Einleitung
Wer zehn Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit eine Bilanz der wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Wandlungsprozesse in Ostdeutschland ziehen will, wird sich um Ausgewogenheit bemühen. Er wird die Erfolge bei der Übertragung des westdeutschen Verwaltungs-, Rechts- und Politiksystems auf Ostdeutschland, bei der wirtschaftlichen Restrukturierung Ostdeutschlands sowie bei der Angleichung der materiellen Lebensverhältnisse zwischen Ost und West würdigen und zugleich darauf hinweisen, dass noch vieles zu tun bleibt. Möglicherweise wird er den Akzent seines Resümees auch stärker auf die negativen Aspekte des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses legen: auf das niedrige wirtschaftliche Wachstum im Osten Deutschlands, auf die geringe Akzeptanz von Marktwirtschaft und Demokratie in der Bevölkerung der ehemaligen DDR oder auf das Gefühl der Ostdeutschen, im wieder vereinigten Deutschland nicht gleichberechtigt zu sein. Aber auch in diesem Falle wird er nicht umhin können, die andere Seite der Medaille zu sehen: die enorme Erhöhung des Lebensstandards der ostdeutschen Bevölkerung, die Milliardentransfers von West nach Ost, die Verbesserung der staatlichen Sozialleistungen und nicht zuletzt auch die steigende Lebenszufriedenheit der Ostdeutschen.
Und dennoch. Irgend etwas an dieser ausgewogenen Bilanz stimmt nicht. Man kann die Erfolge des deutsch-deutschen Wiedervereinigungsprozesses mit Zahlen belegen, aber Euphorie oder Gefühle des Stolzes wollen sich nicht einstellen. Dabei waren es doch genau solche Gefühle der Begeisterung, mit denen die Ostdeutschen in die deutsche Einheit hineingegangen sind. Erinnern wir uns: Im Herbst 1989 gingen die Menschen in Leipzig, Dresden, Berlin und anderswo auf die Straße, um für mehr Demokratie und Freiheit zu demonstrieren. Nach dem Fall der Berliner Mauer jubelten sie und riefen "Wir sind ein Volk!". Im März 1990 wählten sie diejenige Partei, die ihnen den schnellsten Weg zur deutschen Einheit versprach. Zu dieser Zeit waren soziale Marktwirtschaft und liberale Demokratie in der ostdeutschen Bevölkerung hoch akzeptiert
Natürlich ist ein solches sich aus dem Kontrast speisendes Negativbild alles andere als gerecht. Die Lage ist viel besser als die Stimmung. Eine ausgewogene Bilanz der deutsch-deutschen Wiedervereinigung verlangt mehr Sachlichkeit und Nüchternheit, als in den Befindlichkeiten der Ostdeutschen zum Ausdruck kommt. Und so soll denn in diesem Aufsatz auch die These vertreten werden, dass es den Menschen in den neuen Bundesländern heute nicht nur wesentlich besser geht als vor zehn Jahren, sondern dass sie auch wesentlich zufriedener sind als damals, dass die Ostdeutschen zwar an der praktizierten Demokratie Kritik üben, aber insgesamt demokratisch eingestellt sind, dass sie zwar über einen Mangel an Gleichberechtigung zwischen Ost und West klagen, sich aber als Ostdeutsche mehrheitlich durchaus anerkannt fühlen. Mit einem Satz: Die Ostdeutschen sind in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit angekommen, sie akzeptieren sie und wollen keine andere Republik.
Zugleich wird man die gedrückte Stimmungslage im Osten Deutschlands ernst nehmen müssen. Auch wenn man die Ostdeutschen auffordert, ihre Wehleidigkeit endlich aufzugeben und dankbar auf das in den letzten zehn Jahren Geleistete zurückzublicken, hat man damit ihre Befindlichkeit noch nicht geändert. Vielleicht hat die schlechte Stimmungslage im Osten Deutschlands ja auch einen rationalen Kern, den es herauszufinden gilt. Eine differenzierte Beurteilung des gegenwärtigen Standes der deutsch-deutschen Vereinigung jedenfalls sollte sich um eine Analyse der Erfolge und der Misserfolge dieses Prozesses bemühen, und zu den nicht vorhergesehenen Misserfolgen gehört zweifellos auch die sich hartnäckig haltende Verdrossenheit vieler Ostdeutscher im vereinten Deutschland.
