Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Spiel um Weltmacht. Deutschland und die Russische Revolution | Russische Revolution | bpb.de

Russische Revolution Editorial Analogie zum Jahr 1917? Was uns die Russische Revolution über Donald Trump sagen kann Die Russische Revolution und ihre Folgen Spiel um Weltmacht. Deutschland und die Russische Revolution Die Russische Revolution und der globale Süden Erinnerung an die Russische Revolution im heutigen Russland Furcht vor dem Bolschewismus. Russland und der Westen nach der Russischen Revolution Gleichberechtigung nach 1917? Frauen in der Kommunistischen Internationale

Spiel um Weltmacht. Deutschland und die Russische Revolution

Gerd Koenen

/ 16 Minuten zu lesen

Die Rolle, die das Deutsche Reich für die Machteroberung der Bolschewiki im Oktober 1917 und für den Aufstieg der UdSSR zu einer Weltmacht eigenen, neuen Typs gespielt hat, lässt sich kaum überschätzen, allerdings leicht unterschätzen. Hitlers "treubrüchiger Überfall" (wie der damalige sowjetische Regierungschef Wjatscheslaw Molotow im Radio sagte) im Juni 1941 hat vielfach verdunkelt, wie es bis zu diesem Punkt gekommen ist. Denn tatsächlich resultierte dieser existenzielle Zusammenstoß aus einer gegenseitigen Fixierung und Abhängigkeit, die man bis auf die Anfänge einer deutsch-bolschewistischen Zusammenarbeit im Herbst 1915 zurückdatieren könnte.

Strategische Zusammenarbeit

Seit ihren Anfängen war die Partei Lenins im Parteienspektrum des Zarenreichs die am stärksten auf Deutschland orientierte Gruppierung. Das galt nicht nur für die politisch-ideologische Ausrichtung am Marxismus als einem "wissenschaftlichen Sozialismus" deutscher Prägung. Für einen erheblichen Teil des bolschewistischen Gründungskaders diente die deutsche technisch-industrielle Organisationskultur auch als Vorbild für eine durchgreifende Modernisierung ihres eigenen Landes. Die anderen russischen Sozialisten, die Sozialdemokraten der Menschewiki oder die Partei der Sozialrevolutionäre, waren dagegen eher auf angelsächsische oder französische Vorbilder orientiert.

Dass die deutschen Mehrheitssozialdemokraten als die stärkste Partei der Sozialistischen Internationale entgegen allen Schwüren beim Kriegsausbruch im Sommer 1914 für die Kriegskredite und Massenmobilisierungen ihres Landes optierten, so wie es das Gros der russischen, der französischen und der englischen Sozialisten ebenfalls taten, änderte nichts an Lenins Grundhaltung. Seine Politik des "revolutionären Defätismus", das heißt des aktiven Eintretens für "die Niederlage der Zarenmonarchie, der reaktionärsten und barbarischsten Regierung" unter allen Kriegführenden, brachte ihn unvermeidlich in eine faktische Interessengemeinschaft mit der deutschen Weltkriegsstrategie, in der die "Revolutionierung" des russischen Vielvölkerreichs eine umso zentralere Rolle spielte, je mehr sich die deutschen Armeen im Stellungskrieg festrannten. Das erst eröffnete Lenin und seiner auf wenige Tausend Gefolgsleute geschmolzenen Minipartei die reale Möglichkeit, seinen zentralen Losungen folgend "den Weltkrieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln" und "Russland aus den Angeln zu heben" – wie es ihm im Revolutionsjahr 1917 dann auch tatsächlich gelang.

Für die Berliner Reichs- und Heeresleitung war die 1915 begonnene, aktive Zusammenarbeit mit verschiedenen russischen Revolutionären nur eine Aktion unter vielen, im Erfolgsfall allerdings eine, die weiteste Perspektiven eröffnete: "Der Sieg und als Preis der erste Platz in der Welt ist aber unser, wenn es gelingt, Russland rechtzeitig zu revolutionieren und dadurch die Koalition [der gegnerischen Mächte] zu sprengen", schrieb im Dezember 1915 der Botschafter in Kopenhagen, Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau, der diese Kontakte eingefädelt hatte, in einer Denkschrift an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg.

