I. Die demographische Krise
Allmählich werden sich alle Industrieländer der demographischen Krise bewusst, die auf sie zukommt. Man kann eine ganze Reihe von Kriterien anführen, die das Ausmaß der Umwälzungen zum Ausdruck bringen: Der Kinderreichtum in den europäischen Gesellschaften wurde innerhalb nur einer Generation enorm reduziert. Der Rückgang der Zahl der Frauen, die drei Kinder haben - betrachtet im Zeitraum 1960 bis 1990 -, betrug selbst im geburtenfreundlichen Frankreich 31 Prozent, in Westdeutschland 41 Prozent, in Italien 52 Prozent und in Spanien sogar 61 Prozent. Von Seiten der Demographen war lange Zeit erwartet worden, die katholischen Länder würden nur sehr eingeschränkt vom Rückgang der Kinderzahl betroffen sein. Noch eindrucksvollere Prozentzahlen zur Abnahme des Kinderreichtums bekommt man, wenn man den Rückgang des Anteils der Familien mit vier und mehr Kindern betrachtet
Diese "Nettoreproduktionsziffern" müssen in Erinnerung gerufen werden, weil sie von grundlegender Bedeutung sind. Sie zeigen die durchschnittliche Zahl der lebendgeborenen Mädchen einer Frau auf. Ein Wert unter eins bedeutet, dass die vorausgegangene Generation nicht ersetzt wird. Im EU-Wirtschaftsraum lag der Wert bei 0.71, in Deutschland bei 0.61, jeweils bezogen auf das Jahr 1995.
Von enormer gesamtgesellschaftlicher Bedeutung ist weiter, dass der Anteil zeitlebens kinderlos bleibender Frauen ständig wächst. Im Frauenjahrgang 1940 blieben in Westdeutschland nur gut zehn Prozent kinderlos, im Jahrgang 1955 aber bereits 20 Prozent. Zwischenzeitlich ist davon die Rede, dass der Kinderlosenanteil auf bis zu 40 Prozent steigen könnte. Den Ursachen dieser Entwicklung nachzugehen ist hier nicht der Raum
Dass in den entwickelten Ländern die Lebenserwartung steigt, ist dagegen nicht unter den Krisenpunkten zu verzeichnen. Die zunehmende Lebenserwartung hat allerdings Kostenprobleme im Gesundheitsbereich zur Folge, und im Rentenbereich erhöht sich der Zeitumfang des Bezugs von Alterseinkommen. Ein Krisenmoment stellt auf der Ebene der Gesellschaft vielmehr die strukturelle Alterung dar. Wenn die Proportionen der nachwachsenden und der ältesten Generation sich sehr verschieben, signalisiert dieser Umbruch einen Krisenfaktor. Er lässt sich in einer Art Alterskreuzung darstellen: Die Linie des Anteils der noch nicht 20-Jährigen und diejenigen der 60-Jährigen und Älteren hat sich im Zeitraum zwischen 1900 und 2030 in Deutschland bereits vor der Jahrtausendwende gekreuzt
Es stellt sich nun die Frage, wie auf derartige problematische Daten zu reagieren sein könnte. Es herrscht leider parteiübergreifend die Neigung vor, die Entwicklung als schicksalhaft zu verstehen. Geht man davon aus, dass die Entwicklungsrichtungen unveränderlich fixiert sind, bleiben in der Tat nur noch Anpassungsreaktionen zu vollziehen. Sie haben aber auch nur eine begrenzte Wirkung - wenn überhaupt. Im Folgenden wird dagegen die These vertreten, dass keine nur kurzfristigen Lösungen angepeilt werden dürfen und dass keine isolierten Strategien und Programme verfochten werden sollten.
