I. Lateinamerika im Krisenstrudel
Lateinamerika, in den achtziger Jahren eine notorische Krisenregion mit sinkenden Pro-Kopf-Einkommen und einer unbezahlbar gewordenen Auslandsverschuldung, ist im Verlauf der neunziger Jahre zu einer Region monetärer Stabilität und wirtschaftlichen Wachstums geworden. In vielen lateinamerikanischen Staaten sind seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre weitreichende wirtschafts- und finanzpolitische Reformen eingeleitet worden; mit dem Abschied von staatsinterventionistischen, importsubstituierenden Industrialisierungsstrategien früherer Dekaden und mit der Öffnung gegenüber dem Weltmarkt hat in den lateinamerikanischen Volkswirtschaften zunehmend marktkonformer Wettbewerb Einzug gehalten. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des lateinamerikanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP), die während der achtziger Jahre lediglich 1,1 Prozent erreicht hatte, ist im Zeitraum 1990 bis 1999 auf 2,9 Prozent pro Jahr angestiegen
Die Nachhaltigkeit der Stabilisierungs- und Wachstumserfolge lateinamerikanischer Volkswirtschaften ist allerdings gegen Ende der neunziger Jahre deutlich in Frage gestellt worden. Wirtschaftskrisen in Asien und Russland blieben nicht ohne destabilisierende Auswirkungen auch auf Lateinamerika. Krisenbedingte Rezessionen ha-ben innerhalb eines Jahres die Erfolge bei dem Abbau von Armut zur Hälfte oder gar völlig zunichte gemacht, die zuvor in vier oder fünf Jahren anhaltenden wirtschaftlichen Wachstums erzielt werden konnten
1997 hatten die meisten lateinamerikanischen Länder den Test auf ökonomische Krisenresistenz trotz ungünstiger weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen noch relativ erfolgreich bestanden. Die Primärgüter exportierenden Staaten der Region mussten starke Erlöseinbußen durch anhaltend sinkende Preise hinnehmen, und infolge der Finanzkrise in Südost- und Ostasien sahen sich die lateinamerikanischen Exporteure auf den pazifischen Absatzmärkten mit rückläufiger Nachfrage konfrontiert; besonders betroffen waren Chile, Mexiko, Peru und Venezuela. Nachteilige Auswirkungen hatten auch die drastische Abwertung mehrerer asiatischer Währungen und die damit einhergehenden Wettbewerbsvorteile der asiatischen Konkurrenten gegenüber lateinamerikanischen Anbietern auf den Märkten der Industrieländer.
Schwerwiegender waren die Auswirkungen der Asienkrise auf den Kapital- und Finanzmärkten. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den asiatischen Krisenländern begannen internationale Investoren, die Länderrisiken ihrer Kapitalanlagen strenger zu bewerten. Ein besonders hohes Risikopotenzial wurde in Brasilien gesehen, mit Defiziten beachtlicher Größenordnung in der Leistungsbilanz und in dem öffentlichen Haushalt, zumal die brasilianische Regierung gleichzeitig eine Antiinflationsstrategie mittels Hochzinspolitik und einer überbewerteten Wechselkursfixierung der nationalen Währung, des Real, gegenüber dem US-Dollar verfolgte. Der drohende Abzug von Auslandskapital aus Brasilien konnte durch weitere Zinserhöhung - auf zeitweise 40 Prozent für kurzfristige Kapitalanlagen - und Kürzung der Staatsausgaben erfolgreich begrenzt werden - allerdings um den Preis einer Rezession, die sich 1998 fortsetzte. Trotz zeitweiliger Krisenstimmung summierten sich 1997 die ausländischen (Netto-) Kapitalzuflüsse nach Brasilien auf 23 Mrd. US-Dollar. Lateinamerika insgesamt konnte 1997 sogar einen Rekordzufluss ausländischen Kapitals von (brutto) etwa 80 Mrd. US-Dollar registrieren
Zum Jahreswechsel 1994/95 hatten Turbulenzen auf den mexikanischen Finanzmärkten zu einer Währungskrise mit einem drastischen Wertverfall des Peso geführt. Innerhalb von wenigen Tagen war das Land in einen Strudel von Kursstürzen, hohen Dollartransfers in das Ausland und Wertverlusten bei Neuinvestitionen in Milliardenhöhe gestürzt. Dank eines im Schnellverfahren geschnürten monetären "Hilfspaketes" von Krediten im Gesamtwert von ca. 50 Mrd. US-Dollar, an dem sich die Regierungen der führenden Industrieländer und Banken beteiligten, gelang es, die schwere Finanzkrise Mexikos relativ rasch zu überwinden; auch der Internationale Währungsfonds (IWF) beteiligte sich an dieser Rettungsaktion mit einem Kredit an Mexiko in Höhe von 17,8 Mrd. US-Dollar - die höchste Kreditsumme, die seit Bestehen des IWF einem Mitgliedstaat bewilligt worden war