Dass der Führer der Bolschewiki auf die verschiedenen, diskreten Anbahnungen schließlich einging, ist nicht überraschend, und im Wesentlichen ist man dabei nicht auf Vermutungen angewiesen. Eher könnte man sich wundern, in welch sensationell aufgebauschter Weise bis heute über das "deutsche Gold" geraunt und orakelt wird, das den Kitt für jenen "Teufelspakt" gebildet haben soll, der den Bolschewiki mit der Durchschleusung Lenins von seinem Schweizer Exil nach Petrograd im "plombierten Zug" im April 1917 erst den Weg zur Macht eröffnete. Aber man kann sich umgekehrt auch wundern, mit welch frommer Scheu ein Gutteil der seriösen Geschichtsschreibung diese für die Geschichte des 20. Jahrhunderts höchst bedeutsame, in ihren Grundzügen klar nachweisbare Kollusion zwischen der deutschen Reichsleitung und Lenins Exilorganisation immer wieder ins Nebensächliche abdrängt und verbannt.

Dieses geheime Einverständnis materialisierte sich weniger in den Geldtransfers und sonstigen Hilfestellungen, sondern vor allem in der Schaffung einer politischen Handlungslinie und Herstellung einer Kräftekonstellation, die Deutschland eine reale Chance auf den Sieg im Weltkrieg eröffnen und die Bolschewiki an die Macht tragen beziehungsweise dort halten würde – ein Zusammenspiel, das 1917/18 sehr reale Gestalt annahm, die weltpolitische Situation der Zwischenkriegszeit zwischen 1919 und 1933 entscheidend mitbestimmt hat und selbst mit dem epochalen Zusammenstoß von 1941 nicht endete.

Lenin hatte diese Weichenstellung im Herbst 1915 in einem Moment eingeleitet, da seine Verbindungen nach Russland zum größten Teil abgebrochen waren und er sich auf seinen winzigen Zürcher Hausstaat mit Frau, Schwiegermutter und einer Handvoll Helfern zurückgeworfen sah. Das Notizbuch seiner Frau Nadeschda Krupskaja, die sein persönliches Sekretariat bildete, enthielt 1915/16 gerade noch zwanzig operative Kontaktadressen in Russland, darunter die seiner beiden Schwestern in Petrograd.

Aber selbst unter den radikalsten europäischen Kriegsgegnern – die bei der Konferenz von Zimmerwald Anfang September 1915, wie Trotzki bemerkte, in vier Fiaker (Pferdekutschen) passten – fand Lenin sich fast völlig isoliert. Selbst die Handvoll seiner engsten Gefolgsleute konnte seinen rasenden Polemiken gegen die "Sozialpazifisten", die für ein Ende des Weltkriegs "ohne Annexionen und Kontributionen" eintraten, und seiner Vision einer Verwandlung des Weltkriegs in einen gesamteuropäischen Bürgerkrieg nicht folgen. Tatsächlich verschob Lenin damit auch schon alle hergebrachten Grundsätze und Perspektiven eines Sozialismus marxistischer Prägung, wenn er 1916 schrieb: "Wer "eine ‚reine‘ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben." Neben den Kämpfen von Fabrikarbeitern, vor allem in den Zentren der Rüstungsindustrien, seien als Folge des Weltkriegs vielmehr zu erwarten: weltweite Aufstände unterdrückter Nationen und Nationalitäten; Angriffe halbproletarischer bäuerlicher Massen gegen Grundeigentümer und Kirche; Soldatenmeutereien gegen sämtliche Gewalten; sowie Rebellionen kleinbürgerlicher Schichten mit all ihren "reaktionären Phantastereien", wie sie in Russland von den antisemitischen Pogromisten der "Schwarzhunderter", im Westen von den entstehenden, vorerst noch namenlosen "faschistischen" Bewegungen vertreten wurden.

