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Bedingt einsatzfähig: Der lange Weg zur Neugestaltung der Bundeswehr | Bundeswehr | bpb.de

Bundeswehr Editorial Die Bundeswehr-Reform aus bündnispolitischer Sicht Bedingt einsatzfähig: Der lange Weg zur Neugestaltung der Bundeswehr Die Reform der Bundeswehr: Die Debatte bei den Regierungsparteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen Die Zukunft der Bundeswehr: Die Diskussion in der CDU/CSU Wehrpflicht und Bundeswehr-Reform

Bedingt einsatzfähig: Der lange Weg zur Neugestaltung der Bundeswehr

Bernhard Fleckenstein

/ 25 Minuten zu lesen

Die Bundeswehr steht vor einem Umbau von Grund auf, und diese Reform ist überfällig. Denn: Deutschland kann die eingegangenen sicherheitspolitischen Verpflichtungen nicht mehr erfüllen.

I. Die verschleppte Reform

Der radikale Umbau der Bundeswehr ist eine der wichtigsten politischen Gestaltungsaufgaben des Jahrzehnts. In ihrer heutigen Verfassung entsprechen die Streitkräfte längst nicht mehr dem, was Deutschland an militärischen Mitteln und Möglichkeiten zur Erfüllung seiner Verpflichtungen in der Außen- und Sicherheitspolitik braucht. Auf dem Gipfeltreffen im Dezember 1999 in Helsinki hat sich der Europäische Rat das Leitziel ("European Headline Goal") gesetzt, bis zum Jahr 2003 europäische Streitkräfte in Korpsgröße (das heißt bis zur Stärke von 15 Brigaden beziehungsweise bis zu einem Umfang von 50 000 bis 60 000 Heeressoldaten) bereitzuhalten. Sie sollen unter EU-Kommando die 1992 vom Ministerrat der WEU festgelegten "Petersberg-Aufgaben" zur Unterstützung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ausführen. Dabei handelt es sich um humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen. Die EU-Eingreifgruppe aus Land-, Luft- und Seestreitkräften soll innerhalb von 60 Tagen in vollem Umfang verlegbar sein und eine solche Verlegung auch unter schwierigen Bedingungen mindestens ein Jahr lang durchhalten können.

Auf Deutschland könnte ein Anteil von bis zu 20 Prozent an diesen europäischen Krisenreaktionskräften entfallen. Das bedeutet unter Berücksichtigung des üblichen fünffachen Rotationsfaktors , dass mindestens 60 000 Bundeswehrsoldaten auf diese Aufgaben vorbereitet und entsprechend ausgerüstet sein müssen.

EU-Aktionen können parallel zu NATO-Einsätzen notwendig werden. Die Bundeswehr müsste sich dann zeitgleich an zwei Operationen beteiligen. Dazu ist sie in ihrer heutigen Verfassung keinesfalls in der Lage, und im Übrigen sind das noch längst nicht alle militärischen Verpflichtungen. Hinzu kommen nationale Aufgaben und humanitäre Hilfsaktionen im In- und Ausland. Auch nach der Einschätzung des amtierenden Verteidigungsministers sind die deutschen Streitkräfte in ihrer Gesamtheit gegenwärtig "nicht bündnisfähig" und auch "nicht europafähig". Ohne substanzielle deutsche Beteiligung kann aber die vereinbarte Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) nicht auf den Weg gebracht werden. Obwohl also die Wehrreform dringlich ist, kommt sie seit Jahren nicht recht voran.

Seit zehn Jahren ist Deutschland wieder vereint. Die "Charta von Paris für ein neues Europa" vom 21. November 1990 markierte das Ende des Kalten Krieges. Die Frontlinie, die Europa vier Jahrzehnte hindurch in zwei Teile zerschnitt, ist verschwunden. Am 1. Juli 1991 beschloss der Warschauer Pakt seine Selbstauflösung, und am 21. Dezember desselben Jahres hörte die Sowjetunion nach 70 Jahren zu existieren auf. Die letzten russischen Soldaten verließen Deutschland am 31. August 1993. Für die deutsche politische Souveränität gibt es seither keine gravierenden Einschränkungen mehr.

Bereits 1992 hatte die Bundesregierung den Auftrag der Bundeswehr in den "Verteidigungspolitischen Richtlinien" neu formuliert und um internationale Einsätze zur Krisenvorsorge und Krisenbewältigung ergänzt. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte in seiner Entscheidung vom 12. Juli 1994 die Zulässigkeit solcher Missionen, und es rechnete dazu ausdrücklich auch Kampfeinsätze.

