuen Weg. Sie kümmern sich um die alltäglichen Verrichtungen und beanspruchen, dennoch am politischen Leben teilzunehmen.

Das vorgestellte "Gleichgewichtskonzept" passt mit einem weiteren Ideal klassischer politischer Theorien nicht zusammen. Denn ein Staatsmann soll nicht nur unabhängig von der Last des Alltäglichen, sondern auch frei von Bindungen sein . Die meisten klassischen politischen Theorien (Rousseau, Hobbes, Locke) beschreiben den Staatsgründer, und damit den ersten "Staatsmann", als "frei" von Beziehungen. Damit geht auch einher, dass "die Grundbedingung menschlichen Daseins, das Gebundensein an andere", letztlich verleugnet wird . Diese Grundlagen politischer Theorien bilden "den antisozialen Subtext" auch heutiger Politiker-Mythen. Mehrfachorientierte Politikerinnen passen nicht in dieses männerzentrierte Konzept.

Nicht nur zentrale Grundsätze der klassischen politischen Theorien, sondern auch der politischen Praxis werden von vielen Politikerinnen nicht eingehalten: Zweifellos sind Politiker und Politikerinnen von heute nicht gänzlich frei von allen Bindungen. Wollen sie Erfolg haben, sind Sie vielmehr angewiesen auf ein innerparteiliches Beziehungsnetz mit Parteikollegen und -kolleginnen. Vielleicht sind sie "anti-sozial", aber gleichzeitig müssen sie nach dem Prinzip des "do ut des" ("Ich gebe, damit Du gibst") mit ihren Mitstreitern und Mitstreiterinnen verbunden sein. Dies erfordert Zeit und eine einseitige Konzentration auf die öffentliche Politik, auch im Privatleben. Denn dort hat der "klassische" Politiker für die Politik instrumentalisierbare BezugspersonenVgl. Anm. 11.. Überspitzt könnte gefolgert werden: Wer in der Politik Erfolg haben will, darf keine Bindungen eingehen, die nicht für die Politik instrumentalisierbar sind. Auch diesem Zwang kommen viele Politikerinnen nicht nach, sind sie doch auch amtsunabhängig vernetzt und gebunden.

Für den wissenschaftlichen Diskurs zu Partizipations- und Demokratietheorien lassen sich aus den genannten Ergebnissen einige Schlüsse ziehen. Ideal wären Demokratie- und Partizipationstheorien, in welchen erstens die Beschäftigung mit alltäglichen, lebenserhaltenden Tätigkeiten mit politischer Beteiligung vereinbar sind und welche zweitens soziale Bindungen als eigenständigen Wert berücksichtigen.

IV. Erfolgsbedingungen gelungener Mehrfachorientierung

Im derzeitigen politischen Leben bringt eine Mehrfachorientierung keineswegs nur Freiheit, Innovation und Emanzipation mit sich. Sie geht in der Regel auch mit Zeitkonflikten und einer Überbelastung einher. Politikerinnen müssen in der Lage sein, mehrere Bälle zu jonglieren, wobei das Jonglieren erschwerend mit einem Hindernislauf verbunden ist. Denn die Zeitstrukturen und Organisationsweisen in Beruf, Familie, Privatleben und Politik widersprechen den Wünschen nach der Vereinbarung dieser Lebensbereiche. Berichte über Erschöpfung, Abgespanntheit und Übermüdung von Politikerinnen belegen dies. Unter welchen Bedingungen ist eine mehrfache Orientierung also überhaupt möglich, unter welchen Bedingungen können aus der Mehrfachorientierung innovative Potenziale erwachsen? Im Folgenden werden die "Erfolgsbedingungen" im Privatleben, im Erwerbsarbeitsleben und in der Politik diskutiert.

Im Privat- und Familienleben ist ein zustimmendes und unterstützendes privates Umfeld ideal. Die interviewten Politikerinnen betonen übereinstimmend, dass Mehrfachorientierung ohne die Kooperation des Partners bzw. der Partnerin nicht möglich sei. Der gerechten Teilung der Haus- und Familienarbeit kommt eine besondere Bedeutung zu, der Verteilungsprozess verläuft jedoch häufig konflikthaft und spannungsgeladen. Jenen Politikerinnen, die selbst von ihren Rechten überzeugt sind, gelingt es am besten, eine gerechte Arbeitsverteilung einzufordern .