Die Bolschewiki, hieß das, mussten diejenigen sein, die bereit wären, den Tiger all der "dunklen", anarchischen, vielleicht sogar reaktionären Leidenschaften der Massen zu reiten, ihnen sogar die Sporen zu geben, um die alte Welt, die sich gerade zerfleischte, endgültig in Trümmer zu legen und inmitten dieses Tumults im eigenen Namen und ihrer geschichtlichen Mission folgend nach der Macht zu greifen.

Lenins Weg zur Macht

Unmittelbar nach Zimmerwald traf Lenin sich mit Alexander Helphand, einem Führer der Russischen Revolution von 1905, der den Plan einer Zusammenarbeit mit dem exilierten Bolschewikenführer an die deutsche Reichsleitung herangetragen hatte und auch öffentlich für ein "Bündnis von preußischen Bajonetten und russischen Proletarierfäusten" zum Sturz des Zarentums eintrat. Später behauptete Lenin, diesen alten Bekannten nach kurzer, heftiger Debatte "mit dem Schwanz zwischen den Beinen" hochkant hinausgeworfen zu haben. Das mag so gewesen sein – oder auch nicht. Jeder sichtbare Kontakt war natürlich hochriskant.

Aber gleich danach schickte Lenin Jakub Hanecki nach Kopenhagen, der seit seiner Krakauer Exilzeit vor 1914 so etwas wie der Majordomus seines verbliebenen kleinen Partei- und Hausstaats war. Schon im Oktober 1915 nahm dieser unter seinem Familiennamen Fürstenberg als Teilhaber und Geschäftsführer an der Gründung einer ins Kopenhagener Handelsregister eingetragenen Import-Export-Firma teil, die Helphand zusammen mit dem professionellen Handelsagenten des Berliner Generalstabs und deutschen Sozialdemokraten Georg Sklarz initiiert hatte. Alles war offensichtlich vorbereitet und besprochen. Und Hanecki war keine randständige Figur. Der Sohn einer Bankiersfamilie war seit 1912 der umsichtige Organisator aller Finanzoperationen Lenins und seiner Partei bis zu dessen Rückkehr nach Russland im April 1917 – eine Fahrt, die ebenfalls von Helphand und Hanecki eingefädelt und begleitet wurde. Nach der Oktoberrevolution wurde er erster Chef der Zentralbank und Organisator des Außenhandelsmonopols der Sowjetrepublik sowie Hüter des für weltrevolutionäre Zwecke gehorteten Schatzes im Keller des Moskauer Kreml. 1937 würde Stalin ihn wie alle überlebenden Teilnehmer und Zeugen dieser deutsch-bolschewistischen Zusammenarbeit erschießen lassen.

Über die weitgespannten und wegen des Blockadebruchs äußerst gewinnträchtigen Transaktionen des Kopenhagener Handelskontors, und nicht über direkte Geldtransfers aus den Reptilienfonds der deutschen Reichsregierung, dürfte das Gros der Finanzierungen bis zum April 1917 gelaufen sein. Ebenso wichtig oder noch wichtiger waren vermutlich aber die konspirativen Verbindungswege als solche, die allein den Zusammenhalt von Exilführung und Inlandskader sichern konnten. Die "Geschäftspartner" in Petrograd waren ebenfalls Bolschewiki, die dort diverse Tarnfirmen unterhielten und die Überschüsse aus den Verkäufen der Schmuggelware (von Kondomen bis Bleistiften) abzweigten und auf Konten leiteten, die der aus polnischem Adel stammende Rechtsanwalt Mieczysław Kozłowski (später ein Mitglied des Tscheka-Kollegiums und Obersten Revolutionstribunals) für die Petrograder Parteiorganisation verwaltete – die davon unter anderem ihre Untergrunddruckerei unterhielt.

