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Die Russische Revolution und der globale Süden | Russische Revolution | bpb.de

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Die Russische Revolution und der globale Süden

Tobias Rupprecht

/ 15 Minuten zu lesen

Die Russische Revolution ließ kaum ein Land der Welt unberührt. Sie löste die erste globale politische Massenbewegung aus, die Menschen verschiedenster Ethnien und Kulturen, Männer wie Frauen, Arbeiter wie Intellektuelle einschloss. Sie radikalisierte eine Generation von Sozialisten, und sie inspirierte Künstler weltweit. Auch die literarische Avantgarde in Mexiko war begeistert: "Russlands Lungen blasen zu uns, den Wind der sozialen Revolution", schrieb der mexikanische Dichter Manuel Maples Arce in seinem 1924 erschienenen Werk "Die Stadt. Ein bolschewistisches Über-Gedicht in fünf Gesängen". Die von ihm begründete Estridentismo-Bewegung forderte, überkommene artistische Formen über Bord zu werfen, so wie die Revolutionen ihrer Zeit überkommene politische Systeme hinweggefegt hatten. Doch viele Künstler und Denker in Russland standen selbst im eisigen Gegenwind der Revolution: Schon 1921 wurde Nikolai Gumiljow, führender Vertreter der Akmeisten und Afrika-Enthusiast, zusammen mit Hunderten Intellektuellen in Petrograd einer fabrizierten Verschwörung bezichtigt und als Warnung an die kritische russische Intelligenz von den Bolschewiki kurzerhand erschossen.

Der jahrzehntelangen Faszination für die Russische Revolution im globalen Süden tat ihre von Beginn an unfassbare Gewaltgeschichte keinen Abbruch. Kolonialherrschaft, wirtschaftliche Unterentwicklung und soziale Ungleichheit – und deren geschickte Instrumentalisierung durch die sich formierende Sowjetunion – nährten in weiten Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas eine verklärende Sicht auf den russischen Herbst 1917.

Gescheiterte Weltrevolution

Als die Bolschewiki im Oktober 1917 der Provisorischen Regierung die Macht entrissen und die sozialistische Revolution ausriefen, hörten die Völker die Signale: Studenten von Peking bis Córdoba schlossen sich in revolutionären Verbänden zusammen. Kubanische Tabakarbeiter und Unabhängigkeitsaktivisten in Niederländisch-Indien gründeten ihre eigenen Räte, die sie nach russischem Vorbild "Sowjets" nannten. Protest- und Streikwellen gingen um die Welt. Karl Marx und Lenin gesellten sich zu Montezuma und Emiliano Zapata als Helden der zeitgleich verlaufenden Mexikanischen Revolution. In den europäischen Kolonialreichen in Asien und Afrika radikalisierten sich nationale Befreiungskämpfer und sahen sich nun als Teil einer globalen Bewegung. Mit den russischen Kommunisten teilten viele von ihnen einen messianischen Glauben an eine Wende zu globaler Gerechtigkeit durch Vernichtung allen Übels. Durch die Bolschewiki wurde Russland so zum Zentrum der Auflehnung gegen die globale Hegemonie des Westens.

Für Lenin war der Zweck der Revolution in Petrograd die Vorbereitung der kommunistischen Weltrevolution gewesen. Ursprünglich dachte er aber erst an Revolutionen in den entwickelten Industrieländern des Westens, die dann, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen es erlaubten, in den kolonialen Territorien fortgesetzt würden. Besondere Hoffnung setzte die 1919 in Moskau gegründete Kommunistische Internationale (Komintern) auf das Proletariat des Deutschen Reiches. Doch noch im gleichen Jahr scheiterte in Berlin der Spartakusaufstand, bei dem die Regierung mit Freikorps gegen kommunistische Aufständische vorging. Schließlich vereitelte im "Deutschen Oktober" 1923 die Reichsregierung den letzten Versuch, die Weltrevolution nach Deutschland zu holen.