Während es im Gefolge des mexikanischen "Tequila-Schocks" von 1995 auch in anderen lateinamerikanischen Finanzmärkten - vor allem in Argentinien - zu Turbulenzen und einem nennenswerten Abzug von Auslandskapital gekommen war, hielten sich die Auswirkungen des "Caipirinha-Schocks" von 1997 außerhalb Brasiliens in Grenzen. Chile und Venezuela konnten in diesem Jahr nennenswerte Zuwächse der Kapitalimporte registrieren, und es gelang sogar kleineren Ländern der Region - wie beispielsweise Guatemala und Jamaika - erstmals Anleihen auf den internationalen Kapitalmärkten zu platzieren. Die Risikoprämien (spread), die auf staatliche Anleihen lateinamerikanischer Emittenten 1997 im Durchschnitt gezahlt werden mussten, hatten sich zwar im Oktober 1997 - während der Finanzkrise in Hongkong - um knapp 200 Basispunkte
Die Situation änderte sich jedoch in der zweiten Hälfte des Jahres 1998, als Lateinamerika - wie auch die meisten anderen Entwicklungsländer-Regionen - von der russischen Finanz- und Währungskrise in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die durchschnittlichen Risikoprämien auf lateinamerikanische Anleihen stiegen um mehr als 700 Basispunkte gegenüber dem Höchststand während der Mexiko-Krise von 1995. Die Aktienkurse an lateinamerikanischen Börsen sanken um mehr als ein Drittel, und Devisenspekulanten setzten erkennbar auf die Abwertung mehrerer Währungen in der Region. Zur Verteidigung ihrer Währungen erhöhten die betroffenen Länder das Zinsniveau, um weiteren Kapitalabflüssen zu begegnen, und/oder versuchten, durch Verkauf zentraler Devisenreserven die Wechselkurse ihrer nationalen Währungen zu stützen. Vor allem die brasilianische Währung geriet unter massiven Abwertungsdruck, nachdem internationale Rating-Agenturen die brasilianische Kreditwürdigkeit im September 1998 herabgestuft hatten. Zwischen Juli und Oktober 1998 sanken die Reserven der brasilianischen Zentralbank um mehr als 40 Prozent, und gleichzeitig wurde das Zinsniveau um über 17 Prozent erhöht
Um das Vertrauen der ausländischen Kapitalgeber wieder herzustellen, vereinbarte die brasilianische Zentralregierung im März 1999 mit dem IWF ein für drei Jahre angelegtes Stabilisierungsprogramm einer strikten Inflationsbekämpfung und straffen Haushaltskonsolidierung durch Ausgabenkürzungen und Einnahmesteigerungen, bei gleichzeitiger Beibehaltung eines flexiblen Wechselkurses. Der mit diesem Anpassungsprogramm verbundene rezessive Effekt blieb 1999 geringer als ursprünglich befürchtet; das brasilianische BIP erhöhte sich um 0,4 Prozent, und damit sogar geringfügig mehr als im Rezessionsjahr 1998, in dem das gesamtwirtschaftliche Wachstum mit einer Zuwachsrate von 0,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr praktisch stagniert hatte
Die Kosten der wirtschafts- und finanzpolitischen Krisenbewältigung hatte allerdings nicht nur Brasilien zu tragen. Negative Auswirkungen des Brasilien-Debakels bekam auch Argentinien zu spüren, dessen beachtliches Wirtschaftswachstum der letzten Jahre durch die intensivierten außenwirtschaftlichen Verflechtungen mit dem Nachbarland Brasilien begünstigt worden war. Zwar blieben die argentinischen Finanzmärkte von den Turbulenzen im Nachbarland weitgehend verschont, aber die Exporte nach Brasilien - die etwa ein Drittel der argentinischen Gesamtausfuhren ausgemacht hatten - gingen nach der Abwertung des Real deutlich zurück, während sich gleichzeitig die Einfuhren von Konsumgütern und Rohstoffen aus Brasilien infolge der wechselkursbedingten Verbilligung vervielfachten. Bereits 1998 war das Defizit der