Für eine solche differenzierte Analyse des gegenwärtigen Standes der deutsch-deutschen Wiedervereinigung dürfte es sinnvoll sein, zwischen unterschiedlichen Bereichen des sozialen Wandels zu unterscheiden. Im Rahmen dieses Beitrages sei auf den Wandel der allgemeinen ökonomischen Lage, den der individuellen materiellen Lebensbedingungen sowie auf die mentalen Aspekte des Wiedervereinigungsprozesses eingegangen.
I. Zum Wandel der allgemeinen ökonomischen Lage
Was die Beurteilung der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage nach 1989 in Ostdeutschland angeht, so ist die Bilanz eher negativ. Unmittelbar nach Einführung der D-Mark sank die Industrieproduktion im Jahr 1990 um etwa zwei Fünftel und fiel in der ersten Hälfte 1991 noch weiter ab
Angesichts des beachtlichen Produktionseinbruches in Ostdeutschlands überrascht es nicht, dass auch die Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands hoch ist. Sie liegt seit 1991 deutlich über dem westdeutschen Wert und macht heute etwa das Doppelte der westlichen Arbeitslosenquote aus. Bezieht man die verdeckte Arbeitslosigkeit, in die auch die Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen eingehen, in die Betrachtung mit ein, so sind fast 30 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung Ostdeutschlands arbeitslos.
Als positiver Faktor ist zwar zu sehen, dass es einen umfangreichen privaten Kapitalzufluss aus dem Westen gab, der mit großem Abstand über dem Niveau in anderen Transformationsländern liegt. Dennoch ist es in den letzten Jahren nicht zu einem sich selbst tragenden wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundesländern gekommen.
II. Zum Wandel der individuellen materiellen Lebensbedingungen
Subjektiv geht es den meisten Menschen in Ostdeutschland heute deutlich besser als vor zehn Jahren. Das Vermögen der Haushalte hat sich in diesem Zeitraum fast verdreifacht. Auch das Haushaltseinkommen ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Es liegt aber noch immer unter dem westlichen Durchschnittsniveau. Während in den neuen Ländern und in Berlin-Ost 44,6 Prozent der Haushalte monatlich über 3 000 DM verfügen, sind es im früheren Bundesgebiet 54 Prozent der Haushalte, denen so viel Geld zur Verfügung steht
Es ist kein Zufall, dass sich die Verbesserung der individuellen Lebenslage auch in der Entwicklung der Lebenszufriedenheit widerspiegelt. Die meisten Ostdeutschen sagen, dass es ihnen materiell heute besser gehe als vor der Wende. Dabei erfolgte der Stimmungsumschwung in den Jahren 1992/93. Ein Jahr nach der Wende hielt sich der Anteil derer, die von sich behaupteten, es gehe ihnen heute wirtschaftlich besser als vor 1989, mit dem Anteil derer, die das verneinten, noch in etwa die Waage
Dabei ist die Verbesserung der subjektiven Lebensbedingungen in Ostdeutschland nicht allein auf die ökonomischen Anstrengungen der Ostdeutschen zurückzuführen, sondern zu einem großen Teil auch das Ergebnis der Transferzahlungen von West nach Ost, die sich in der Zeit zwischen 1991 und 1998 auf mehr als eine Billion DM belief. Dies wird deutlich, wenn man sich die Verteilung der Posten ansieht, für die die Transfergelder verwendet wurden. Der Hauptteil dieser Gelder floss in den Bereich der Sozialleistungen und diente damit unmittelbar der Konsumtion. Nur ein schmaler Anteil von 17,5 Prozent wurde 1998 für Investitionen ausgegeben
Das größte Problem im Hinblick auf die individuellen Lebensbedingungen besteht zweifellos in der Arbeitslosigkeit. Nach dem Zusammenbruch der DDR kam es zur Aussteuerung von drei Millionen Erwerbstätigen aus dem Erwerbsleben. Waren 1989 noch 9,6 Millionen Ostdeutsche erwerbstätig, so sind es heute nur noch etwas mehr als 6,5 Millionen