In Moskau hatte man da bereits einen stärkeren Fokus auf koloniale Territorien in Asien und Afrika gelegt. Der Parteitheoretiker und spätere Komintern-Vorsitzende Nikolai Bucharin argumentierte, koloniale Aufstände würden die imperialistischen Mächte von ihren Märkten und Rohstoffen abschneiden und damit die Krise des Kapitalismus beschleunigen. Um die "Völker des Orients" gegen ihre imperialen Herren aufzubringen, war deren zahlenmäßig schwindend geringes Proletariat aber nicht genug. Die Komintern legte sich deshalb auf ihrem zweiten Weltkongress 1920 darauf fest, Bündnisse mit "bourgeoisen Nationalisten" zu schmieden. Lenin und Bucharin lieferten den theoretischen Unterbau für diese fundamentale Neuorientierung des Marxismus. Der damalige Komintern-Vorsitzende Grigori Sinowjew rief beim Kongress der Völker des Ostens in Baku Tausende Teilnehmer aus Turkestan, der Türkei, Persien und der arabischen Welt zum Dschihad gegen den britischen Imperialismus auf.

Lenins Schriften zum Imperialismus wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und über die Komintern weltweit verteilt. In der Mongolei, wo Peking die Kontrolle verloren hatte, präsentierte sich der Bolschewismus gegenüber dem globalen Süden als Pfad zu nationaler Unabhängigkeit und staatlich forcierter Modernisierung. Die Rote Armee und eine kleine Gruppe mongolischer Unabhängigkeitskämpfer hatten 1921 die Stadt Urga erobert. Die neuen Herrscher machten daraus Ulan Bator ("Roter Held"), die Hauptstadt der ersten kommunistischen Volksrepublik, und gestalteten das Land nach sowjetischem Vorbild um.

Transnationale Komintern-Agenten trugen die Ideen und Praktiken der Oktoberrevolution in den Rest der Welt: Jules Humbert-Droz aus der Romandie war an der Gründung der Kommunistischen Parteien (KP) in Argentinien und der Schweiz beteiligt. Der in den USA ausgebildete Weißrusse Michail Borodin reiste durch Lateinamerika, Skandinavien und die Türkei, um beim Aufbau revolutionärer Kader zu helfen. Tan Malaka, indonesischer Komintern-Aktivist, pendelte jahrelang zwischen Südostasien, der Sowjetunion, den Niederlanden und den Philippinen. Der Inder Manabendra Nath Roy gründete noch im Dezember 1917 den Vorläufer der KP Mexikos, dann kommunistische Kaderschmieden im sowjetischen Zentralasien und einige Jahre später die KP Indiens. Der niederländische Sozialist Henk "Maring" Sneevliet forderte indonesische Sozialisten auf, dem Beispiel Russlands zu folgen. Borodin, Roy und Maring trafen schließlich in China aufeinander, wo sie sowohl beim Aufbau der KP Chinas mithalfen als auch enorme sowjetische Unterstützung für die chinesischen Nationalisten unter Sun Yat-Sen organisierten.