Keine besonderen Geheimnisse bieten auch die Modalitäten der Durchschleusung Lenins und mehrerer Schübe russischer Kriegsgegner in "plombierten" Sonderzügen im April und Mai 1917, nachdem Zar Nikolaus II. Wochen zuvor durch eine große Volksrevolution – an der die Bolschewiki so gut wie keinen Anteil gehabt hatten – gestürzt worden war. Wie eng und interessiert die deutsche Seite die Entwicklung verfolgte, zeigt die Vollzugsmeldung des Residenten der deutschen Abwehr in Stockholm, die die Oberste Heeresleitung am 17. April an das Auswärtige Amt weiterleitete: "Eintritt Lenins nach Russland geglückt. Er arbeitet völlig nach Wunsch." Das besagte sehr wenig über Lenin, umso mehr aber über die Interessen der deutschen Seite – mit denen Lenin seinerseits revolutionäre Politik machen konnte.

Der Zusammenfall der deutschen imperialen Interessen und der Interessen Lenins war im Revolutionsjahr 1917 weder für Freund noch Feind zu übersehen. Schon bei seiner Ankunft auf dem Finnischen Bahnhof hatte Lenin in seinen "April-Thesen" jede Unterstützung der neuen, demokratischen, aus Sozialisten und Liberalen gebildeten und von den Führern des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrats unterstützten Koalitions-Regierung verweigert und stattdessen bedingungslose Opposition geschworen. Von noch größerem Gewicht als alle sozialen Agitationen, mit denen die Bolschewiki inmitten des allgemeinen wirtschaftlichen Zusammenbruchs die Betriebsbesetzungen der Arbeiter und wilden Landnahmen der Bauern unterstützten und anheizten, war ihre Gegnerschaft gegen die Friedensbemühungen des Petrograder Sowjet. Dieser hatte den Mittelmächten schon gleich nach seiner Konstituierung einen "Frieden ohne Annexionen und Kontributionen" angeboten und auch die westlichen Alliierten aufgefordert, sich dem anzuschließen. Aber da weder die einen noch die anderen darauf eingingen, sondern stattdessen für neue Entscheidungsschlachten rüsteten, traten Sowjet wie Regierung für eine Politik des "revolutionären Defensismus" ein. Im Klartext hieß das: Gewehr bei Fuß zu stehen, die eigenen Fronten nicht zu entblößen und ein chaotisches Auseinanderfallen der Armee bis zu einem allgemeinen Waffenstillstand zu verhindern.

Dieses Auseinanderfallen hatte jedoch längst begonnen: Die Welle von Offiziersmorden und Massendesertionen, die schon im April 1917 einsetzte, entsprang der miserablen Versorgung, der quälenden Untätigkeit, den grassierenden Gerüchten über konterrevolutionäre Verschwörungen sowie dem Wunsch der bäuerlichen Soldaten, bei der Landverteilung im Dorf dabei zu sein. Aber teilweise hatte dieser spontane "Schützengraben-Bolschewismus" auch schon mit der politischen Agitation der Bolschewiki zu tun, die sich einen schlagkräftigen Druck- und Presseapparat aufgebaut hatten und gerade auch unter Soldaten und Unteroffizieren neuen Anhang gewannen. Sie behaupteten, die Provisorische Regierung sei nichts als ein williges Instrument der imperialistischen Mächte des Westens und habe nur deshalb den Zaren beseitigt, um den Krieg verstärkt fortzusetzen.

"Verbrüderung" hieß eines der Stichworte in Lenins "April-Thesen", mit denen er seine Partei gleich nach seiner Rückkehr auf eine völlig neue revolutionäre Perspektive ausrichtete. Diese "Verbrüderung" gab es bereits an den Fronten – allerdings in sehr einseitiger Art und Weise. Tausende Soldaten waren, von deutschen Flugblättern eingeladen, mit weißen Fahnen auf die deutsche Seite hinübergegangen, wo Marketenderwagen mit Wodka, Zigaretten und Bordellen lockten. Deutsche Propagandaoffiziere, oft Sozialdemokraten, kamen, ebenfalls mit weißen Fahnen, auf die russische Seite hinüber, ließen Zeitungen in russischer Sprache und mit Titeln wie "Towarisch" (Genosse) zirkulieren und sagten den Soldaten, sie sollten nicht länger für die imperialistischen Interessen Frankreichs und Englands ihr Blut vergießen. Dasselbe forderten die bolschewistischen Zeitungen und Flugblätter.