Fasst man die Angaben zur subjektiven materiellen Lebenssituation zusammen, so muss man feststellen, dass sich im Osten Deutschlands in den letzten Jahren diesbezüglich eine deutliche Verbesserung vollzogen hat. Trotz der enormen Anhebung des Wohlstandsniveaus ist jedoch nach wie vor eine materielle Schlechterstellung der Ostdeutschen gegenüber den Westdeutschen zu konstatieren. Die Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland sind den Ostdeutschen übrigens genauso bewusst wie die Verbesserung ihrer Lebenslage. Auf die Frage, ob es zwischen Ost- und Westdeutschland bereits eine Gleichberechtigung gäbe, antworten 78 Prozent mit Nein
III. Zum Wandel der politischen und sozialen Einstellungen
Nachdem wir uns kurz mit dem Wandel der objektiven ökonomischen Bedingungen und der Veränderung der subjektiven Lebensbedingungen beschäftigt haben, wenden wir uns nun ausführlicher der Frage zu, welches Verhältnis die Ostdeutschen zu dem neuen politisch-rechtlichen System der Bundesrepublik insgesamt haben. Wie beurteilen sie die bundesdeutsche parlamentarische Demokratie, die Marktwirtschaft, den Rechtsstaat? Identifizieren sie sich mit dieser gesellschaftlichen Ordnung? Hier werden von vielen Sozialwissenschaftlern die größten Probleme im Prozess der deutsch-deutschen Vereinigung gesehen
Tatsächlich scheint die Akzeptanz der westlichen Institutionenordnung in der ostdeutschen Bevölkerung alles andere als hoch zu sein. Das Vertrauen in die Parteien und die Bundesregierung, die Gerichte und die Polizei liegt deutlich unter dem Niveau in Westdeutschland. Die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland bewegt sich im Osten Deutschlands konstant unter dem westlichen Niveau, und selbst die Marktwirtschaft ist nicht als effizientes System geschätzt. Dabei gehörten Marktwirtschaft und Demokratie als die beiden Kernelemente der modernen westlichen Gesellschaft zu denjenigen Institutionen, die unmittelbar nach dem Zusammenbruch des DDR-Sozialismus die höchste Akzeptanz erfuhren. 1990 hatten noch 77 Prozent der Ostdeutschen eine gute Meinung vom Wirtschaftssystem in der Bundesrepublik, heute sind es nur noch 23 Prozent, die eine solche Meinung vertreten
Gewiss, man wird diese Zahlen nicht überinterpretieren dürfen. Auch wenn das marktwirtschaftliche System der Bundesrepublik inzwischen skeptisch betrachtet wird, entscheidet sich die Mehrheit - vor die Wahl gestellt, ob sie eher ein marktwirtschaftliches oder ein planwirtschaftliches System präferiere - eindeutig für die Marktwirtschaft
Dennoch bleibt in der Akzeptanz des politischen Institutionensystems zwischen Ost- und Westdeutschen eine Differenz, die es zu erklären gilt. Woran liegt es, dass die Ostdeutschen mit dem Funktionieren der bundesrepublikanischen Demokratie weniger zufrieden sind als die Westdeutschen? Hat dies damit zu tun, dass die sozialisatorischen Prägungen, die die Ostdeutschen in der DDR erfahren haben, noch immer weiterwirken, oder damit, dass sie materiell schlechter als ihre westlichen Landsleute gestellt sind? Man könnte die vergleichsweise große Unzufriedenheit mit der Demokratie auch darauf zurückführen, dass sich die Ostdeutschen nicht anerkannt fühlen und das Gefühl des eigenen Missachtetwerdens umsetzen in eine Abwehr derjenigen Ordnung, innerhalb derer ihnen die Achtung versagt wird. Ebenso könnte man die These aufstellen, dass die geringere Demokratiezufriedenheit im Osten Deutschlands mit den sozialen Ungleichheiten zwischen Ost und West zusammenhängt. Möglicherweise ist sie aber auch darauf zurückzuführen, dass man diese Ordnung einfach nicht als effizient und leistungsfähig erlebt. Um diesen vielfachen, teilweise eng miteinander verzahnten Fragen nachzugehen, wollen wir die unterschiedlichen Faktoren, auf die die Demokratieunzufriedenheit im Osten Deutschlands zurückgeführt werden könnte, zunächst einzeln behandeln.