Um weitere Anhänger aus dem globalen Süden für die Sache der Revolution zu gewinnen, organisierte die Komintern Besuche in die Sowjetunion. Der rebellische brasilianische Offizier Luís Carlos Prestes wurde aus seinem bolivianischen Exil nach Moskau geholt, um dort die brasilianische Revolution vorzubereiten (die 1935 scheiterte). Ein eigenes "Negerbüro" der Roten Gewerkschafts-Internationale versammelte führende Köpfe des Panafrikanismus wie den Trinidader George Padmore, den Jamaikaner Marcus Garvey und afroamerikanische Künstler der Harlem-Renaissance. Als besonders fruchtbares Terrain zur Gewinnung künftiger kommunistischer Kader erwies sich Paris, wo zahlreiche Intellektuelle aus Lateinamerika sowie den asiatischen und afrikanischen Kolonien lebten. Schon 1925 schätzte die französische Polizei, dass ein Viertel aller etwa 4000 Chinesen in Paris Kommunisten geworden seien. Die vom deutschen Kommunisten Willi Münzenberg finanzierte Liga gegen den Imperialismus und koloniale Unterdrückung in Brüssel umwarb antikoloniale Prominente wie den Gründer der peruanischen Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA), Víctor Haya de la Torre, und den Präsidenten des African National Congress (ANC), Josiah Gumede. Auf ihren Reisen in die junge Sowjetunion der 1920er Jahre wurden sie als Befreiungshelden gefeiert. Der Kontrast zu Verfolgung und Diskriminierung im Westen überzeugte auch viele Nichtkommunisten vom sowjetischen Wohlwollen gegenüber dem globalen Süden. Jawaharlar Nehru, erster Ministerpräsident des unabhängigen Indiens, war 1927 durch die Sowjetunion geführt worden und erinnerte sich später: "Sowjetrussland, trotz einiger unerfreulicher Aspekte, übte eine starke Faszination auf mich aus, und es schien der Welt eine Nachricht der Hoffnung zu verkünden."

In der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre erhielten viele künftige postkoloniale Eliten darüber hinaus eine jahrelange Ausbildung. An der Universität für die Werktätigen des Orients, 1921 in Moskau gegründet und 1930 nach Taschkent verlegt, trafen Malaien auf Algerier, Tibeter auf Maoris, Fidschianer auf amerikanische Indianer und türkische Poeten auf deutschsprachige Kameruner wie Joseph Ekwe Bilé, den Gründer der Berliner "Liga zur Verteidigung der Negerrasse". Hier lernten unter anderem der vietnamesische Revolutionär Ho Chi Minh, Kenias erster Ministerpräsident Jomo Kenyatta und zahlreiche ANC-Aktivisten marxistisch-leninistische Theorie und revolutionäre Praxis. Alte bolschewistische Haudegen teilten ihre Erfahrung in Untergrundarbeit, Militärtaktiken sowie Gewerkschafts- und Parteiaufbau; aber auch Mathematik, Russisch und Philosophie standen auf dem Stundenplan. Die meisten Chinesen in der Sowjetunion studierten an der 1925 gegründeten Sun-Yat-Sen-Universität in Moskau. Ein beträchtlicher Teil der künftigen kommunistischen Funktionärselite, darunter auch die in Paris angeworbenen Deng Xiaoping und Tschu Enlai, erhielt hier seine ideologische Prägung.

Illiberaler Antiimperialismus

Trotz aller Mühen der Komintern folgte auf die Russische Revolution keine Weltrevolution. Stattdessen hatte der Umsturz der Bolschewiki die Ansätze sowohl eines liberalen parlamentarischen Systems als auch alternativer sozialistischer Modelle in Russland zerstört. Lenin schuf einen neuen Typ autoritärer Herrschaft, für dessen Legitimation er auch den Nationalismus nichtrussischer Völker des Zarenreichs nutzte. Zusammen mit Bucharin entwarf er ein wirkmächtiges Deutungsmuster des Imperialismus als Auswuchs des Kapitalismus, das auch auf den globalen Süden übertragen wurde. Antiimperialismus bedeutete nun eine affirmative Haltung zum Nationalismus und die Ablehnung politischen Pluralismus und wirtschaftlichen Liberalismus. Antikoloniale Bewegungen weltweit erhielten mit diesem illiberalen Antiimperialismus einen theoretischen Unterbau und eine gemeinsame Sprache. Auch spätere Generationen von Antiimperialisten, die sich explizit von der Sowjetunion distanzierten, stehen in dieser auf Lenin zurückgehenden Tradition: vom französischen Vordenker der Dekolonisation Frantz Fanon und den Befreiungsbewegungen der 1960er Jahre über den deutsch-amerikanischen Ökonomen André Gunder Frank und der lateinamerikanischen Dependencia-Theorie bis hin zu säkularen und islamistischen Antizionisten.