II. Fluchtstrategien
Der Ansatzpunkt der Kritik
Betrachtet man die demographischen Veränderungen im Zeitraum von Legislaturperioden, so geschehen sie enorm langsam. Sieht man aber auf den seit über dreißig Jahren anhaltenden demographischen Wandel in Gestalt des Rückgangs des Anteils von Kindern an der Gesellschaft und der bevorstehenden Alterung der gesamten Gesellschaft in den nächsten gut zwei Jahrzehnten, so zeigt sich, dass in dieser langen Zeit kurzfristige Politiken (oder nicht langfristig durchgehaltene) und sich nicht selbst verbessernde Strategien (die Dynamisierung des Kindergeldes wäre z. B. eine solche Strategie) keine Chance haben, sich statistisch niederzuschlagen. Die Demographie ist - so gesehen - widerstandsfähiger gegenüber kurzzeitig erfolgten Interventionen. Dieser Sachverhalt verführt aber umgekehrt dazu, anzunehmen, dass ohnehin jeglicher Eingriff vergebens ist und sich nichts verändern lässt. Diese Botschaft muss politischerseits, wiederum parteiübergreifend betrachtet, zu der dann als realistisch empfundenen Annahme führen, es sei besser, in diesem Sektor der Gesellschaft den Dingen ihren Lauf zu lassen und nur da und dort zu kurieren zu suchen, wo zusätzliche Gründe es nahe legen, etwas zu tun. Man kann nicht verantworten, Politikern zu raten, etwas zu tun, wenn gleichwohl feststeht, dass sie kurzfristig damit nichts bewirken.
Andererseits ist man, nachdem die demographische Gestalt der Krise sich immer drohender abzeichnet, dennoch versucht, relativ kurzfristig einzugreifen. Und so hat sich im Laufe der Jahre eine Agendasetzung entwickelt
"Private Lösungen"
Die Änderung des Generationenvertrages wird als Reparaturaufgabe angesehen. Wenn der Anteil Jüngerer rapide abnimmt und ein "Altenberg" sich in der Ruhestandsgeneration aufzutürmen beginnt, ist es höchste Zeit zu fragen, ob ein Generationenvertragssystem noch trägt. Offensichtlich ist das nicht der Fall, es sei denn, man macht Abstriche am Leistungssystem. Favorisiert werden derzeit vor allem private Lösungen, für die bereits genügend Beispiele existieren. Hinzu kommen die Pensionsfonds, wie sie in einigen Ländern angelegt wurden und dort zu neuen Investitionsunternehmen wurden.
Der Generationenvertrag stellt unter dem Gesichtspunkt der Generationenverbundenheit sicherlich die überlegenere Variante in der Alterssicherung dar. Dagegen wird eine Gesellschaft, die in sich sehr heterogen ist, weniger auf diese Kohäsionskraft bauen können. Eine private Absicherung von Alterseinkünften wird als Ergänzung nicht zu umgehen sein. Als Ersatz kann sie jedoch kaum beansprucht werden. Im Übrigen müssen auch nicht wenige Entwicklungsländer in etwa 20 Jahren dieses Alterungsproblem bewältigen
Einwanderung
Eine zweite Fluchtreaktion auf die demographische Krise geht in Richtung einer sozusagen mechanistischen Lösung: Wenn Menschen fehlen oder weniger geboren werden, müssen wir eben Menschen ins Land holen, die dann deren Stelle einnehmen. Hier wird also kompensatorisch gedacht; eine Ersatzlösung wird angestrebt, die dem Augenschein nach Fehlendes - etwa in der Alterspyramide - ersetzen soll. Herumgesprochen hat sich allerdings auch schon, dass das erforderliche Ausmaß an Zuwanderung sehr beträchtlich und dass diese Zuwanderung auf Dauer gestellt sein müsste. Ferner stellt sich die Frage, woher die Menschen kommen, wenn alle entwickelten Länder mehr oder minder stark an diesen Zuströmen Interesse zeigen? In Kauf nehmen müsste man dann jedenfalls eine tief greifende Veränderung der Gesellschaft, eine Multikulturalisierung, ob man sie begrüßt oder nicht
Des Weiteren ist hier auch auf die Reaktion der Öffentlichkeit zu achten. Dabei ist es nicht primär die Aufgabe der Wissenschaft, die Frage zu beantworten, ob man die öffentliche Meinung ignorieren, verändern oder akzeptieren solle. Zunächst muss man sie zu skizzieren versuchen. Das Bild ist ziemlich paradox: Einerseits ist die Bevölkerung für eine gesetzliche Regelung der Einwanderungsthematik und trägt ein Ein- oder Zuwanderungsgesetz mit, weil sie sich davon eine größere Überschaubarkeit und Ordnung in diesem Bereich verspricht. Andererseits will sie damit aber nicht den Status eines Einwanderungslandes festgeschrieben sehen
Einen weitereren Aspekt in der Zuwanderungsthematik stellt das Qualitätsproblem dar. Da in der Bundesrepublik bislang Bevölkerungspolitik ein historisch belastetes Thema war, erfolgte so gut wie keine Auswahl der Zuwanderer - ganz im Gegensatz zu klassischen Einwanderungsländern, die ökonomische und soziale Kriterien selbstverständlich vorgeben. Die Bundesrepublik hat sich dagegen bislang nur als Aufnahmeland ohne die Geltendmachung eigener Interessen oder die Beachtung bestehender Notwendigkeiten oder Probleme verstanden, wobei noch ein besonders großzügiges Asylrecht die gesamte Einwanderungssituation kompliziert. Immerhin wird nun mit Green und Blue Cards erstmals eingeräumt, dass es auf ein Auswählen ankommt. Ein Problem bleibt allerdings die erwähnte Komplexität der Situation, die auch Auswirkungen auf die öffentliche Meinung hat. Denn die Aufnahme von Migranten in der Bundesrepublik findet zwar nach gesetzlichen Kriterien statt, aber sie folgt unterschiedlichen Logiken: z. B. humanitären im Asylrecht und bei der Familienzusammenführung oder ethnischen im Aussiedlerbereich.