Gewiss hat sich die Bundeswehr in diesen Jahren verändert. Die erfolgten Anpassungen waren indessen Reaktionen auf äußere Zwänge, nicht Ergebnis einer gründlichen Militärreform, die diesen Namen verdient hätte. Im Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 war die Reduzierung der Bundeswehr auf eine Obergrenze von 370 000 Soldaten binnen vier Jahren vereinbart worden. Noch vor Ablauf dieser Frist zwang die Haushaltsentwicklung zu einer weiteren Verkleinerung des Friedensumfangs auf 340 000 Soldaten. Auch diese Personalstärke war nicht zu halten. Heute zählt die Bundeswehr etwa 320 000 Männer und Frauen, die Dauer des Grundwehrdienstes ist von zwölf Monaten auf zehn Monate geschrumpft. Doch die Umfänge und die Strukturen stimmen noch immer nicht. Die Personalkosten sind nicht zurückgegangen, sondern verschlingen mehr als die Hälfte (51,1 Prozent) des Verteidigungshaushalts mit dem Ergebnis, dass die Investitionsquote weiter sinkt, das Material also immer mehr veraltet.

Ebenfalls ab 1993 wurden die Verbände schrittweise aufgeteilt in rasch verfügbare und besser ausgerüstete Krisenaktionskräfte und in nur teilweise präsente, mobilmachungsabhängige Hauptverteidigungskräfte. Anders wäre die von den Verbündeten geforderte deutsche Beteiligung an internationalen Missionen gar nicht möglich gewesen. Die Umgliederung konnte erst 1999 abgeschlossen werden und erwies sich als offensichtlich unzureichend. Das deutsche Heer zählt derzeit 228 000 Soldaten und ist damit etwa halb so groß wie die US Army. Dennoch kann Deutschland die auf dem Balkan eingegangenen internationalen Verpflichtungen nur mit Mühe erfüllen. Die Einsatzdauer der Kontingente musste von vier auf sechs Monate erhöht werden .

Seit Jahren ist Deutschland nicht mehr Frontstaat der NATO. Weil es stets nur Korrekturen, aber keine strategisch-strukturelle Neuorientierung gab, ist die Bundeswehr auch heute noch besser gerüstet für den unwahrscheinlich gewordenen großen Krieg in Mitteleuropa als für die neuen Aufgaben der Krisenvorsorge und Krisenbewältigung. Bisherige Reformen bestanden überwiegend darin, das Personal auszudünnen, die Strukturen aber zu erhalten.

Vor allem ist der Verteidigungshaushalt im vergangenen Jahrzehnt geradezu abgestürzt: von 57,5 Mrd. DM im Jahr 1990 auf 45,3 Mrd. DM im laufenden Haushaltsjahr 2000. In relativen Zahlen hat sich der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bundeshaushalt von 18,7 Prozent im Jahr 1990 auf 9,5 Prozent im Jahr 2000 nahezu halbiert (s. Tab. 1). Im Jahr 1999 beliefen sich die deutschen Verteidigungsaufwendungen auf 1,3 Prozent des Bruttosozialprodukts. Damit rangiert Deutschland unter den Schlusslichtern in der NATO. Mit dieser Haushaltspolitik lassen sich die gegenwärtigen Streitkräftestrukturen nicht mehr bezahlen, geschweige denn modernisieren. Nötig ist eine grundlegende Militärreform, die in mancherlei Hinsicht einem Neuaufbau gleichkommt.

II. Planungsgrundlagen

Die rot-grüne Bundesregierung hatte sich im Koalitionsvertrag vom 20. Oktober 1998 auf die Berufung einer Wehrstrukturkommission verständigt. Auf der Grundlage einer aktualisierten Bedrohungsanalyse und eines erweiterten Sicherheitsbegriffs sollte die so benannte "Zukunftskommission" Auftrag, Umfang, Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte sowie die Wehrform überprüfen. Optionen für die künftige Struktur der Bundeswehr und politische Empfehlungen für Reformen sollten bis zur Mitte der Legislaturperiode, das heißt bis November 2000, vorliegen. Bis dahin, so die weitere ursprüngliche Verabredung, sollten wesentliche Veränderungen nicht vorgenommen werden.