Bis zur Russischen Revolution waren marxistische Theoretiker wie die Liberalen für einen grenzenlosen Markt und gegen Wirtschaftsnationalismus eingetreten. Marx und die Sozialdemokraten des 19. Jahrhunderts sahen den protektionistischen Staat als Repressionsinstrument der Bourgeoisie, den kapitalistischen Freihandel dagegen als historisch notwendige Etappe, die das Weltproletariat vor der sozialistischen Revolution zusammenbrächte. Doch im revolutionären Russland hatten die Kommunisten Marx’ historischen Determinismus auf den Kopf gestellt – und sich zunächst mehr um den Machterhalt als um die Wirtschaft gekümmert. Bucharin wandte sich schließlich 1918 gegen die europäischen Sozialisten und sprach sich für einen völlig verstaatlichten Außenhandel aus. Lenin, vor allem an staatlicher Kontrolle der Gesellschaft im Russischen Bürgerkrieg interessiert, ließ sich von Walther Rathenaus Modell der zentral gelenkten Planwirtschaft inspirieren, die die Ressourcenverteilung im militaristischen Deutschen Reich während des Ersten Weltkriegs gewährleistet hatte. Sozialismus bedeutete von nun an staatliche Kontrolle zumindest der Kommandohöhen der Wirtschaft.

Auch der Aufbau politischer Strukturen nach 1917 erfolgte gemäß den Erfordernissen des Bürgerkriegs und der konstant bedrohten Herrschaft der Bolschewiki. Ihren Sieg verdankten die Kommunisten schließlich ihren effizienten Kommandostrukturen und der Organisations- und Ordnungsleistung des leninistischen Einparteiensystems. Dessen Erfolg war wohl das wirkmächtigste Signal, das von der Russischen Revolution ausging. Der Machterhalt der Bolschewiki im Russischen Bürgerkrieg bewies, dass man mit einer straff organisierten Minderheit in agrarisch-rückständigen Weltregionen nicht nur ein Ancien Régime stürzen, sondern sich auch langfristig dem Westen widersetzen und seine eigenen Modernisierungsvorstellungen durchsetzen kann. Die Komintern bestand daher darauf, dass alle Mitgliederparteien sich an den leninistischen Kader- und Kommandotyp anpassten, und schloss alle Gruppierungen aus, die sich verweigerten.

Nicht nur Marxisten sahen die im Stahlbad von Revolution und Bürgerkrieg geschaffene Kaderpartei als einen effizienten nichtwestlichen Weg zu moderner nationaler Staatlichkeit. Dieser Aspekt der Russischen Revolution stand besonders im kolonialen Asien und Afrika im Vordergrund der Wahrnehmung. Unter Einfluss von Kommunisten gründete sich 1941 die vietnamesische nationale Befreiungsbewegung Viet Minh gemäß den straffen Organisationsprinzipien der leninistischen Kaderpartei – inklusive Zellenstruktur, "demokratischem Zentralismus" und schießfreudigem Sicherheitsapparat. Auch die chinesischen Nationalisten der Kuomintang kopierten Lenins Kommandostrukturen unter direkter Anleitung von sowjetischen Militärberatern und Komintern-Agenten – bis 1927 Tschiang Kai Schek Tausende chinesische Kommunisten massakrieren ließ und Stalin daraufhin die Zusammenarbeit mit "bourgeoisen Nationalisten" vorerst beendete. Dennoch inspirierte das Einparteiensystem weiterhin nichtmarxistische Bewegungen und Potentate der Zwischenkriegszeit: Atatürk, die italienischen Faschisten und auch die Nationalsozialisten übernahmen teilweise Parteistrukturen, Propagandatechniken, Mobilisierungsstrategien, Massenorganisationen und wirtschaftliche Konzepte wie die Fünfjahrespläne von den antiwestlichen Modernisierern im Osten. Und Sayyid Qutb, Gründer der Muslimbruderschaft, übernahm Lenins Ideen einer radikalen antiwestlichen revolutionären Avantgarde – freilich ohne deren antireligiöse Komponente.