1. Das Erbe des Sozialismus
Um das Weiterwirken in der DDR erfahrener Prägungen abschätzen zu können, bedienen wir uns eines häufig benutzten Indikators: der Frage, ob der Sozialismus im Grunde eine gute Idee war, die nur schlecht ausgeführt wurde. Betrachten wir, wie sich die Zustimmung zur Idee des Sozialismus im Zeitverlauf verändert hat, so müssen wir feststellen, dass die Zustimmung zu dieser Idee nicht nur unmittelbar nach dem sozialen Umbruch in Ostdeutschland hoch war, sondern auch in den darauffolgenden Jahren hoch geblieben ist (vgl. Grafik 2).
Zwischen Ost- und Westdeutschland bewegt sich die Differenz der Zustimmungswerte durchweg bei etwa 40 Prozentpunkten. Die Bedeutung dieser hohen Zustimmung zur Idee des Sozialismus sollte man freilich nicht überbewerten, denn in ihr drückt sich auch eine Verteidigung der in Misskredit geratenen eigenen Vergangenheit aus - etwa nach dem Motto: Die Idee war gar nicht so schlecht, auch wenn die Umsetzung, wie wir heute wissen, weitgehend misslungen ist. Fragt man die Ostdeutschen, ob sie mit dem real existierenden Sozialismus, wie er in der DDR bestand, zufrieden waren, sind es nur etwa 34 Prozent, die hier eine bejahende Antwort geben
2. Die persönliche ökonomische Lage
Mit der persönlichen wirtschaftlichen Lage haben wir uns bereits im Abschnitt II beschäftigt. Die wesentlichen Indikatoren zur Erfassung der individuellen ökonomischen Situation waren das Haushaltseinkommen und die Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit. Wir hatten festgestellt, dass sich der individuelle Lebensstandard in den letzten Jahren deutlich erhöht hat und dass sich dies auch in den Angaben der Ostdeutschen über die Zufriedenheit mit ihrem Leben ausdrückt. Fragt man den Einzelnen etwa, ob sich seine soziale Situation seit der Wende eher verschlechtert hat, so widersprechen dem drei Viertel der Ostdeutschen
3. Anerkennungsprobleme der Ostdeutschen
Zur Erfassung des Gefühls der sozialen Anerkennung der Ostdeutschen lassen sich unterschiedliche Indikatoren heranziehen. Häufig greift man dabei auf die Aussage zurück, wonach sich Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse empfinden. Fragt man etwa danach, ob die Ostdeutschen meinen, dass sie auf längere Zeit trotz Vereinigung Bürger zweiter Klasse bleiben werden, so waren es in den letzten Jahren im Schnitt etwa 80 Prozent, die dieser Aussage zustimmten (vgl. Grafik 3). Zwar sind die Zustimmungswerte Mitte der neunziger Jahre auf 69 Prozent zurückgegangen, aber sie haben sich danach wieder erhöht. Die Fragestellung enthält allerdings eine Suggestion, denn es wird unterstellt, dass Ostdeutsche Bürger zweiter Klasse sind, und nur danach gefragt, ob sie es bleiben werden. In einer von mir und Gert Pickel durchgeführten Untersuchung haben wir daher die Fragestellung verändert und die Menschen in Ostdeutschland gefragt, ob sie sich "als Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse" fühlen. Auf diese Frage reagierten nur noch halb so viele zustimmend, nämlich 42 Prozent
Außerdem wird man beachten müssen, dass mit der Frage nach dem Gefühl der Zweitklassigkeit unterschiedliche Bedeutungsaspekte angesprochen werden. Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, kann sich einmal auf materielle Differenzen zwischen Ost und West beziehen, zum anderen auf die ruinöse Hinterlassenschaft des DDR-Sozialismus, schließlich aber auch auf mangelnde soziale Anerkennung im wieder vereinigten Deutschland. Der Anerkennungsaspekt ist also nur eine unter mehreren Dimensionen. Deshalb haben wir diejenigen, die die Frage, ob sie sich als Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse fühlen, bejaht haben, auch nach ihrem Motiv für dieses Gefühl befragt. Wir haben gefragt, ob sie dies darauf zurückführen, dass es zu viele Unterschiede bei Löhnen und Gehältern zwischen West- und Ostdeutschland gibt (materieller Aspekt), dass das DDR-Regime einen Scherbenhaufen hinterlassen hat (Erbschaftsaspekt), oder darauf, dass die Westdeutschen die Ostdeutschen nicht akzeptieren (Anerkennungsaspekt). Auf alle drei Fragen erhielten wir relativ hohe Zustimmungen, die höchsten bei der Frage nach den Unterschieden bei Löhnen und Gehältern