argentinischen Handelsbilanz auf rund drei Mrd. US-Dollar in die Höhe geschnellt, und der Passivsaldo in der Leistungsbilanz hatte 14,7 Mrd. US-Dollar erreicht. Infolge der gesetzlich verankerten festen Anbindung des argentinischen Peso an den US-Dollar konnte die Regierung in Buenos Aires nicht mit einer Abwertung der nationalen Währung reagieren. Die systembedingte Einschränkung der Geldmenge infolge des Leistungsbilanzdefizits sowie das damit steigende Zinsniveau begrenzten das Wachstumspotenzial der argentinischen Volkswirtschaft erheblich und erschwerten somit den Abbau der hohen Arbeitslosigkeit. 1999 ist das argentinische BIP um drei Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken, das Pro-Kopf-BIP preisbereinigt um über 200 US-Dollar
Die Währungskrise in der mit Abstand größten Ökonomie der Region hat die MERCOSUR-Partner Brasiliens - Argentinien, Paraguay und Uruguay - deutlich stärker getroffen als andere lateinamerikanische Volkswirtschaften; das Integrationsbündnis im südlichen Lateinamerika musste 1999 erstmals in seiner bislang sehr erfolgreichen Geschichte die Erfahrung machen, dass der Außenhandel zwischen den Mitgliedstaaten drastisch zurückging, um rund 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die außenwirtschaftlichen Verwerfungen hatten zur Folge, dass die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung in Paraguay und Uruguay - ebenso wie in Argentinien - rückläufig war, wenn auch weniger ausgeprägt.
Die negativen Folgen des Brasilien-Debakels blieben nicht auf den wirtschaftlichen Integrationsraum im Cono Sur beschränkt; auch in Kolumbien, Venezuela und Ecuador verstärkten sich die Krisensignale. In einigen zentralamerikanischen Staaten (Dominikanische Republik, Honduras, Nicaragua) kamen zu den widrigen außenwirtschaftlichen Bedingungen noch die verheerenden Auswirkungen der Wirbelstürme Georges und Mitch, so dass das wirtschaftliche Wachstum zusätzlich von der Angebotsseite her beeinträchtigt wurde. In allen lateinamerikanischen Krisenökonomien waren die Pro-Kopf-Einkommen 1999 rückläufig.
Wie Währungs- und Wirtschaftskrisen sich in Lateinamerika zu politischen Krisen ausweiten können, zeigt exemplarisch der Fall Ecuadors. Der Wechselkurs der Landeswährung Sucre befand sich 1999 in freiem Fall; innerhalb eines Jahres verlor der Sucre fast 200 Prozent seines Außenwertes gegenüber dem US-Dollar. Die wirtschafts- und finanzpolitischen Bemühungen der ecuadorianischen Regierung des Präsidenten Mahuad zur Krisenbewältigung - wie beispielsweise im März 1999 die vorübergehende Schließung aller Banken und das anschließende Einfrieren der Kundeneinlagen - hatten zu einem fortschreitenden Vertrauensverlust der wirtschaftlichen Akteure geführt und den Kursverfall des Sucre rasant beschleunigt. Einen Ausweg aus der Krise sah Präsident Mahuad schließlich nur noch in einer festen Anbindung der Landeswährung an den US-Dollar, die er am 9. Januar 2000 ankündigte.
Mahuad konnte allerdings seinen Dollarisierungs-Plan nicht mehr selbst durchsetzen. Tagelange Massendemonstrationen von Indio-Organisationen, Gewerkschaften und Teilen der Streitkräfte, die den Rücktritt des Präsidenten forderten und zeitweilig den Nationalkongress, den Obersten Gerichtshof sowie den Präsidentenpalast besetzten, gaben der Militärführung den willkommenen Anlass, Mahuad in der Nacht des 21. Januar 2000 abzusetzen, eine Regierungsjunta zu bilden und am Morgen des 22. Januar den bisherigen Vizepräsidenten Noboa als fünften Staatspräsidenten Ecuadors innerhalb von drei Jahren einzusetzen. Präsident Noboa gelang schon wenig später das, woran Mahuad gescheitert war: die Zustimmung der Parlamentsmehrheit für ein Paket neoliberaler Wirtschaftsreformen und die Dollarisierung der Währung zu erhalten. Am 9. März 2000 konnte Noboa ein Gesetz unterzeichnen, das die ecuadorianische Regierung verpflichtet, 80 Prozent des Bargeldumlaufs von Sucre gegen US-Dollar umzutauschen, zu einem festen Kurs von 25 000 Sucre je US-Dollar.