Mit der Machtübernahme Stalins und seiner Verkündung des "Sozialismus in einem Land" schwand zunächst das sowjetische Interesse am globalen Süden. Leo Trotzki, Vordenker der Weltrevolution, wurde in Stalins Auftrag in Mexiko ermordet. Als 1943 die Komintern aufgelöst wurde, waren viele ihrer Agenten bereits in Moskau hingerichtet worden. Die KPs des globalen Südens hatten diese "Säuberungen" mit zahlreichen Parteiausschlüssen imitiert und waren stets der Moskauer Parteilinie gefolgt, die mehr und mehr sowjetische Staatsinteressen statt der Ideale des Weltkommunismus vertrat. Damit verloren die KPs in den meisten Ländern ihren ohnehin schwachen Rückhalt in der Bevölkerung. Nach sowjetischen Schätzungen gab es am Vorabend des Zweiten Weltkriegs auf dem ganzen afrikanischen Kontinent gerade einmal 5000 Kommunisten. Aber der militärische Sieg der Sowjetunion über das "imperialistische" Deutschland und der darauffolgende ideologische Konflikt mit den "kapitalistischen" USA sorgten für eine anhaltende globale Wirkmächtigkeit der Russischen Revolution im globalen Süden. Während das sowjetische System in weiten Teilen Osteuropas und in Nordkorea auf den Bajonetten der Roten Armee exportiert wurde, suchten ab Ende der 1940er Jahre lokale Eliten in Afrika, Lateinamerika und den restlichen Teilen Asiens wieder aus eigenem Antrieb Inspiration in Moskau.

In China waren sowohl Tschiang Kai Scheks nationalistische Kuomintang als auch Mao Tse-tungs KP mit sowjetischer Unterstützung nach leninistischem Vorbild geschaffen worden. Als sich Mao 1949 endgültig im Chinesischen Bürgerkrieg durchsetzen konnte, holte er Zehntausende sowjetische Spezialisten ins Land, die im umfangreichsten Entwicklungshilfeprogramm der Weltgeschichte den chinesischen Staat nach sowjetischem Muster neu erschufen. Weitere Zehntausende Chinesen erhielten ihre Ausbildung in der UdSSR und richteten nach ihrer Rückkehr das Wirtschaftssystem, das Bildungs-, Gesundheits- und Rechtswesen, die Massenmedien und auch die chinesische Architektur und Malerei am sowjetischen Vorbild neu aus. Maos Sicherheitschef Kang Sheng, selbst ein ehemaliger Komintern-Agent, der noch in den 1930er Jahren in Moskau die Methoden von Stalins Sicherheitsapparaten studiert hatte, errichtete nun das chinesische Sicherheitsministerium Gonganbu: Nach dem Vorbild des Gulag schuf er das chinesische Straflagersystem Laogai und initiierte stalinistische Säuberungen innerhalb der KP Chinas.