Diese Absprachen wurden nicht eingehalten. Es gab fortgesetzte massive Eingriffe des Finanzministers in den Verteidigungshaushalt. Dagegen wandte sich vor allem die Opposition. Die Reform der Bundeswehr geriet damit in die parteipolitische Auseinandersetzung. Die Chancen für eine ruhige Sacharbeit waren vertan. Die im Mai 1999 berufene Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" unter dem Vorsitz des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker musste ihre Arbeit unter großem Zeitdruck innerhalb nur eines Jahres abschließen, obwohl ihr Auftrag so umfassend formuliert war wie bei keiner sicherheitspolitischen Kommission zuvor. Der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr Hans Peter von Kirchbach war beauftragt, zeitgleich zum Vorlagetermin der Weizsäcker-Kommission ein so genanntes "Eckwerte-Papier" zu erarbeiten. Und schließlich gab der Verteidigungsminister noch während der laufenden Kommissions-Beratungen bekannt, von seinem Planungsstab - gewissermaßen als krönende Synthese der beiden vorgenannten Konzepte - eine eigene Planungsgrundlage und dazu auch noch ein neues Weißbuch erarbeiten zu lassen.

Inzwischen gibt es fast ein Dutzend Planungspapiere zur Zukunft der Bundeswehr (s. Tab. 2), darunter insbesondere

- den Bericht der Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" vom 23. Mai 2000;

- die "Eckwerte für die konzeptionelle und planerische Weiterentwicklung der Streitkräfte" des ehemaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr vom 23. Mai 2000 sowie

- das vom Planungsstab des Verteidigungsministers erarbeitete Papier "Die Bundeswehr - sicher ins 21. Jahrhundert, Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf" vom 5. Juni 2000.

Unabhängig davon haben alle Parlamentsparteien beziehungsweise ihre Bundestagsfraktionen eigene Stellungnahmen vorgelegt, und zwar in folgender zeitlicher Reihenfolge:

1. Positionspapier der F. D. P.-Bundestagsfraktion "Bundeswehr 2000 - auftragsgerechter Maßanzug für Attraktivität und Effizienz" vom 23. März 1999 mit Ergänzung vom 26. Februar 2000. Aktuell der Fraktions-Antrag "Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr sichern - Wehrpflicht aussetzen" vom 12. Oktober 2000.

2. Konzeption der Arbeitsgruppe Verteidigungspolitik der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag "Sicherheit 2010: Die Zukunft der Bundeswehr" vom 22. Februar 2000.

3. Beschluss des Bundesfachausschusses Außen- und Sicherheitspolitik der CDU "Die Zukunft der Bundeswehr" vom 21. März 2000.

4. Konzept der PDS-Bundestagsfraktion zur Zukunft der Bundeswehr "Für eine 100 000 Personen-Armee" vom 17. Mai 2000.

5. Positionspapier der Arbeitsgruppe Sicherheitsfragen der SPD-Bundestagsfraktion "Zur Reform der Bundeswehr" vom 18. Mai 2000.

6. Beschluss des CSU-Parteivorstands "Eine leistungsfähige Sicherheits- und Verteidigungspolitik für Deutschland und Europa" vom 19. Mai 2000.

7. Fraktionsbeschluss Bündnis 90/DIE GRÜNEN "Die Bundeswehr reformieren" vom 6. Juni 2000.

Ebenso zählen zu den Planungsgrundlagen die 25 Tagungen des Verteidigungsministers mit Angehörigen der Bundeswehr und die im Mai 1999 publizierte Bestandsaufnahme "Die Bundeswehr an der Schwelle zum 21. Jahrhundert". Hinzu kommen die drei Leitlinien, die der Bundesminister der Verteidigung im Januar 1999 erlassen hat, sowie die Verträge und Vereinbarungen, die zu einer Neugestaltung der Bundeswehr mit Industrie und Wirtschaft abgeschlossen worden sind .

Mit Ausnahme des F. D. P.-Papiers, dessen Erstfassung bereits 1999 präsentiert wurde und in dessen aktueller Fassung die Forderung nach einer Aussetzung der Wehrpflicht enthalten ist, sowie mit Abstrichen des CDU/CSU-Fraktionspapiers sind die Stellungnahmen der Parteien im Wesentlichen Reaktionen auf vorab verlautbarte Ergebnisse der Weizsäcker-Kommission, aber keine eigenständigen, in Einzelheiten ausformulierten Konzepte zur Bundeswehrreform. Die Vorlage des Generalinspekteurs von Kirchbach war wohl von Anfang an eher als Testmaterial gedacht und ist in wesentlichen Teilen bereits Makulatur. Die beiden großen Entwürfe für die Reform der Bundeswehr sind der Bericht der Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" und das "Eckpfeiler-Papier" des Verteidigungsministers "Die Bundeswehr - sicher ins 21. Jahrhundert" vom 5. Juni 2000. Letzteres hat die Bundesregierung am 14. Juni 2000 als ihre Planungsgrundlage für die Zukunft der Bundeswehr gebilligt. Beide Konzeptionen haben viel gemeinsam. Der Verteidigungsminister beziffert die inhaltliche Übereinstimmung auf 80 Prozent. Es gibt aber durchaus schwerwiegende, teils sogar diametrale Unterschiede.