Als der neue Regierungschef, der Sozialrevolutionär Alexander Kerenski, im Juni 1917 versuchte, den Zerfall zu stoppen, indem er nach dem Vorbild der Französischen Revolution "das Vaterland in Gefahr" erklärte und eine Offensive einleitete, endete das in einem Desaster. Die verlustreichen Rückzüge der unter roten Fahnen angetretenen russischen Armeen – gefolgt von neuen deutschen Vormärschen – bedeuteten nicht nur den Anfang vom Ende der Provisorischen Regierung, sondern den Zerfall der demokratischen Massenbewegungen überhaupt.

Die Revolution wurde zur Involution, zum Kollaps aller inneren Organe des Staates und der Gesellschaft. Inmitten dieses in Hunderte kleiner und großer "Republiken" zerfallenden Imperiums konnten die Bolschewiki – die es als eine Protest- und gleichzeitig Ordnungspartei in den letzten demokratischen Wahlen im Oktober/November 1917 auf ein knappes Viertel der Stimmen brachten – in Petrograd, Moskau und einigen anderen russischen Städten die Staatsmacht an sich reißen. Dafür brauchten sie, da es kaum Gegenwehr gab, nur kleine Kontingente von Garnisonstruppen und Roten Garden.

Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg

Die Machteroberung der Bolschewiki vollzog sich unter dem einhelligen Beifall der deutschen Öffentlichkeit, zumal sie an der Front Züge einer einseitigen Kapitulation der russischen Armeen trug. Die offiziöse "Norddeutsche Allgemeine Zeitung" meldete: "Das Ziel, für das das Volk kämpfte, nämlich Vorschlag eines sofortigen demokratischen Friedens, Aufhebung des Rechtes der Grundeigentümer, Land zu besitzen, Aufsicht der Arbeiter über die Erzeugung und Bildung einer Regierung des Arbeiter- und Soldatenrates, ist gesichert." Der sozialdemokratische "Vorwärts" schrieb: "Die maximalistische Regierung schafft Ordnung", und stellte Lenin den Lesern in einer biografischen Skizze näher vor, die mit den wohlwollenden Worten endete: "Einen solchen Charakter braucht jetzt die russische Arbeiterklasse, wenn sie ihre historischen Forderungen erfüllt sehen will."

Der neue Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Richard von Kühlmann, erklärte in einer Niederschrift für den Vortrag beim Kaiser am 3. Dezember 1917: "Erst die Mittel, die den Bolschewiki auf verschiedenen Kanälen und unter wechselnder Etikette von unserer Seite dauernd zuflossen, haben es ihnen ermöglicht, die ‚Prawda‘, ihr Hauptorgan auszugestalten und die anfangs schmale Basis ihrer Partei stark zu verbreitern. Die Bolschewiki sind nun zur Herrschaft gelangt; wie lange sie sich an der Macht halten können, ist noch nicht zu übersehen. Sie brauchen zur Befestigung ihrer eigenen Stellung den Frieden; und auf der anderen Seite haben wir alles Interesse daran, ihre vielleicht nur kurze Regierungszeit auszunutzen."