II. Die lateinamerikanische Dollarisierungsdebatte
Der Fall Ecuador hat der Dollarisierungsdebatte in Lateinamerika neue Aktualität verliehen. Bei dieser Debatte ging und geht es nicht nur um die Frage, inwieweit durch eine Ankoppelung an den US-Dollar eine monetäre Stabilitätsgarantie gewonnen wird, sondern auch darum, ob die Dollarisierung einen wirkungsvollen Schutz vor Finanz- und Wirtschaftskrisen bieten kann, die durch externe Faktoren ausgelöst werden. Tatsächlich existiert die Dollarisierung lateinamerikanischer Volkswirtschaften in unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlicher Intensität schon seit langem. Erhebliche Bestände an US-Dollar werden überall in Lateinamerika in Form von Bargeld gehalten, in legaler Form, parallel neben den Landeswährungen, oder auch illegalerweise
Es entspricht durchaus ökonomischer Rationalität, wenn der US-Dollar einer inflationsgeschwächten Landeswährung vorgezogen wird. In lateinamerikanischen Volkswirtschaften mit hohen Inflationsraten und/oder hohen politischen Stabilitätsrisiken neigen inländische Wirtschaftsakteure traditionell dazu, Vermögenswerte auf Dollar-Konten bei ausländischen Banken zu halten. Um die Flucht inländischen Kapitals auf Auslandskonten zu begrenzen, haben die Regierungen mehrerer lateinamerikanischer Länder ihren Bürgern die Möglichkeit eröffnet, Vermögenswerte im Inland auf Dollar-Basis zu halten, in Form von Dollar-Guthaben im nationalen Bankensystem oder in Form von Staatsanleihen, die auf US-Dollar lauten. So werden beispielsweise bei den Geschäftsbanken in Argentinien, Bolivien, Peru und Uruguay mehr Einlagen auf US-Dollar lautend gehalten als Guthaben in den jeweiligen Landeswährungen
Eine Möglichkeit staatlicher Geldpolitik, Preisstabilität anzusteuern, ist die Koppelung der Landeswährung an eine stabile Auslandswährung durch einen festen Wechselkurs bei gleichzeitiger Garantie von Konvertibilität, d. h. das Recht für jedermann, die heimische Währung zum festgelegten Kurs in eine andere Währung umzutauschen. Für die meisten lateinamerikanischen Volkswirtschaften bietet sich als "Ankerwährung" der US-Dollar an, der sich gegen externe Schocks und Spekulationsattacken vergleichsweise immun erwiesen hat. Bis in die siebziger Jahre waren die Währungen fast aller lateinamerikanischer Staaten mit einem festen Wechselkurs an den US-Dollar gebunden. Nach dem Ausbruch der Verschuldungskrise zu Beginn der achtziger Jahre gaben die meisten Länder Lateinamerikas ihre Systeme fixer Wechselkurse auf und gingen dazu über, die Paritäten ihrer Landeswährungen gegenüber dem US-Dollar völlig frei oder innerhalb bestimmter Bandbreiten schwanken zu lassen. Ungeachtet einiger durchaus positiver Erfahrungen mit flexiblen Wechselkursen hat aber eine zunehmende Zahl lateinamerikanischer Länder im Laufe der Zeit wieder für festere Wechselkursarrangements optiert.