Mütter können eine Orientierung auf die Politik nur verwirklichen, wenn weitere Personen in der Haus- und Familienarbeit eigenverantwortlich mitwirken. Dies ist unter zwei Optionen möglich: Sie werden von Freunden oder Freundinnen bzw. Familienangehörigen unterstützt oder sie beschäftigen finanziell vergütete Betreuungspersonen und Haushaltshilfen. Im ersten Fall müssen stabile, kostenlose, private Netze, im zweiten finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen.

Die Erfolgsbedingungen für eine politische Karriere im Erwerbsarbeitsleben sind das Einverständnis des Arbeitgebers, die Abkömmlichkeit sowie die Möglichkeit der Freistellung. Eine Erwerbstätigkeit im öffentlichen Dienst - in einer gehobenen Position mit relativ freier Zeiteinteilung und einem hohen Maß an Selbstbestimmung - bietet in der Regel optimale Bedingungen. Politikerinnen, die in weniger selbstbestimmten Berufen arbeiten - zum Beispiel als mittlere Angestellte in der freien Wirtschaft -, können eine Mehrfachorientierung nur unter erheblich größeren Schwierigkeiten realisieren.

Die manchmal vertretene These, Frauen hätten allein aufgrund ihrer Familienorientierung und dabei speziell aufgrund von Mutterschaft keine Zeit für politische Aktivitäten, trifft in dieser Monokausalität nur bedingt zu. Partizipation wird nicht schlicht durch Mutterschaft blockiert. Die Barrieren für Frauen (mit Kindern) sind erheblich komplexer und unterscheiden sich schichtspezifisch. Nicht die Mutterschaft ist es, die Frauen behindert, sondern die Kumulation verschiedener negativer Faktoren. Es sind dies

- ein niedriges Bildungsniveau und eine entsprechend dotierte, niedrig qualifizierte, politikferne Berufsposition mit kaum gegebener Möglichkeit der Freistellung und Abkömmlichkeit;

- ein Partner, der sich nicht an der Familienarbeit beteiligen will oder kann sowie

- fehlende Ressourcen zur Finanzierung entlastender Dienstleistungen, Betreuungspersonen und Haushaltshilfen.

Mütter besetzen bei günstigen lebenskontextuellen und sozioökonomischen Voraussetzungen durchaus politische Positionen. Bislang gelingt es jedoch in der Regel nur vielfach privilegierten Frauen, einen Lebenskontext im Erwerbsarbeits- und im Privatleben zu gestalten, der eine Mehrfachorientierung erlaubt.

Wenn die politische Beteiligung von mehrfachorientierten Frauen in den Parteien erwünscht ist, ist in der Politik bereits eine wesentliche Bedingung erfüllt. Darüber hinaus muss das politische Leben als interessant und spannend wahrgenommen werden, sonst konzentrieren sich mehrfachorientierte Parteimitglieder lieber wieder auf andere Lebensbereiche. Ferner müssen Kandidaturen mehrfachorientierter Frauen überhaupt Erfolgsaussichten erkennen lassen. Die Erfahrung, dass ein (einseitig orientierter) Mann vorgezogen wird, lässt die Politik nicht unbedingt als interessanten Lebensbereich erscheinen.

Doch selbst unter den genannten Bedingungen ist eine mehrfache Orientierung in der Parteiendemokratie nur schwer zu realisieren. Organisationsweisen und Strukturen der Parteien sind bislang kaum an den Interessen und Bedürfnissen Mehrfachorientierter ausgerichtet. Ein großes Problem sehen Politikerinnen in der männerfreundlichen Zeitorganisation der Politik. So werden Absprachen für den zeitlichen Rahmen von Sitzungen kaum eingehalten. Es scheine so, als ob "die männlichen Politiker kein Zuhause" hätten oder zumindest dort keine Verpflichtungen. Dies führe zu unnötig weitschweifigen Sitzungen: Die "Profilierungsversuche, die Selbstdarstellungsaktionen, . . . dieses plakative Nullsätze-Reden der Männer" führen zu zeitaufwendigen Versammlungen , was Mehrfachorientierten eine Beteiligung erschwert.