III. Internationale Trends: Funktion, Struktur und Kultur "post-moderner" Streitkräfte

Die Weizsäcker-Kommission empfiehlt der Bundeswehr eine "Erneuerung von Grund auf", und dem hat sich die Bundesregierung angeschlossen: Es geht künftig nicht mehr nur um Anpassungen, wie das in der Vergangenheit allzu häufig der Fall war. Vielmehr steht die Bundeswehr nach Verteidigungsminister Scharping "vor der tiefgreifendsten Reform in ihrer mehr als 50-jährigen Geschichte" . Dieser Zeitrahmen schließt die Himmeroder Denkschrift vom Oktober 1950 mit ein. Sie war der erste große Reformentwurf für eine neue Bundeswehr nach der Katastrophe von 1945.

Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Wehrreform ist die veränderte Auftragslage. Deutschland hat vom Erlöschen des Kalten Krieges am meisten profitiert. Seit 1990 liegt das Land wieder in der politischen Mitte Europas, umgeben von Freunden und Verbündeten. Landesverteidigung ist damit nur als Bündnisverteidigung vorstellbar. Ein großer Angriff auf die NATO ist nicht sehr wahrscheinlich. Das würde Jahre der Vorbereitung brauchen. Ganz anders steht es hingegen mit den internationalen Missionen zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung. Sie haben - und sind damit wahrscheinlichste militärische Aufgaben - nach dem Ende des Kalten Krieges sprunghaft zugenommen. Die neuen Risiken und Konfliktformen betreffen nicht nur die Bundeswehr, obschon der politische Gezeitenwechsel die deutschen Streitkräfte besonders berührt und beeinflusst hat. Auch die Verbündeten in NATO und WEU müssen sich darauf einstellen oder haben das bereits getan. Dabei zeigen sich einige übereinstimmende Trends in der "post-modernen" Streitkräfteentwicklung, die vielfach zu gleichen oder doch ähnlichen Antworten führen .

Funktion

Die politische Entwicklung hat die Funktion der Streitkräfte grundlegend verändert und erweitert. Die Idee der Abschreckung bestand darin, militärische Macht möglichst überhaupt nicht einzusetzen. Die Streitkräfte waren Droh- bzw. Abschreckungspotenzial, nicht Kriegführungspotenzial. Heute müssen Streitkräfte die Fähigkeit haben, ein breites Spektrum konfliktverhindernder und friedenssichernder Maßnahmen in multinationalen Einsätzen auch außerhalb des eigenen Territoriums wahrzunehmen. Einsatzziel ist im Regelfall, den Friedensstörer zu entmutigen, ihn zu entwaffnen und vor Gericht zu bringen - nicht aber ihn zu vernichten.

Im friedensbewahrenden und friedensschaffenden militärischen Einsatz gilt der aus dem Polizeirecht bekannte "Grundsatz der Verhältnismäßigkeit". Für Streitkräfte mit diesen Funktionen - nämlich Schutz zu gewähren, die internationale Ordnung zu bewahren oder wiederherzustellen und humanitäre Hilfe zu leisten - hat der amerikanische Militärsoziologe Morris Janowitz schon 1960 den Begriff der "constabulary forces" geprägt. Seit dem Golf-Krieg im Jahr 1991 gab es seitens der westlichen Nationen mehr als ein halbes Hundert solcher Einsätze, meist humanitäre Maßnahmen. Solche Hilfsaktionen einschließlich des Eintretens für die Menschenrechte haben mit einem "Interventionismus" klassischer Art nichts zu tun. Nationale Alleingänge wird es ohnehin nicht geben, und mögliche Kampfeinsätze der NATO werden sich auf den "euro-atlantischen Raum" beschränken. Im Übrigen zählt auch die Beteiligung an der Sicherung von Seewegen zur Daseinsvorsorge von Handelsnationen, zumal dann, wenn - wie im Fall der Bundesrepublik Deutschland - jeder dritte Arbeitsplatz vom Export abhängig ist.