Von den 1950er bis in die 1980er Jahre übernahm eine ganze Reihe weiterer Staaten der sich formierenden Dritten Welt nach eigenständigen Revolutionen das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene sowjetische Gesellschaftsmodell. Ho Chin Minhs kommunistisches Nordvietnam exportierte es ab Mitte der 1970er Jahre weiter in den Süden des Landes, nachdem sich die USA zurückgezogen hatten; daraufhin auch nach Laos, und in den 1980er Jahren nach Kambodscha, wo es den Autogenozid der von China unterstützten Roten Khmer mit einer Invasion beendete. Kuba unter Fidel Castro passte sich nach einer relativ eigenständigen ersten postrevolutionären Dekade ab Ende der 1960er Jahre vollständig an das sowjetische Parteimodell an. In den 1960er und 1970er Jahren schien sich so für manche sowjetische Internationalisten zu erfüllen, was während des Stalinismus gescheitert war: "Das Echo unserer baltischen Aurora hallt um die ganze Welt", schrieb der Dichter Dmitry Kovalev, "Grüße Afrika, Grüße weit entferntes Kuba!" Südjemen und Somalia stießen in den 1970er Jahren freiwillig zum sowjetischen Lager; nach dem Zerfall des portugiesischen Kolonialreichs auch Angola, Mosambik und Guinea-Bissau.

Der umfangreichste Import von Ideen der Oktoberrevolution in die Dritte Welt erfolgte ab Mitte der 1970er Jahre in Äthiopien. Als sich der Armeegeneral Mengistu Haile Mariam nach dem Sturz des äthiopischen Kaisers Haile Selassie als neuer starker Mann des christlich-orthodox geprägten Landes etablierte, suchte er – wie schon einige seiner nichtmarxistischen Vorgänger – Unterstützung in Moskau. Um ihre Gewaltexzesse gegenüber politischen Gegnern und der hungernden einfachen Bevölkerung zu rechtfertigen, verwendeten die äthiopischen Kommunisten explizit das Vokabular des Russischen Bürgerkriegs: Kategorien wie "Roter Terror" und "Weiße Reaktion" wurden den grundsätzlich verschiedenen Gegebenheiten am Horn von Afrika übergestülpt; lokale Konflikte als Klassenkämpfe zwischen Feudalherren, Kapitalisten und Proletariat interpretiert. Noch 1984 auf dem Gründungskongress der marxistisch-leninistischen Arbeiterpartei Äthiopiens, erklärte sich diese stolz als "Erbin der Großen Oktoberrevolution".

Exportschlager Einparteienstaat

Die sozialistische Welt, deren Regime sich unmittelbar auf die Oktoberrevolution beriefen, umfasste zu Beginn der 1980er Jahre etwa ein Drittel der Weltbevölkerung. Das sowjetische Modell hatte darüber hinaus aber noch enorme Auswirkungen auf viele andere postkoloniale Staaten. Im Zuge der Dekolonisierung waren überall im globalen Süden traditionelle Quellen von Autorität und politischer Legitimität in agrarischen Gesellschaften zusammengebrochen. Für deren postkoloniale Eliten bot der leninistische Einparteienstaat einen reproduzierbaren nichtwestlichen Modellpfad zu moderner Staatlichkeit. Das Kaderprinzip verlangte höchste Disziplin und ideologische Treue von den Parteimitgliedern, die aber alle austauschbar blieben. Über lokale Parteikomitees und -zellen in Gewerkschaften, Schulen, Universitäten und Militär penetrierte und kontrollierte das Parteivolk die Gesellschaft. Der Politologe Samuel Huntington hatte schon in den 1960er Jahren diese Schaffung postrevolutionärer politischer Ordnung und moderner Staatlichkeit als die genuine Leistung des Weltkommunismus, ja als das einflussreichste politische Konzept des 20. Jahrhunderts gesehen.