In der Politik dominiert weiterhin die Pflicht des "Immer-und-überall-Dabeiseins", die den einseitig orientierten Menschen voraussetzt. Illustrieren lässt sich dies anhand eines Medienskandals um die ehemalige Berliner Kultur-Senatorin Anke Martiny. Sie hatte es ,gewagt', mehr freie Zeit für sich sowie für privat-familiäre Tätigkeiten und Kontakte zu fordern, was ihr von den Medien und der damaligen Opposition als Politikunfähigkeit ausgelegt wurde: Wer einen freien Abend in der Woche benötige, könne keine hochrangige politische Position ausfüllen . Unter solchen Bedingungen ist die politische Beteiligung von Mehrfachorientierten kaum möglich.

Angesichts dieser und anderer Kritikpunkte ist zu fragen, ob innerparteiliche Reformen (z. B. Veränderung der Zeitorganisation) überhaupt möglich sind und ob diese ausreichen, um bislang zwar nicht de jure, aber de facto weitgehend ausgegrenzte mehrfachorientierte Frauen und Männer zu integrieren. Alternativ zur Parteiendemokratie wird über bessere Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bevölkerung durch die Einführung umfangreicher direktdemokratischer Elemente, etwa Volksbegehren oder Referenden, wie auch diskursiv-partizipativer Verfahren, etwa Runde Tische oder Planungszellen, diskutiert. Diese Formen der Mitbestimmung erfordern niedrigere Zugangs- und Partizipationsvoraussetzungen als eine in der Regel zeitintensive parteipolitische und parlamentarische Partizipation und würden somit auch Mehrfachorientierten Mitbestimmung ermöglichen.

V. Ausblick

Lebenskonzepten der Mehrfachorientierung wird häufig entgegengehalten, dass sie in einer arbeitsteiligen, hochproduktiven Gesellschaft nicht effektiv seien. Doch wird - auf lange Sicht - wohl eher das Gegenteil der Fall sein: Die Veränderungen der Erwerbsarbeit (Erosion des Normalarbeitsverhältnisses), der Demokratie (Forderung nach mehr Demokratie und politischen Mitbestimmungsrechten) und des Geschlechterverhältnisses (Weigerung von Frauen, Haus- und Familienarbeit alleinverantwortlich zu übernehmen) werden einseitige Orientierungen künftig weder für alle Menschen möglich machen noch attraktiv erscheinen lassen. Die Gesellschaft wie jedes einzelne Individuum werden auf diesen Wandel mit zukunftsfähigen Konzepten, wie zum Beispiel dem der Mehrfachorientierung, reagieren müssen.

Von den Sozialwissenschaften, mit Ausnahme der Geschlechterforschung, ist die Mehrfachorientierung bislang eher als "Sonderfall" bewertet und kaum theoretisch oder empirisch bearbeitet worden. Es gibt - wie gezeigt werden sollte - gute Gründe dafür, dieses Lebenskonzept und diese Lebensweise im Kontext der Entwicklung einer zukunftsfähigen Gesellschaft stärker in den Blick zu nehmen.

Eine zukunftsorientierte Politik müsste die Unterstützung und Ausprägung mehrfacher Orientierungen in größerem Ausmaß als Querschnittsaufgabe wahrnehmen, etwa durch die Verbesserung der sozialen Absicherung für Teilzeitbeschäftigung sowie für Tätigkeiten außerhalb der klassischen Erwerbsarbeit. Bislang scheint die Politik jedoch Mehrfachorientierten eher Steine in den Weg zu legen und damit Innovationspotentiale zu verschenken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Es wurden Interviews mit 26 Kommunalpolitikerinnen einer westdeutschen Großstadt ausgewertet. Vgl. Brigitte Geißel, Politikerinnen, Politisierung und Partizipation auf kommunaler Ebene, Opladen 1999.

  2. Regina Becker-Schmidt, Von Jungen, die keine Mädchen und von Mädchen, die gerne Jungen sein wollten. Geschlechtsspezifische Umwege auf der Suche nach Identität, in: dies./Gudrun-Axeli Knapp, Das Geschlechterverhältnis als Gegenstand der Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main - New York 1995, S. 226, 240.

  3. Vgl. B. Geißel (Anm. 1), S. 192-199; Birgit Meyer, Frauen im Männerbund. Politikerinnen in Führungspositionen von der Nachkriegszeit bis heute, Frankfurt am Main - New York 1997.