Struktur

Den neuen Funktionen folgt die Veränderung der Struktur der Streitkräfte. Moderne Armeen sind "leaner and meaner". Die Zeit der Massenarmee ist vorbei. Auffälligstes Merkmal ist die beträchtliche Verkleinerung der Streitkräfte, häufig verbunden mit dem Übergang zu einem Freiwilligensystem. Luftwaffe und Marine gewinnen an Bedeutung, die Landstreitkräfte werden überproportional reduziert. Streitkräfte mit der primären Aufgabe der Krisenvorsorge und Krisenbewältigung können sich mit einer gegenüber heute deutlich verringerten Aufwuchsfähigkeit im Krisenfall begnügen. Der wachsende Kostendruck führt zur Privatisierung von Dienstleistungen, die nicht zu den militärischen Kernaufgaben gehören ("outsourcing"). Die Streitkräfte verlieren damit ihre bisherige Autarkie. Wird die Wehrform gewechselt, erhöht sich der Frauenanteil: Freiwilligen-Streitkräfte benötigen für ihren Personalbestand weibliche Soldaten in größerer Zahl; die Frauen wollen von den Chancen und Möglichkeiten einer Berufsarmee nicht ausgeschlossen werden. Das gilt auch für Minderheiten, beispielsweise homosexuelle Bewerber, die in vielen Ländern bislang von den Streitkräften ferngehalten wurden, jetzt aber zunehmend ihre Bürgerrechte auf Gleichbehandlung und freie Berufsausübung geltend machen.

Kultur

Der strukturelle Umbau hat wiederum Rückwirkungen auf die Kultur der Streitkräfte. Das Militär und die Währung sind die beiden Sinnbilder nationaler Identität. Mit der Transformation des Nationalstaates erleiden beide gravierende Bedeutungsverluste. Die nationalen Währungen gehen im EURO auf, die Einbindung der Militärorganisationen der europäischen Verbündeten in multinationale Strukturen ist bereits weit fortgeschritten. Langfristig werden sie Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union. Auch das zivil-militärische Verhältnis wird sich verändern. Nach dem Ende des Kalten Krieges sind Streitkräfte weniger wichtig. Sie rücken an den Rand des gesellschaftlichen Interesses.

Die kleineren Streitkräfte werden einerseits ziviler, weil von außen abhängiger, andererseits militärisch-professioneller mit hochspezialisierten Arbeitsbereichen. Die noch weitgehend maskulin geprägten Streitkräfte wandeln sich zu ,androgynen' Organisationen, in denen zunehmend auch andere Eigenschaften gefragt sind. Das Berufsbild des Soldaten verschiebt sich vom "Krieger" über den "Manager" zum "Diplomaten" und "Helfer". In Bildung und Weiterbildung wird mehr investiert. Ökonomisches Denken und Handeln wird fester Bestandteil der militärischen Alltagskultur. Die obligatorische Einbeziehung von Wirtschaftlichkeitsaspekten in die Betriebs- und Operationsführung ist allein schon eine kleine Revolution und durchaus gewöhnungsbedürftig. Der "Buchhalter" ist sicher nicht der erstrebte Führertypus von morgen. Eine militärische Operation ist aber nur dann ein voller Erfolg, wenn auch die finanziellen Belastungen für den Steuerzahler erträglich bleiben.

IV. Die deutsche Debatte: Empfehlungen - Eckwerte - Eckpfeiler

Die deutsche politische Diskussion über die Reform der Bundeswehr wird von einigen wenigen Themen bestimmt. Das sind:

- Der Umbau der Bundeswehr und ihre künftigen Aufgaben;

- die Struktur der Streitkräfte und die Zahl der Soldaten;

- die Wehrform;

- die Stationierung der Bundeswehr;

- die Zulassung von Frauen zum militärischen Dienst sowie

- Stand und Entwicklung des Verteidigungshaushalts.

Drei Schlagworte bestimmen vor allem die Debatte: Umfang, Wehrpflicht, Haushalt. Alle anderen Aspekte - angefangen mit der vom Verteidigungsminister angekündigten Bildungsreform über die vom Generalinspekteur vorgeschlagene neue Binnenstruktur der Bundeswehr bis hin zur Weizsäcker-Empfehlung, das Ministerium an einem Dienstsitz in Berlin zusammenzuführen - werden bislang in Politik und Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

Umfang

Den konsequentesten Vorschlag zum Umbau der Bundeswehr hat die Weizsäcker-Kommission gemacht. Sie empfiehlt, Umfang und Struktur der Streitkräfte an ihren wahrscheinlichsten militärischen Aufgaben - nämlich den multinationalen Kriseneinsätzen - zu orientieren. Mit den für Krisenvorsorge und Krisenbewältigung bereitgestellten Kräften und den dafür erworbenen Fähigkeiten sind dann auch die als minder bedrohlich eingeschätzten Aufgaben der Bündnis- und Landesverteidigung wahrzunehmen (Ziff. 10, 61-65).