Dagegen erklärte der General Erich Ludendorff jedem, der es hören wollte: "Die russische Revolution ist kein Glücksfall für uns gewesen, sondern die natürliche und notwendige Folge unserer Kriegsführung." Für die Großoffensive im Frühjahr 1918 in Frankreich, mit der er eine militärische Entscheidung zu erzwingen hoffte, bevor die amerikanische Verstärkung eintraf, forderte er im Osten "klare Verhältnisse (…) und schnelles Handeln": großflächige Okkupationen der baltischen Gebiete und der ostpolnischen Gebiete, separate Verhandlungen mit den Ukrainern, die sich gerade für unabhängig erklärt hatten, und ein klares Diktat gegenüber den Bolschewiki, die er als bloße Glücksritter und bezahlte Marionetten für eine kurze Übergangsperiode ansah.

Die überspannten Selbsteinschätzungen der Politiker und Militärs in Berlin fanden ihr genaues Pendant in den dramatischen, teilweise panischen Lageeinschätzungen und Ausblicken der Alliierten, die fest davon überzeugt waren, dass die Machteroberung der Bolschewiki eine "deutsche Revolution auf russischem Boden" gewesen sei. Dem britischen Generalstabschef William Robertson zufolge würde ein effektiver deutsch-bolschewistischer Separatfrieden die Aussichten auf einen alliierten Sieg im Jahre 1918 – trotz der amerikanischen Truppen – zunichtemachen.

Die Verkündung der "14 Punkte" durch US-Präsident Woodrow Wilson am 8. Januar 1918 war denn auch vorrangig von dem Bemühen diktiert, die Verhandlungen in Brest-Litowsk zwischen der bolschewistischen Räteregierung und den Mittelmächten zu torpedieren. Wilson erkannte die einseitige Machtusurpation der Bolschewiki – die gerade dabei waren, die frei gewählte Verfassungsgebende Versammlung auseinanderzujagen – de facto an und ignorierte völlig die Unabhängigkeitserklärungen der nichtrussischen Republiken. Während er den politischen Preis für das Deutsche, das Habsburgische und das Osmanische Reich bis zur drastischen Amputation oder völligen Auflösung ihrer Staatsverbände mittels des Selbstbestimmungsrechts ihrer Völker erhöhte, verlangte er den Kolonialmächten in Paris und London wenig ab, die im Gegenteil zu den designierten Mandats- und Garantiemächten der neuen Weltordnung und des neu zu gründenden "Völkerbunds" wurden.

Lenin ließ sich von diesen Sirenengesängen nicht beirren. Dass der Waffenstillstand und die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk den Mittelmächten in dem auf Messers Schneide stehenden Weltkonflikt einen enormen Vorteil verschafften, war ihm selbstverständlich klar. Er nahm das nicht nur in Kauf, sondern seine Regierung verschärfte die Situation durch die einseitige Kündigung aller Bündnisverträge, die Kassierung der riesigen Kriegs- und Vorkriegsschulden Russlands sowie die Veröffentlichung der "Geheimabkommen" über die alliierten Kriegsziele, was den deutschen Darstellungen über die Ursachen des Kriegs – nämlich den Wunsch der westlichen Mächte, das Deutsche, das Habsburger und das Osmanische Reich niederzuhalten oder aufzuteilen – weit entgegenkam.

Obwohl Lenin in seiner eigenen Partei und Regierung anfangs mit dieser Politik fast völlig allein stand, suchte er nicht nur ein stilles, taktisches Bündnis, sondern eine enge, durch eine Reihe von Zusatzverträgen sanktionierte Verbindung mit dem preußisch-deutschen Kaiserreich, trotz dessen weiträumigen Landnahmen in den ehemaligen westlichen Reichsgebieten Russlands, vom Baltikum bis zur Ukraine. Zwar konnte er allen innerparteilichen Gegnern des Diktatfriedens plausibel vorrechnen, was ein revolutionärer Widerstandskrieg bedeutet hätte. Aber die Kosten der Unterschrift waren noch ungleich höher: Die eben geschlossene Koalition mit den linken Sozialrevolutionären zerbrach; der Bürgerkrieg entbrannte jetzt an allen Fronten; das Land, auch Zentralrussland selbst, zerfiel; und die Alliierten sahen sich legitimiert, die Häfen im Norden, Süden und Osten Russlands zu besetzen, um zu verhindern, dass die dort gelagerten Waffenarsenale und Nachschubdepots den Deutschen in die Hände fielen.