Hinzu kommt als entscheidendes Moment - und dabei fällt die Bundesrepublik aus dem europäischen Rahmen - die auffallende Quantität der Wanderungen. Sie hat offenbar damit zu tun, dass trotz der größeren Sprachbarriere, die die deutsche Sprache darstellt, die sozioökonomische wie sozialpolitische Attraktivität der Bundesrepublik eine Magnetwirkung ausübt. Politisches Asyl - wenn es sich denn tatsächlich um solches handelt - ist in anderen Ländern schneller zu bekommen; in der Bundesrepublik ist verfahrensrechtlich ein viel längerer zeitlicher Weg angelegt, der einem Teil der Migranten aber offensichtlich entgegenzukommen scheint, denn sie wandern trotz der hohen Ablehnungsquote zu. Dieser Zustand gehört sicherlich auch zum Spektrum des Politisierbaren, das oben erwähnt wurde und das der Leistungs- und Integrationserwartung der Bevölkerung widerspricht. Ungelöste Fragen im Asylrecht, vor allem aber in der Asylpraxis belasten die mögliche Akzeptanz einer Wanderungspolitik beträchtlich.
Das ungelöste Problem der Massenarbeitslosigkeit
Komplizierend tritt hinzu, dass neben der Frage, die hier im Mittelpunkt steht - der demographischen Krise -, in Deutschland eine hohe Arbeitslosenrate vorherrscht und andauert. Vor diesem Hintergrund eine Masseneinwanderung von Arbeitskräften zu propagieren, ist schwerlich möglich. Was demographisch, in statistisch-mechanischer Manier vertretbar sein könnte, kann im vorhandenen sozialstaatlichen Kontext auf absehbare Zeit kein gangbarer Weg sein. Sicherlich ist das Befähigungsprofil der Arbeitslosen nicht deckungsgleich mit demjenigen, das in einer modernen Wissensgesellschaft wünschenswert ist. Abgesehen von den hier zu leistenden verstärkten Bemühungen um Bildung und Ausbildung ermöglicht es der deutsche Sozialstaat seit Jahren, dass ältere Arbeitnehmer vorzeitig aus dem Arbeitsleben "sozialverträglich" ausgegliedert werden, z. T. auch am Bildungsfortschritt nicht mehr beteiligt werden. Abgesehen von den immensen Kosten, die der Allgemeinheit insgesamt durch die Arbeitslosigkeit entstehen, wird zu fragen sein, ob eine Zuwanderung, die bekanntlich hohe Integrationskosten mit sich bringt, wenn sie gut angelegt sein soll, nicht im Abgleich der Prioritäten an die zweite Stelle rücken muss - hinter die vordringlichere Lösung der hohen Arbeitslosigkeit, die dem Standort Bundesrepublik und seinem Selbstverständnis kein gutes Zeugnis ausstellt.
Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Die zuwandernden Arbeitnehmer sollen einerseits einem bestimmten Erwartungsprofil der Unternehmen entsprechen, das im Moment nicht auf dem europäischen Binnenmarkt gedeckt wird
III. Wider die Schieflagen im Sozialstaat
Unseren Sozialstaat zu würdigen, gibt es immer noch viel Anlass. Es ist jedoch auf ein gravierendes Defizit hinzuweisen, das zu seiner jetzigen Deformation beigetragen hat. Man muss dabei auf die Organisierbarkeit von Interessen zu sprechen kommen
Nimmt man hinzu, dass für die Alterssicherung nur einseitig die Erwerbsleistungen berücksichtigt werden, sehr randständig nur die Lebensleistung des Aufziehens von Kindern, dann entsteht daraus für nachwachsende Generationen eine bestimmte Botschaft, nämlich was die Gesellschaft offenbar für wichtiger ansieht und was ihrer Meinung nach nur privat gelöst werden möge. An diesem Signal haben sich bereits Generationen orientiert. Entstanden ist daraus die ,Kleinhaltung' oder sogar die Vermeidung der Familie
Sorgen der Erziehenden
Bei der Beantwortung dieser Frage stößt man auf altbekannte, trivial anmutende Sorgen, die - obwohl man sie schon lange diskutiert - noch immer Probleme bereiten. Einmal handelt es sich um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das scheinbar private Alltagsproblem hat weitreichende Konsequenzen, denn die oft unterstellte Unvereinbarkeit wird nur dadurch vermieden, dass man entweder auf Kinder verzichtet oder aus dem Erwerbsleben - wenn auch vielleicht nur auf Zeit - ausscheidet. Längst geregelt sein müsste also eine zeitlich genügend lange Betreuungsmöglichkeit von Kindern, so dass gleichzeitig damit eine Teilzeitstelle zu vereinbaren ist. Damit wäre eigentlich eine Mittagsbetreuung für Kinder erforderlich. Derartige Regelungen - so selbstverständlich sie für eine Erwerbsgesellschaft sein sollten - gibt es nur völlig unzureichend.
Und noch ein zweites Problem wird hier sichtbar: Jede ausschließende oder auf Zeit besorgte Erziehungsarbeit zu Hause, die nicht neben einer Erwerbstätigkeit (Teilzeitstelle) bewältigt wird, birgt das Risiko, dass diese Lebensleistung sich zu einem Dequalifizierungsrisiko auswächst und eine - falls gewünscht oder nötig - Berufsrückkehr erheblich erschwert. Mit diesen Fragen beschäftigen sich junge Eltern. Ihre Eltern hatten in den fünfziger Jahren oft noch andere Arrangements der Kinderbetreuung gefunden. Heutzutage, da selbst Großeltern berufliche oder sonstige Verpflichtungen oder Interessen wahrnehmen und die Form einer ,multilokalen' Familie gelebt wird - d. h., die Familienmitglieder im näheren oder weiteren Umfeld angesiedelt sind -, kann die Betreuungsfrage für erhebliche Belastungen sorgen. Um es prononciert zu sagen: Dass es eher zur Einführung der Pflegeversicherung gekommen ist als zu Lösungen bei diesem Thema, hat mit der skizzierten Orientierung unseres Sozialstaates an versicherungsrechtlichen Regelungen zu tun. In anderen Ländern ist dies nicht so ausschließlich der Fall
IV. Schlussüberlegungen
Will man sich der Erkenntnis stellen, dass nicht an Symptomen kuriert, sondern grundlegender reformiert werden muss, dann kann man nicht länger Auswege als weiterführende Perspektiven empfehlen oder isolierte Strategien verfechten
Wir fielen aber hinter den hier vertretenen Ansatz einer umfassenden Problemsicht zurück, würde man es bei der Familienpolitik bewenden lassen. Eng damit verbunden, ja im Zentrum steht ein Neuansatz in der Frauenpolitik, der auch eine eigenständige Alterssicherung von Frauen beinhalten muss, dass nämlich die beiden Lebensperspektiven, die - realiter jedenfalls - hauptsächlich von Frauen verwirklicht werden, gleichrangig ausgestaltet werden, um so Wahlfreiheiten wirklich zu ermöglichen. Die Entwicklung eines eigenständigen Familiengesetzbuches würde gegenüber dem Sozialgesetzbuch rechtlich die Aufwertung der reproduktiven Leistungen begleiten können
Aber auch bei diesem Politikfeld darf man nicht stehen bleiben. Wir erwähnten bereits die Renten- und Alterssicherungspolitik. Eine Erneuerung des Generationenvertrages ist dann ernst zu nehmen, wenn in der Alterssicherung sehr deutlich berücksichtigt wird (rentenbegründend und -steigernd), in welchem Umfang Lebensleistungen erbracht wurden oder nicht. Die praktischen Schwierigkeiten bei der Anerkennung dieser Leistungen (z. B. bei Scheidung) werden gern als Hinderungsgründe angeführt, stellen aber bei einem Konsens in der Sache keine ernsthafte Hürde dar