Das Konzept der Bundesregierung zur Neuausrichtung der Bundeswehr setzt den Planungsschwerpunkt ganz anders. Dort heißt es ausdrücklich: "In erster Linie bestimmen Landesverteidigung und Kollektive Verteidigung Umfang und Struktur der Bundeswehr" (Ziff. 20). Dieser gänzlich unterschiedliche Ansatz hat gewichtige Konsequenzen. Beide Konzepte stimmen zwar darin überein, dass der Umfang der Einsatzkräfte von derzeit 60 000 Soldaten auf etwa 140 000 Soldaten (Wehrstruktur-Kommission) beziehungsweise auf 150 000 Soldaten (Bundesregierung) erhöht werden muss, dann aber trennen sich die Wege.

Die Weizsäcker-Kommission stuft die Landes- und Bündnisverteidigung als nachrangig ein. Ein Feind ist derzeit nicht erkennbar. Sollte sich die Sicherheitslage verschlechtern, bliebe Zeit genug, die dann notwendigen militärischen Potenziale aufzubauen. Das erlaubt sowohl eine kleinere Friedenspräsenz (200 000-240 000 Soldaten) als auch einen verringerten Verteidigungsumfang (300 000 Soldaten, dazu 100 000 Reservisten für Personalersatz). Das Zivilpersonal soll auf 80 000 Mitarbeiter schrumpfen. Die Aufwuchsfähigkeit von Personal und Material kann beträchtlich reduziert werden. Große Mobilmachungspotenziale, die Kräfte binden und hohe Unterhaltskosten verursachen, müssen nicht vorgehalten werden. Die dadurch frei werdenden Mittel können zur Modernisierung von Ausrüstung und Bewaffnung eingesetzt werden.

Ganz anders die Bundesregierung. Für sie bleibt die Landesverteidigung der "Kernauftrag deutscher Streitkräfte" (Ziff. 59) mit folgender Konsequenz: "Signifikante Abstriche am deutschen Beitrag würden die Prinzipien der Kollektiven Verteidigung und der Gemeinsamen Sicherheit gefährden, müssten von anderen Mitgliedstaaten ausgeglichen werden und gingen zu Lasten eigener Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung der internationalen Sicherheitsordnung" (Ziff. 8). Das bedeutet in Zahlen einen Friedenspersonalumfang von mindestens 277 000 Soldaten (davon 150 000  Soldaten mit abgestufter Verfügbarkeit in den Einsatzkräften, 105 000 Soldaten in der Militärischen Grundorganisation und weitere 22 000 Soldaten in Ausbildungs- und Kaderstrukturen) . Hinzu kommen 80 000-90 000 zivile Mitarbeiter. Der Friedenspersonalumfang soll auf einen künftigen Verteidigungsumfang von 500 000 Soldaten aufwachsen können.

Das ist bedeutend mehr Personal als die Weizsäcker-Kommission vorschlägt. Die künftige Bundeswehr wäre damit größer als die Streitkräfte Großbritanniens (gegenwärtig 204 000 Soldaten) und Frankreichs (geplant 247 000 Soldaten). Beide Länder haben überseeische Besitzungen oder sind mit ihren ehemaligen Kolonien militärische Beistandsverträge eingegangen. Das sind Verpflichtungen, die Deutschland nicht hat. Dennoch liegt die britische und die geplante französische Truppenstärke jeweils deutlich unter den offiziellen Planzahlen für die Bundeswehr (s. Tab. 3).

Wehrpflicht

Kleinere, auf Kriseneinsätze optimierte Streitkräfte könnten nach Ansicht der Weizsäcker-Kommission ohne die Wehrpflicht auskommen (Ziff. 88-90). Tatsächlich votierten sechs der zum Schluss noch 19 aktiven Kommissionsmitglieder für den Übergang auf ein Freiwilligensystem. Die Kommission insgesamt will aber die Wehrpflicht - zumindest noch eine Zeitlang - aufrechterhalten wissen. Gedacht ist an eine Eprobungsphase von zehn bis fünfzehn Jahren, an deren Ende dann die reine Freiwilligenarmee stehen könnte. Bis dahin biete die Beibehaltung der Wehrpflicht die größte Gewähr, die inneren und äußeren Unwägbarkeiten der Neustrukturierung zu meistern (Ziff. 104-108).