Eine extreme Form des Festkurssystems ist das Currency-Board-System, wie es zu Beginn der neunziger Jahre in Argentinien eingeführt wurde. Nachdem mehrere Anläufe zur Bekämpfung der Hyperinflation jeweils bereits nach kurzer Zeit gescheitert waren, wurde im März 1991 ein Currency-Board-System eingerichtet. Zum Jahresbeginn 1992 wurde die neue argentinische Währung, der Peso, mit einem festen Wechselkurs im Verhältnis 1 : 1 an den US-Dollar angekoppelt. Der US-Dollar ist als Parallelwährung neben dem Peso zugelassen, und alle Verträge können in Pesos oder US-Dollar abgeschlossen werden. Die Aufgaben der argentinischen Zentralbank sind hauptsächlich auf die eines "Währungsamtes" beschränkt, dem der An- und Verkauf von Devisen zu dem festgelegten Kurs obliegt
Mit der argentinischen Währungsreform von 1991 und der Einführung des Currency-Board-Systems gelang es, die gesamtwirtschaftliche Preissteigerungsrate, die 1990 noch über 2000 Prozent betragen hatte, auf unter zehn Prozent zu reduzieren, und auch in den folgenden Jahren blieben die Inflationsraten auf niedrigem Niveau. Wie die argentinischen Erfahrungen gezeigt haben, kann ein Currency-Board-System in Krisenzeiten mit hohen volkswirtschaftlichen Kosten verbunden sein, die jedoch zur Sicherung der Glaubwürdigkeit des gesamten Geld- und Kreditwesens unumgänglich sind. Die argentinische Erfahrung hat aber auch deutlich gemacht, dass Glaubwürdigkeit nicht allein durch die Etablierung eines Currency-Board-Systems importiert werden kann; vielmehr muss ein solcher Systemwechsel durch weitreichende marktorientierte Reformen der gesamten staatlichen Wirtschafts- und Finanzpolitik abgesichert werden.
Überlegungen lateinamerikanischer Regierungen, den US-Dollar als gesetzliches Zahlungsmittel anstelle der bisherigen nationalen Währung einzuführen, treten immer dann in ein konkreteres Stadium ein, wenn sich zeigt, dass die wirtschaftlichen Akteure die Landeswährung für ökonomische Kontrakte mit längeren Laufzeiten nicht mehr akzeptieren. Ein deutliches Warnsignal für die eigene Währung ist es zudem, wenn auf ausländischen Kapitalmärkten keine Anleihen platziert werden können, die auf die Landeswährung lauten. Auch auf den heimischen Kapitalmärkten haben sich in den zurückliegenden Jahren in (fast) keinem Land Lateinamerikas langfristige Schuldverschreibungen auf Landeswährung lautend unterbringen lassen; finanzielle Kontrakte mit langen Laufzeiten, wie beispielsweise Hypotheken für den Wohnungsbau, werden (fast) überall in Lateinamerika auf der Basis von US-Dollar abgeschlossen oder sie werden indexiert, d. h. automatisch an die Inflationsrate angepasst.
Erweisen sich die Vorteile eines flexiblen Wechselkursregimes als begrenzt und seine gesamtwirtschaftlichen Kosten als hoch, dann erscheint der Übergang zu festen Wechselkursen zunehmend attraktiv
Nicht nur in Ecuador steht die Einführung des US-Dollar als gesetzliches Zahlungsmittel auf der tagespolitischen Agenda. Costa Rica lässt bereits die freie Zirkulation von US-Dollar zu und will zukünftig sogar völlig auf eine eigene Zentralbank verzichten. Auch in El Salvador arbeitet die Regierung an Plänen für eine vollständige Dollarisierung. Ähnliche Überlegungen werden in Kolumbien, Peru, Jamaica und Venezuela angestellt. Hingegen sind in Argentinien die Dollarisierungs-Pläne (vorerst?) zu den Akten gelegt worden. Die Regierung des neuen Präsidenten Fernando de la Rúa hat mehrfach betont, dass sie an der festen Dollar-Parität des Peso und an dem Currency-Board-System festhalten wolle, aber keine vollständige Dollarisierung der argentinischen Wirtschaft beabsichtige.