Um den genauen Anteil derjenigen herauszufinden, die sich als Ostdeutsche nicht anerkannt fühlen, haben wir die Frage nach ihrer sozialen Akzeptanz ganz direkt gestellt. Bei der Beantwortung dieser Frage erklärten drei Viertel der ostdeutschen Bevölkerung, dass sie sich anerkannt fühlen. Ein Viertel der Ostdeutschen fühlt sich als Ostdeutsche sozial nicht akzeptiert. Das ist zwar ein relativ beachtlicher Prozentsatz, allerdings ein deutlich geringerer, als in der Öffentlichkeit zumeist behauptet wird. In der öffentlichen Diskussion herrscht das Bild vor, als ob sich die meisten Ostdeutschen unterschätzt, deprivilegiert und missachtet fühlen würden. Tatsächlich ist das Gefühl der sozialen Akzeptanz hingegen erstaunlich weit verbreitet.
4. Die Entwicklung der Wahrnehmung sozialer Ungleichheit
Die Beurteilung der sozialen Ungleichheiten in Deutschland ist natürlich in einem hohen Maße durch die Wahrnehmung der Ost-West-Differenzen bestimmt. Wollen wir diese Zusammenhänge erfassen, so liegt es nahe, sowohl nach dem erreichten Stand der Gleichberechtigung zwischen Ost- und Westdeutschland als auch nach der individuellen Verteilungsgerechtigkeit in der Gesellschaft insgesamt zu fragen. Was die Gleichberechtigung zwischen Ost- und Westdeutschland angeht, so müssen wir feststellen, dass mehr als drei Viertel der Ostdeutschen die Gleichberechtigung zwischen Ost- und Westdeutschland noch nicht als erreicht sehen.
Hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit haben sich die Zustimmungsraten in den letzten Jahren deutlich verändert. Fragt man danach, inwieweit der Einzelne daran glaubt, dass er im Vergleich dazu, wie andere in Deutschland leben, seinen gerechten Anteil erhält, so betrug die Differenz in den Antworten zwischen Ost- und Westdeutschen Anfang der neunziger Jahre mehr als 50 Prozentpunkte (vgl. Grafik 3). Inzwischen ist sie auf weniger als 20 Prozentpunkte geschrumpft. 1991 und 1992 waren mehr als 80 Prozent der Ostdeutschen der Meinung, dass sie weniger als den gerechten Anteil erhalten. Heute sind es nur noch etwa 50 Prozent, die das behaupten. Im Westen blieb der Anteil derer, die meinen, sie erhielten weniger als den ihnen zustehenden Anteil, über die Jahre hinweg konstant bei etwa 30 Prozent. Noch immer fühlt sich zwar etwa die Hälfte der Ostdeutschen im wieder vereinigten Deutschland ungerecht behandelt. Aber inzwischen halten weitaus mehr als früher Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland für erfüllt. Man wird wohl nicht fehl gehen in der Annahme, dass dies auch mit der in den letzten Jahren zugenommenen Angleichung der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland an das westdeutsche Niveau zusammenhängt. Wenn die Ostdeutschen sich gerechter behandelt fühlen als früher und zugleich noch immer Ungleichheiten zwischen Ost und West wahrnehmen, so kann man das nur schwer als einen Ausdruck von Wehleidigkeit und Jammermentalität interpretieren. Weitaus eher dürfte es angemessen sein, darin eine Widerspiegelung des tatsächlich stattfindenden Wandels der sozialen und ökonomischen Verhältnisse in all seiner Ambivalenz zu sehen.