Umgekehrt hätte Lenins Regime, wenn es sich dem deutschen Diktat verweigert hätte, die Unterstützung der eben unterdrückten Oppositionsparteien zurückgewinnen und sich womöglich sogar der Loyalität eines Großteils der städtischen Bürgerschaften versichern können. Genau das war der Grund, warum er diesen Weg nicht ging, sondern stattdessen den eines kompromisslos geführten, internen Bürgerkriegs, der sich nicht auf die Niederschlagung der aktiven "weißen" Gegner beschränkte, sondern mit den Mitteln eines neuartigen, zugleich physischen und sozialen, in diesem Sinne "totalitären" Terrors den Widerstand aus allen Schichten der Bevölkerung, einschließlich der organisierten Arbeiterschaften, brach und zerschlug.

Mehr noch: Im Mai 1918, während die ausgedünnten deutschen und österreichischen Truppen, ohne auf Widerstand zu stoßen, durch die ganze Ukraine hindurch und bis zum Don vorstießen, gab er die vieldeutige Parole aus: "Lerne vom Deutschen!"; Deutschland vertrete nicht nur "den bestialischen Imperialismus, sondern auch das Prinzip der Disziplin, der Organisation, des harmonischen Zusammenwirkens auf dem Boden der modernsten maschinellen Industrie, der strengsten Rechnungsführung und Kontrolle". Die Aufgabe der Bolschewiki sei es, "vom Staatskapitalismus der Deutschen zu lernen, ihn mit aller Kraft zu übernehmen", so wie Peter der Große "die Übernahme der westlichen Kultur durch das barbarische Russland beschleunigte, ohne dabei vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei zurückzuschrecken".

Umsturz der Versailler Weltordnung

Die Leninsche Frage "Wer wen?", das heißt wer letztlich wen für sich eingespannt hatte, beantwortete sich im Spätsommer 1918 beim Zusammenbruch der deutschen Fronten in Frankreich. Das deutsche Kaiserreich hatte den Bolschewiki mit zur Macht verholfen und sie in einer entscheidenden ersten Phase aktiv gestützt – und hatte durch die Überdehnung seiner Besatzungsgebiete im Osten entscheidend zur eigenen Niederlage beigetragen, die sich im Westen vollzog. Die Bolschewiki dagegen konnten sich nicht nur in Kernrussland behaupten, sondern im Feuer eines langen Bürgerkriegs einen neuen multinationalen Machtkader schmieden und auf dem Boden des alten zarischen Vielvölkerreichs einen neuen Suprastaat, eine "Union sozialistischer Sowjetrepubliken", gründen.

Mehr als das: Inmitten des globalen Zusammenbruchs der Weltordnung am Kriegsausgang konnten sie eine Kommunistische Internationale (Komintern) als eine einheitliche, von der Moskauer Zentrale dirigierte bolschewistische "Weltpartei" ins Leben rufen, die der globalen Umwandlung des Weltkriegs in einen Weltbürgerkrieg dienen sollte. Über alle sozialen Konflikte hinaus war sie als eine Art "Gegen-Völkerbund" konzipiert, der zusammen mit einer aktiven sowjetischen Außenpolitik ein Bündnis mit allen möglichen nationalrevolutionären und revisionistischen Bestrebungen schmieden und so die von den westlichen Siegermächten dominierte "Versailler Weltordnung" zu Fall bringen sollte.