In einigen multiethnischen Ländern des globalen Südens war es wohl in der Tat nur dem autoritären Sozialismus leninistischer Prägung zu verdanken, dass die zum nation building erforderliche politische Stabilität erhalten blieb. So konnten etwa Sukarno, erster Präsident von Indonesien, und Julius Nyerere, erster Regierungschef des unabhängigen Tansanias, mit der sozialistischen Rhetorik und der Organisationsleistung ihrer von Lenin inspirierten Massenparteien ethnische Konflikte im Zaum halten und somit die territoriale Integrität gewährleisten. In der ehemaligen britischen Goldküste schuf der antikoloniale ghanaische Befreiungsheld Kwame Nkrumah einen sozialistisch geprägten Einparteienstaat, der auf der Macht der Convention People’s Party basierte, und ließ sich dabei von George Padmore, dem ehemaligen Chef des kommunistischen "Negerbüros", beraten. Auch Sekou Touré, erster Präsident des unabhängigen Guineas, und Modibo Keïta, in den 1960er Jahren Staatspräsident in Mali, hatten über ihre früheren Kontakte mit europäischen KPs das sowjetische Modell kennengelernt und übernahmen mit großzügiger Unterstützung aus Moskau Elemente daraus für ihren eigenen Staatsaufbau. Hinter einer Fassade der Demokratie und sozialistischer Rhetorik erlaubte dies die zentrale Kontrolle aller entscheidenden gesellschaftlichen Systeme: von Bildung und Medien über die Wirtschaft hin zu den Sicherheitsorganen – nicht hinreichend jedoch über das Militär, das in den 1960er und 1970er Jahren viele dieser euphorischen sozialistischen Experimente beendete, aber gerne auf die geschaffenen Repressionsorgane zurückgriff. In Zaire etwa verließ sich der vom Westen gestützte Diktator Mobutu Sese Seko, trotz seines militanten Antikommunismus, ebenfalls auf ein Einparteiensystem inklusive Politbüro.

Auch in Asien und dem Nahen Osten erfreute sich das Einparteiensystem großer Beliebtheit unter postkolonialen Regimen. Nach ihrer Niederlage zog sich die leninistisch organisierte Kuomintang nach Taiwan zurück und herrschte dort bis in die 1980er Jahre als Staatspartei. Der griechisch-orthodoxe Syrer Michel Aflaq, auch er einst kommunistischer Student im Paris der 1920er Jahre, bezog sich auf die Organisationsleistung Lenins, als er 1947 die Baath-Partei aus der Taufe hob. Seit 1963 regiert sie in Syrien; später mit einem Ableger lange Zeit im Irak.

Besonders Militär und Geheimdienste vieler arabischer Staaten arbeiteten eng mit der Sowjetunion zusammen: Hafiz al-Assad, Vater Baschar al-Assads Vater, durchlief seine militärische Ausbildung in der UdSSR; ebenso sein Bruder Rifaat, der den machtvollen syrischen Sicherheitsapparat aufbaute, sowie ein beträchtlicher Teil der ägyptischen Sicherheitsorgane bis Ende der 1970er Jahre. Darüber hinaus lieferte die Sowjetunion gigantische Mengen an Waffen an befreundete Regime des globalen Südens und trug so dazu bei, dass die Gewalttradition der Oktoberrevolution fortgeführt wurde.

Schluss

Die auf die Russische Revolution projizierten Erlösungsfantasien von Intellektuellen erhielten durch die Gewaltgeschichte des Kommunismus einige Dämpfer, hielten aber fast bis zum Ende der Sowjetunion an. Noch 1978 schrieb der südafrikanische Schriftsteller und Antiapartheidaktivist Alex La Guma: "Die Oktoberrevolution 1917 öffnete eine neue Ära der Weltgeschichte (…) für die Millionen in den Entwicklungsländern, die Opfer von Kolonialismus, Unterdrückung von Nationen und Ungleichheit." Unterm Strich blieb wenig von diesen Hoffnungen auf emanzipatorische Effekte des bolschewistischen Umsturzes – weder in Russland noch im globalen Süden. Was einst als verheißungsvolle Epochenwende gefeiert wurde, erscheint aus der Warte des hundertjährigen Jubiläums eher als ein Teil katastrophaler Fehlentwicklungen, die sich aus der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs ergaben. Zu den Abermillionen Toten durch politischen Terror, Säuberungen und Hungersnöte in der kommunistischen Welt stießen weitere zahllose Opfer von Kontroll- und Planungsutopien im globalen Süden, die sicher nicht nur die Russische Revolution allein verursachte, aber dennoch nachhaltig von ihr geprägt waren.