III. Lateinamerikas Abhängigkeit von externen Kapitalzuflüssen
Die Dollarisierung lateinamerikanischer Volkswirtschaften stellt für sich alleine genommen kein Patentrezept zur Lösung der vielfältigen wirtschaftlichen Probleme des Subkontinents dar. In der Anfälligkeit für Finanz-, Währungs- und Wirtschaftskrisen kommen auch gravierende gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte zum Ausdruck, die in vielen lateinamerikanischen Volkswirtschaften - trotz weitreichender wirtschaftspolitscher Reformen - nach wie vor bestehen. Lateinamerikanische Volkswirtschaften konnten von den asiatischen und russischen Finanzkrisen "angesteckt" werden, da sie infolge unzureichender Strukturanpassungsmaßnahmen und verzögerter Reformen anfällig blieben für externe Schocks. Zwar haben sich die internationalen Finanzströme von den Gütermärkten weitgehend emanzipiert, und die Finanzmärkte mögen zu Überreaktionen neigen; aber in der Ansteckungsgefahr einer Volkswirtschaft durch externe Finanzkrisen, die sich zu Währungskrisen ausweiten, kommen immer auch interne Schwächen zum Ausdruck
Schon in den zurückliegenden Dekaden haben sich lateinamerikanische Volkswirtschaften als anfällig für Finanz- und Währungskrisen erwiesen. So war beispielsweise in dem Zeitraum 1979 bis 1995 die Häufigkeit von Finanzkrisen in den lateinamerikanischen Staaten um fünfzig Prozent höher als in Ostasien
Während der neunziger Jahre haben sich vor allem die Leistungsbilanzdefizite in mehreren lateinamerikanischen Volkswirtschaften besorgniserregend ausgeweitet. Das aggregierte Leistungsbilanzdefizit Lateinamerikas, das im Jahre 1990 lediglich 0,1 Prozent des regionalen BIP betragen hatte, stieg in den nachfolgenden Jahren auf fast sechs Prozent deutlich an
Bis zu den Finanz- und Währungskrisen gegen Ende der neunziger Jahre hatten die meisten lateinamerikanischen Volkswirtschaften keine nennenswerten Schwierigkeiten, ihren externen Finanzierungsbedarf zu decken. Während zu Beginn der neunziger Jahre auf Lateinamerika lediglich 4,2 Prozent der weltweit getätigten ausländischen Direktinvestitionen entfallen waren, steigerte sich dieser Anteil im Verlaufe der neunziger Jahre auf 15 Prozent
Lateinamerika bleibt darauf angewiesen, ausländisches Kapital in Anspruch zu nehmen, solange das Defizit seiner Leistungsbilanz nicht deutlich verringert werden kann und die interne Sparquote, gemessen an dem Investitionsbedarf dynamischer Volkswirtschaften, zu gering ist. Im Zuge der außenwirtschaftlichen Öffnung ist es bislang nicht gelungen, den Anstieg der Importe durch eine Steigerung der Exporterlöse auszugleichen; während die lateinamerikanischen Importaufwendungen zwischen 1990 und 1997 um mehr als das Zweieinhalbfache stiegen, konnten die Exporterlöse in diesem Zeitraum nur knapp verdoppelt werden
Lateinamerika ist auf ausländisches Kapital auch angewiesen, um die "Sparlücke" zu schließen, d. h. die Lücke zwischen gesamtwirtschaftlicher Investitions- und Sparquote. Im Durchschnitt der neunziger Jahre betrug die Bruttoinlandsersparnis 20,1 Prozent des lateinamerikanischen BIP, während die Bruttoinlandsinvestition 20,7 Prozent des BIP erreichte. Die lateinamerikanische Investitionsquote wurde im Vergleich mit anderen Entwicklungsländer-Regionen lediglich in Afrika südlich der Sahara unterboten (16,6 Prozent), während beispielsweise in der ostasiatischen und pazifischen Region eine Investitionsquote von 35,4 Prozent des BIP möglich wurde, im Mittleren Osten und Nordafrika immerhin 23,5 Prozent. Auch die lateinamerikanische Sparquote war während der neunziger Jahre mit 20,1 Prozent des BIP deutlich niedriger als in anderen Weltregionen; im Durchschnitt der Gruppe aller Entwicklungsländer mit mittlerem Einkommen erreichte die Bruttoinlandsersparnis zwischen 1990 und 1998 knapp 24 Prozent des BIP.
Um den Finanzierungsbedarf für den Wachstums- und Entwicklungsprozess der lateinamerikanischen Volkswirtschaften in größerem Umfange als bisher intern decken zu können und damit auf ein solideres finanzielles Fundament zu stellen, ist eine Erhöhung der internen Sparquote unumgänglich. Rückgewinnung und Erhaltung der Geldwertstabilität sowie ein leistungsfähiges Bankensystem sind zweifelsohne wichtige Faktoren für die Mobilisierung verdeckter oder bislang ungenutzter Sparpotenziale. Hinzu kommen muss aber auch der Abbau eines strukturellen Hemmnisses: der extrem ungleichen personellen Einkommensverteilung. Lateinamerikanische Länder wie Brasilien, Guatemala und Panama haben weltweit die krasseste Einkommenskonzentration, und auch in den meisten übrigen Staaten der Region liegen die Indexwerte der Einkommensverteilung über dem globalen Durchschnitt
Um gegen die Ansteckung durch Finanz- und Währungskrisen in anderen Teilen der Welt besser geschützt zu sein, genügt es nicht, die Bankenaufsicht zu verbessern und durch die Zulassung ausländischer Geldinstitute die Effizienz des Bankensektors zu erhöhen
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