  4. Vgl. Ansgar Klein/Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen, Bonn 1997.

  5. Bärbel Schöler-Macher, Die Fremdheit der Politik. Erfahrungen von Frauen in Parteien und Parlamenten, Weinheim 1994, S. 166.

  6. Ebd.; vgl. auch B. Meyer (Anm. 3); Barbara Schaeffer-Hegel/Helga Foster/Helga Lukoschat/Rita Mersmann,/Silke Ude/Ulla Weber, Frauen mit Macht: Zum Wandel der politischen Kultur durch die Präsenz von Frauen in Führungspositionen, Pfaffenweiler 1995, S. 181.

  7. Walter Hollstein, Der Kampf der Geschlechter. Frauen und Männer im Streit um Liebe und Macht, und wie sie sich verständigen können, München 1995, S. 212; vgl. auch Michael Dörr, Helden der Arbeit. Transformation der Arbeitsgesellschaft und männliche Identität, in: psychosozial, 20 (1997) IV, (Nr. 70).

  8. B. Schaeffer-Hegel u. a. (Anm. 6).

  9. Ebd., S. 27, 18 ff.

  10. Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München 199810, S. 87.

  11. Bindungen von Politikern scheinen in erster Linie der Instrumentalisierung und der Regeneration zu dienen: Für einen Parlamentarier wird, so das Ergebnis einer Studie, auch die Ehefrau zur "amtsgebundenen" Person. Sie wirkt als "infrastrukturelle Voraussetzung" und hat die Aufgabe, als unentbehrlicher "Integrationsfaktor" die Belastungen des Politiker-Gatten "abzufedern". Werner Patzelt zit. nach B. Meyer (Anm. 3), S. 22.

  12. Denn "dem Menschen [erschließt sich], wenn er öffentlich handelt, eine bestimmte Dimension menschlicher Existenz . . ., die irgendwie zum vollständigen ,Glück' gehört". H. Arendt (Anm. 10), S. 48, 109.

  13. Interview mit der Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, Ein schwarzes Jahr für die Gleichberechtigung, in: Süddeutsche Zeitung vom 28. Dezember 1995, S. 8.

  14. Vgl. Michael Dörr, Arbeit - verachtet und geliebt. Stationen eines Bedeutungswandels - Von der Antike bis heute, in: psychosozial, 18 (1995) II, (Nr. 60), S. 103 ff..

  15. Bonnie Honig, Agonaler Feminismus: Hannah Arendt und die Identitätspolitik, in: Institut für Sozialforschung Frankfurt (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt am Main 1994, S. 52.

  16. Vgl. Hannah Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, hrsg. von Ursula Ludz, München - Zürich 1993, S. 38 f.

  17. Vgl. M. Dörr (Anm. 14), S. 93.

  18. Vgl. Barbara Holland-Cunz, Die Einsamkeit der Staatsgründer. Individualität, Sozialität, Familie und Staat in der klassischen politischen Theorie, in: Brigitte Kerchner/Gabriele Wilde (Hrsg.), Staat und Privatheit. Aktuelle Studien zu einem schwierigen Verhältnis, Opladen 1997, S. 62 f.

  19. Ebd.

  20. Nur wenn sie selbstbewusst und selbstverständlich vertreten, dass zum einen Haus- und Familienarbeit nicht nur die Aufgabe von Frauen ist und zum anderen politische Aktivität auch Frauen (mit Kindern) möglich sein muss, können sie ihre Partner zur Mitarbeit gewinnen.

  21. Vgl. B. Geißel (Anm. 3), S. 151 ff.; vgl. auch B. Meyer (Anm. 3), S. 348.

  22. Vgl. Helga Lukoschat, Geschlecht und Politik. Die Spezifika der Skandalierung weiblicher Politiker am Beispiel des rot-grünen Senats in Berlin 1989/90, in: B. Schaeffer-Hegel u. a. (Anm. 6), S. 265 ff. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von Ulla Weber und Barbara Schaeffer-Hegel in diesem Heft.

Dr. phil., geb. 1962; wissenschaftliche Mitarbeit an der Technischen Universität Berlin (1994-1999) und der University of Illinois, USA, (1999); Lehrbeauftragte an der TU Berlin.

Anschrift: TU Berlin, FG Politikwissenschaft, Ernst-Reuter-Platz 7, 10587 Berlin.

Veröffentlichungen, u. a.: Politikerinnen. Politisierung und Partizipation auf kommunaler Ebene, Opladen 1999.