Auf "Wehrgerechtigkeit" nach traditionellen Verständnis, das heißt auf die größtmögliche Heranziehung eines Jahrgangs zum Wehrdienst (oder Zivildienst), muss dann allerdings verzichtet werden. Für wehrpflichtige Soldaten gibt es im Modell der Weizsäcker-Kommission eine militärisch sinnvolle und damit den Pflichtdienst begründende Verwendung nur noch in begrenztem Umfang. Die verkleinerten Streitkräfte haben einen Bedarf von höchstens noch 30 000 Wehrpflichtigen pro Jahr (bei einer Grundwehrdienstdauer von zehn Monaten wie bisher). Wer einen solchen "Auswahl-Wehrdienst" leistet, soll eine finanzielle Vergütung sowie weitere Vergünstigungen erhalten: "Dieser Weg, Wehrgerechtigkeit anzustreben, erscheint angemessener als die militärisch nicht begründbare Belastung eines gesamten Jahrgangs" (Ziff. 100). Im Übrigen geht die Kommission - mit einer Ausnahme - von der Verfassungsmäßigkeit ihrer Empfehlung aus. Warum sollte eine "Auswahlwehrpflicht", die in vielen Ländern gang und gäbe ist, in Deutschland nicht möglich sein? Eine Politik des "Alles-oder-nichts" kann der Grundgesetzgeber nach Meinung der Kommissionsmehrheit nicht gewollt haben.

Im Konzept der Bundesregierung für die Streitkräftereform hat die Beibehaltung der Allgemeinen Wehrpflicht (und damit auch des Zivildienstes) absolute Priorität. Alle anderen "Eckpfeiler" sind diesem Ziel nachgeordnet. Zwei Bedingungen müssen nach Ansicht der Wehrstrukturplaner erfüllt sein, damit eine öffentliche Diskussion über die Wehrpflicht erst gar nicht entsteht: Es muss - erstens - auch künftig für Wehrgerechtigkeit alter Art gesorgt werden, das heißt für die möglichst weitgehende Ausschöpfung eines Geburtsjahrgangs durch hohe Heranziehungsquoten zum Grundwehrdienst und - im Verweigerungsfall - zum Zivildienst, und es muss - zweitens - überzeugend begründet werden, warum die Allgemeine Wehrpflicht trotz erheblich verbesserter Sicherheitslage weiterhin unverzichtbar ist.

Mit der vorrangigen Ausrichtung der Streitkräfte auf Kriseneinsätze lassen sich diese Bedingungen nicht herstellen. Krisenreaktionskräfte sind klein, mobil und professionell. Wehrpflichtige sind in solchen "Expeditionsstreitkräften" kaum einsetzbar. Deshalb muss das Konzept der Bundesregierung an der Landesverteidigung als der primären Aufgabe der Bundeswehr festhalten: "Die Landesverteidigung im Bündnis bleibt . . . die grundlegende konstitutive Aufgabe der Streitkräfte. Sie fordert den Einsatz der gesamten Streitkräfte und damit den Aufwuchs auf einen Umfang, der nur über die Allgemeine Wehrpflicht sichergestellt werden kann" (Ziff. 20).

"Wehrpflichtarmeen sind zur Größe verdammt." Nur über die Landesverteidigung ist ein großer Streitkräfteumfang - und damit die Notwendigkeit der Wehrpflicht - begründbar. Die Ausgestaltung der Wehrpflicht bietet weitere Möglichkeiten, die Heranziehungsquote zu erhöhen. Von 2002 an soll die gesetzliche Dauer des Grundwehrdienstes nur noch neun Monate betragen. Der verkürzte Grundwehrdienst kann an einem Stück abgeleistet werden. "Durchdiener" erhalten zusätzliche Vergünstigungen . Wer das nicht will, braucht zunächst nur sechs Monate zu dienen, muss aber die restlichen drei Monate in höchstens zwei Teilabschnitten zu sechs Wochen später nachholen. Wie im Bericht der Weizsäcker-Kommission bleibt auch im Konzept der Bundesregierung die Option erhalten, freiwillig zusätzlichen Wehrdienst bis zu einer Gesamtdauer von 23 Monaten zu leisten (FWDL).