Die auf Lenin und Bucharin zurückgehende Verbindung von Sozialismus mit staatlicher Kontrolle der Wirtschaft erwies sich als besonders verhängnisvoll für viele Länder Afrikas und Lateinamerikas. China, Vietnam und Laos hingegen zeigen heute, dass eine Verbindung von leninistischem Autoritarismus und deregulierter Wirtschaft ein tragfähiges illiberales Konzept moderner Staatlichkeit sein kann. Lenins Schatten schwebt sowohl über vielen heutigen politischen Systemen des globalen Südens als auch über antiimperialen Denkmustern, wird aber in der Regel nicht als solcher wahrgenommen. Es sieht dementsprechend nicht danach aus, als würde das hundertjährige Jubiläum der Russischen Revolution nennenswerte politische Wirkmacht entwickeln. Als zahlreiche Medien Anfang 2017 kalauernd die Rückkehr Lenins in Lateinamerika verkündeten, war das kein Hinweis auf eine erneute Verklärung der Bolschewiki. Gemeint war Lenín Moreno, frisch gebackener Präsident Ecuadors, der wie zigtausende Lateinamerikaner, Südafrikaner und Inder seiner Generation einen Namen trägt, der an die großen Hoffnungen erinnert, die die Russische Revolution jahrzehntelang im globalen Süden weckte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Manuel Maples Arce, Urbe. Súper-poema bolchevique en 5 cantos, Mexiko 1924.

  2. Siehe hierzu auch den Beitrag von Manfred Hildermeier in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  3. Dietrich Beyrau, Petrograd. Die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus, München 2001, S. 231–249.

  4. Christopher Andrews, The KGB and the World, London 2005, S. 2.

  5. Vgl. Michael Goebel, Anti-Imperial Metropolis. Paris and the Seeds of Third-World-Nationalism, Cambridge MA 2015, S. 181.

  6. Zit. nach Laxman Singh Rathore, Political Ideas of Jawaharlal Nehru, in: Sobhag Mathur/Shankar Goyal (Hrsg.), Spectrum of Nehru’s Thought, New Delhi 1994, S. 1–32, hier S. 25.

  7. Vgl. Reza Ghorashi, Marx on Free Trade, in: Science & Society 1/1995, S. 38–51, hier S. 43.

  8. Siehe Daniel Yergin/Joseph Stanislaw, The Commanding Heights, New York 1998, S. 12.

  9. Vgl. Victor Augusto Piemonte, La Internacional Comunista y los comienzos del Secretariado Sudamericano a través de la sistematización regional del proceso de bolchevización, in: Historia Crítica 64/2017, S. 101–118.

  10. Vgl. Odd Arne Westad, The Global Cold War, Cambridge 2007, S. 46–57; Steven Marks, How Russia Shaped the Modern World, Princeton 2003, S. 299–232.

  11. Siehe Zbigniew Brzezinski, Africa and the Communist World, Stanford 1963, S. 237.

  12. Nikolaj Anciverov/Sergej Polikarpov, Tebe Kuba! Stichi, Moskau 1961.

  13. Siehe Westad (Anm. 10), S. 250–287.

  14. Vgl. Samuel Huntington, Political Order in Changing Societies, New Haven 1968.

  15. Vgl. Maxim Matusevich, Africa in Russia. Russia in Africa, Trenton 2007.

  16. Alex La Guma, A Soviet Journey, Moskau 1978, S. 229.

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ist promovierter Historiker an der University of Exeter.
Seine Forschungsschwerpunkte sind Lateinamerikanische und Osteuropäische Geschichte, die Rolle von Kultur und Religion in Internationalen Beziehungen sowie wirtschaftliche Ideengeschichte.
E-Mail Link: t.rupprecht@exeter.ac.uk