5. Der Wandel in der Einschätzung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage
Bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Situation in Deutschland hat sich in den letzten zehn Jahren ebenfalls ein dramatischer Wandel vollzogen. Beurteilte die Mehrheit die Leistungskraft des wirtschaftlichen Systems der Bundesrepublik 1991 noch überwiegend positiv, so hat sie bereits 1994 ein eher distanziertes und skeptisches Verhältnis zur allgemeinen wirtschaftlichen Lage in der Bundesrepublik. Sowohl in Westdeutschland als auch in Ostdeutschland ist die Zahl derjenigen, die die wirtschaftliche Lage positiv einschätzen, seit 1991 dramatisch zurückgegangen (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1:#Beurteilung der wirtschaftlichen Lage im gesamten Bundesgebiet 1991 1994 1996 1998 Westdeutschland +64 -27 -24 -12 Ostdeutschland +48 -18 -26 -23Datenbasis: Allbus 1991, 1994, 1996, 1998 (n = durchschnittlich 1 500 für West und 1 000 für Ost je Erhebung). Die jeweils angegebene Zahl ist die Differenz aus den positiven Antworten (sehr gut und gut) minus der negativen Antworten (schlecht und sehr schlecht).
Differenziert man dabei zwischen der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage in Ostdeutschland und Westdeutschland, so ergibt sich noch einmal ein bemerkenswerter Befund. Sowohl die Westdeutschen als auch die Ostdeutschen beurteilen die wirtschaftliche Lage in Westdeutschland überwiegend positiv, die Ostdeutschen noch etwas stärker als die Westdeutschen (vgl. Tabelle 2). Die Beurteilung der wirtschaftlichen Situation in Ostdeutschland fällt dagegen in beiden Landesteilen überwiegend negativ aus, und hier sind es wiederum die Ostdeutschen, die eine extremere Position einnehmen. Das heißt, die negative Einschätzung der wirtschaftlichen Situation in der Bundesrepublik hängt vor allem mit den Problemen des wirtschaftlichen Wachstums in Ostdeutschland zusammen. Im Übrigen meinen die meisten, dass sich dies in nächster Zeit auch nicht gravierend ändern werde. Während die Mehrheit der Ostdeutschen unmittelbar nach dem Zusammenbruch des DDR-Staatssozialismus optimistisch in die Zukunft blickte, sind die Zukunftserwartungen heute eher verhalten, ja teilweise sogar pessimistisch
IV. Erklärung der Demokratiezufriedenheit
Wenn wir nun abschließend den Grad der Demokratiezufriedenheit in Ostdeutschland erklären wollen, so bedienen wir uns dafür einer so genannten Regressionsanalyse. Dieses Instrument ist in der Lage, den Einfluss von so genannten unabhängigen Variablen auf eine abhängige Variable anzugeben. Als abhängige Variable dient in unserem Fall die Zufriedenheit mit der Demokratie im vereinten Deutschland. Als unabhängige Variablen benutzen wir all jene Indikatoren, die wir in Kapitel III unserer Untersuchung erläutert haben.