Zwar blieb der Einfluss der überall entstehenden, von Moskau geführten und finanzierten kommunistischen Kampfbünde und Kaderparteien auf die modernen Sozialbewegungen und Klassenkämpfe des Zeitalters beschränkt, trotz der rasenden Nachkriegsinflation und der 1929 beginnenden kapitalistischen Weltwirtschaftskrise. Die neue sowjetische Führung um Stalin konnte aber die Widersprüche zwischen den "alten" (hegemonialen) und den "neuen" (revisionistischen) Mächten aktiv nutzen, um mal mit der einen und mal mit der anderen Seite eine eigene Weltpolitik zu betreiben, allen voran mit dem besiegten und "geknebelten" Deutschen Reich. Hitler war es, der 1933 die mehr als zehnjährige konspirative Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee beendete, nur um im August 1939 durch einen neuen Pakt mit Stalin den Zweiten Weltkrieg gegen den Westen zu eröffnen.

Wenn Stalin dem Chef der Komintern, Georgi Dimitroff, Tage nach Kriegsbeginn erklärte, Hitler werde eine Zeitlang "gute Dienste bei der Zerschlagung des Weltkapitalismus" tun, dürfte er sich ganz auf der Linie von Lenins kühner Nutzung des vergeblichen deutschen Griffs nach Weltmacht gesehen haben. Nur waren Hitlers Visionen eines arisch-germanischen Weltreichs Pläne ganz anderen, wahnwitzigeren Formats – die sich im Juni 1941 mit einer verheerenden Wucht gegen die überrumpelte Rote Armee richteten.

Nicht proletarische Klassenkämpfe haben somit den Weg für die Serie kommunistischer Machteroberungen und Staatsgründungen im 20. Jahrhundert eröffnet, die schließlich "von der Elbe bis zum Jangtse", von Osteuropa und Jugoslawien über Vietnam und Korea bis nach China reichten, sondern die beiden imperialistischen Weltkriege, die – wie Lenin jedenfalls begriffen hat – Weltrevolutionen eigener, monströser Art gewesen sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für übergreifende Darstellungen siehe Gerd Koenen, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945, München 2005.

  2. Wladimir I. Lenin, Der Krieg und die russische Sozialdemokratie, in: Lenin Werke (LW), Bd. 21, Berlin (Ost) 1960, S. 19.

  3. Brockdorff Rantzau an Bethmann Hollweg, 6.12.1915, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA-AA), Deutschland Nr. 131, Bd. 18, Bl. 97–100.

  4. Sebastian Haffner, Der Teufelspakt. Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, München 2002.

  5. Vgl. Robert Service, Lenin. Eine Biographie, München 2000, S. 311f.

  6. Wladimir I. Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, in: LW, Bd. 22, Berlin (Ost) 1960, S. 363f.

  7. Siehe hierzu Michael Futrell, Northern Underground, London 1963, S. 145.

  8. Das Telegramm findet sich im Original reproduziert im Katalog des Museums für Kommunikation Berlin, Netze des Krieges. Kommunikation 14/18, Dok. 5. Zu den Umständen der Reise siehe Werner Hahlweg (Hrsg.), Lenins Rückkehr nach Russland 1917: Die deutschen Akten, Leiden 1957.

  9. Zit. nach Alfred Opitz, Die russische Revolution des Frühjahrs 1917 im Echo führender Tageszeitungen des zeitgenössischen Deutschland, in: Osteuropa 4/1967, S. 235–257.

  10. Zit. nach Maschinenschriftl. Ausarbeitung mit handschriftl. Verbesserungen, 3.12.1917, gezeichnet: St.S. (wohl "Staatssekretär"), in: PA-AA, Deutschland Nr. 131, Geh. (Geheim), Bd. 18, Bl. 112ff.

  11. Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914–1918, Berlin 1919, S. 448.

  12. Vgl. Werner Baumgart, Deutsche Ostpolitik, Wien–München 1966, S. 45f.

  13. Wladimir I. Lenin, Die Hauptaufgabe unserer Tage, in: LW, Bd. 27, Berlin (Ost) 1960, S. 150.

  14. Ders., Über "Linke" Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit, in: ebd., S. 333.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Gerd Koenen für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist promovierter Historiker und Publizist. Im September 2017 erscheint sein Werk "Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus".
E-Mail Link: gerd.koenen@t-online.de