Wie Tabelle 3 zeigt, sind sowohl die Beurteilung der Idee des Sozialismus und der Grad der Zufriedenheit mit dem real existierenden Sozialismus als auch die Indikatoren für die persönliche ökonomische Lage - des Netto-Haushaltseinkommen und die Erfahrung mit Arbeitslosigkeit - für die Demokratiebeurteilung nicht signifikant. Die geringere Zufriedenheit der Ostdeutschen mit der Demokratie in diesem Land lässt sich also weder auf die vermeintliche sozialistische Prägung der Ostdeutschen noch auf die wirtschaftliche Lage des Einzelnen zurückführen. Bedeutsamer sind hier schon die Anerkennungsaspekte im deutsch-deutschen Wiedervereinigungsprozess. Die Frage, ob man sich als Ostdeutscher sozial anerkannt fühlt oder nicht, übt einen beachtlichen Einfluss auf die Demokratiezufriedenheit aus. Er ist offenbar so groß, dass er den sekundären Effekt des Gefühls, als Ostdeutscher Bürger zweiter Klasse zu sein, in sich aufsaugt. Ebenso besitzt die Beurteilung sozialer Ungleichheit - ausgedrückt in der Frage, ob man meint, den gerechten Anteil zu erhalten, bzw. ob zwischen Ost- und Westdeutschland Gleichberechtigung besteht - eine beachtliche Erklärungskraft, wenn diese auch nicht ganz so hoch ist wie die des Anerkennungsgefühls. Bedeutsam für den Grad der Zufriedenheit mit der Demokratie ist aber vor allem, wie man die allgemeine wirtschaftliche Lage in Ost- und Westdeutschland einschätzt. Je schlechter die Ostdeutschen diese beurteilen, desto unzufriedener sind sie auch mit dem Funktionieren der Demokratie. Tabelle 3:#Determinanten der Demokratiezufriedenheit in Ostdeutschland Einflussvariablen Standardisierte Koeffizienten Beta Signifikanz Idee des Sozialismus ist gut -,05 ,322 War mit dem real existierenden Sozialismus zufrieden -,03 ,487 Netto-Haushaltseinkommen -,06 ,189 Erfahrung mit Arbeitslosigkeit -,07 ,095 Als Ostdeutscher Bürger 2. Klasse -,07 ,135 Als Ostdeutscher anerkannt -,16 ,001 Erhalte gerechten Anteil -,11 ,011 Keine Gleichberechtigung zwischen Ost- und Westdeutschland -,09 ,033 Wirtschaftslage West gut -,18 ,000 Wirtschaftslage Ost gut -,19 ,000 R-Quadrat -,19 Datenbasis: SoKuWa 1998. Signifikant sind nur Werte, die ein Signifikanzniveau von p5!!! !!!,050 aufweisen.
Kontrastiert man dieses Ergebnis mit der insgesamt positiven Einschätzung der eigenen persönlichen Lage (vgl. Tabelle 2), so entsteht ein merkwürdiges Bild: Es geht den Ostdeutschen persönlich gut, aber die allgemeine Wirtschaftslage in Ostdeutschland gibt dazu, auch in der Einschätzung der Ostdeutschen, eigentlich überhaupt keinen Anlass. Die Ursache für das eigene Wohlbefinden ist ausschließlich in der Wirtschaftskraft des Westens zu suchen. Dass es einem gut geht, hängt also - und man weiß das, auch wenn man es nicht zugibt - vor allem mit der enormen wirtschaftlichen Unterstützung des Ostens durch den Westen zusammen, mit den Transferzahlungen, den infrastrukturellen Leistungen, den sozialpolitischen Maßnahmen und dem Import der westdeutschen Konsumgüter nach Ostdeutschland. Deutschland ist keine geeinte Nation. Aber der entscheidende Punkt ist nicht die vielbeschworene Mauer in den Köpfen. Diese ist nur eine Widerspiegelung der realen ökonomischen Verhältnisse, die unterschiedlicher nicht sein könnten: auf der einen Seite ein hoch modernisiertes, hochproduktives, noch immer beachtliche Wachstumsraten aufweisendes potentes wirtschaftliches System, auf der anderen Seite ein am Tropf dieses leistungsfähigen Systems hängendes wirtschaftliches Gebilde, das die Aufholjagd mit dem potenteren Partner jetzt schon verloren hat und dessen Abstand zu diesem eher größer als kleiner wird.
Warum sollte man angesichts dieser eindeutigen Situation trotz der Verbesserung der persönlichen Lage mit den Verhältnissen in Deutschland nicht unzufrieden sein? Die Ostdeutschen haben wenig Grund, stolz auf ihre eigenen Leistungen zu sein. Ihnen geht es materiell vielleicht besser als ihren mittelosteuropäischen Nachbarn. Aber anders als diese wissen sie, dass sie das, was es an positiven Veränderungen im eigenen Lande gegeben hat, zum größten Teil nicht selbst erarbeitet, sondern geschenkt bekommen haben. Sicher haben die Ostdeutschen in den letzten Jahren viel geleistet. Aber es hat nicht gereicht, um an das westliche Niveau aufzuschließen. Natürlich ist es schwer, sich selbst dafür die Schuld zu geben, und wahrscheinlich ist schon die Frage nach dem Schuldigen falsch gestellt. Aber es dürfte klar sein, dass es einer besonderen Selbstverleugnung bedarf, um ein System gutzuheißen, zu dessen Funktionieren man so wenig beigetragen hat. Die relativ geringe Akzeptanz der bundesrepublikanischen Institutionenordnung hat insofern eine ganz wesentliche Ursache in der bemerkenswerten Unmaßgeblichkeit des ostdeutschen Beitrages zum Gelingen der deutschen Einheit. Man kann sich nur mit etwas identifizieren, zu dessen Gelingen man selbst beigetragen hat, ja man wird sich mit diesem sogar dann identifizieren, wenn das, wozu man beigetragen hat, nicht ganz und gar gelungen ist. Dort aber, wo man zur Herstellung des Ganzen schlichtweg nicht gebraucht wird, kann das Ganze nicht zum Eigenen werden.
Die Westdeutschen haben seit den fünfziger und sechziger Jahren das Gefühl, etwas Eigenes aufgebaut zu haben. Sie sind stolz darauf, den wirtschaftlichen Wiederaufschwung geschafft zu haben und wieder etwas darzustellen in der Welt, auch wenn sie den persönlichen Anteil an diesem Erfolg in der Regel überschätzen. Die Ostdeutschen hingegen neigen dazu - und sie haben Grund dazu -, die Lage, in der sie sich befinden, vor allem äußeren Umständen zuzuschreiben. Schon in der kommunistische Ära konnte die Bevölkerung in der DDR über ihr eigenes Schicksal nicht selbst entscheiden. Auch die Wiedervereinigung nahmen die meisten der Ostdeutschen nicht als einen Prozess wahr, an dem sie selbstbestimmt Anteil haben konnten. Die Wohltaten des Westens kehren sich auf diese Weise gegen ihn selbst. Wenn man diesen Wohltaten schon nichts Adäquates an die Seite stellen kann, dann hieße es, sich selbst aufzugeben, wenn man für sie auch noch Dankbarkeit bekunden würde. Nein, nicht Dankbarkeit kann die angemessene Reaktion auf jene Wohltaten sein. Was man erhalten hat, steht einem zu, schon lange, denn musste man nicht 40 Jahre lang auf der Schattenseite des Lebens ausharren? Was können die Westdeutschen dafür, dass es ihnen besser ging? Nichts. Ihre Besserstellung war nur das Ergebnis des Zufalls ihres Geburtsortes. Was können die Ostdeutschen dafür, dass es ihnen schlechter ging? Nichts. Also muss es jetzt eine ausgleichende Gerechtigkeit geben. Es ist bedauerlich, dass das der Westen nicht begreift. Man muss klagen, denn sonst müsste man sein eigenes Versagen zugeben. Schuld sind die anderen, nicht man selbst. Also kann man an sie auch Ansprüche adressieren. Die bemerkbare Tendenz der Ostdeutschen, das eigene frühere System aufzuwerten und das heutige westliche System zu entwerten, die DDR zu idealisieren und nach dem Schlechten in der Bundesrepublik zu suchen, ja, sich selbst im Laufe der Zeit immer besser einzuschätzen und die kompetetive Überlegenheit der Westdeutschen moralisch zu diskreditieren, hat viel mit diesem unübersehbaren Versuch der Selbstentschuldung zu tun. Sie ist notwendig, um das Gefühl der Achtung vor sich selbst nicht zu verlieren. Aber sie kann doch nicht verdecken, dass man im Osten Deutschlands über die Fortschritte im Prozess der deutsch-deutschen Wiedervereinigung nicht so recht froh zu werden vermag. Die Erfolge in diesem Prozess, die zweifellos zu konstatieren sind, haben schlichtweg zu wenig mit den eigenen Leistungen zu tun. Die Ostdeutschen werden dann mit der bundesrepublikanischen Ordnung zufrieden sein, wenn es für sie einen Grund gibt, stolz auf sich zu sein.