Der geplante Personalumfang von mindestens 277 000 Soldaten im Frieden und 500 000 Soldaten im Verteidigungsfall, die Kürzung des Grundwehrdienstes von zehn auf neun Monate sowie das Angebot einer flexibilisierten Ableistung des Grundwehrdienstes ermöglichen nach Ansicht der Bundesregierung von 2002 an die Einberufung von rund 100 000 Wehrpflichtigen pro Jahr. Das wären knapp 24 Prozent eines durchschnittlichen jährlichen Geburtsjahrgangs von 430 000 jungen Männern. Wehrgerechtigkeit ergibt das noch nicht. Dafür sollen in erster Linie die Kriegsdienstverweigerer im Zivildienst sorgen, zusammen mit neuen Wehrdienstausnahmen. Das "Eckpfeiler-Papier" geht davon aus, dass bis 2010 jährlich 172 000 junge Männer, das sind 40 Prozent eines Geburtsjahrgangs, den Dienst in der Bundeswehr verweigern werden. Obschon die Bundesregierung auch beim Zivildienst den Rotstift angesetzt hat, können davon so viele herangezogen werden, wie zur Herstellung von Wehrgerechtigkeit nötig erscheint .

Haushalt

Die personelle und materielle Funktionsfähigkeit der Streitkräfte muss auch während des Umbaus aufrechterhalten werden. Das verursacht zusätzliche Kosten und erschwert die Reform. Verteidigungsminister Scharping hat die Umgestaltung der Bundeswehr deshalb mit der Reparatur eines laufenden Motors verglichen.

Reparaturen kosten, manche sind sogar sehr teuer. Die Weizsäcker-Kommission veranschlagt - mit Ausnahme zweier Kommissionsmitglieder - für die "Reparatur" der Bundeswehr zusätzliche Haushaltsmittel, ohne sich in der Höhe der benötigten Anschubfinanzierung letztlich festzulegen (Ziff. 253-256). Am Ende des Reformprozesses soll nach den Vorstellungen der Kommissionsmitglieder eine kleinere, aber moderne und den gewandelten Anforderungen gewachsene Bundeswehr stehen, die ungefähr so teuer ist wie bisher. Im Haushaltsjahr 2000 sind das Aufwendungen in Höhe von 45,3 Mrd. DM, 1999 waren es noch 47,0 Mrd. DM. In dieser Größenordnung sollten sich die Verteidigungsausgaben nach Meinung der Weizsäcker-Kommission auch künftig bewegen.

Ähnlich sieht das der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr in seinem - vom Verteidigungsminister verworfenen - "Eckwerte-Papier". Dort wird zum Finanzbedarf im Übergang auf die neue Bundeswehr ausgeführt, "dass kurz-/mittelfristig zusätzliche Mittel zum Defizitabbau hoch priorisierter Fähigkeiten und zur Einnahme neuer Strukturen bereitzustellen sind". Zusammengefasst lautet die finanzplanerische Bewertung der Bundeswehr-Reform wie folgt: "Insgesamt ergibt sich damit in der Zeit des Übergangs ein zunächst ansteigender jährlicher Finanzbedarf. Nach Einnahme des Streitkräftemodells mit dem geforderten Fähigkeitsprofil wird der jährliche Finanzbedarf abnehmend auf 46-47 Mrd. DM geschätzt" (S. 45).

Unter den Fachleuten besteht Einigkeit, dass Streitkräftereform und gleichzeitige Haushaltskürzung kaum vereinbar sind. Es muss zunächst investiert und umstrukturiert werden, bevor Einsparungen erzielt werden können. Auch CDU und F. D. P. fordern in ihren Konzepten anfängliche Mehrausgaben, die CDU will eine Anschubfinanzierung von zwei Mrd. DM. Zumindest sei eine Stabilisierung der Ausgaben nötig. Nicht so die Bundesregierung: Das Kapitel "Haushalt und Finanzen" umfasst im "Eckpfeiler-Papier" lediglich eine Seite mit wenigen Angaben zum Verhältnis von Personalkosten und Investitionsmitteln. Wie die Reform insgesamt finanziert werden soll, ist daraus nicht ersichtlich.

Das Regierungskonzept zur Bundeswehr-Reform ist teurer als der Vorschlag der Weizsäcker-Kommission: Umfang, Struktur und Organisation der Streitkräfte sind im "Eckpfeiler-Papier" größer und aufwändiger geplant; es sollen weit weniger der noch 640 Standorte geschlossen werden als von der Kommission empfohlen. Zudem schiebt die Bundeswehr schon jetzt ein Ausrüstungsdefizit in zweistelliger Milliardenhöhe wie eine Bugwelle vor sich her und ab 2004 stehen weitere teure Großprojekte an: vor allem die geplanten Aufklärungssatelliten und die Transportflugzeug-Flotte Airbus A400M. Dennoch soll der Verteidigungshaushalt nach der bereits 1999 festgelegten 34. mittelfristigen Finanzplanung weiter sinken: von derzeit 45,3 Mrd. DM über 44,8 in 2001 und 44,5 in 2002 auf 43,7 Mrd. DM im Jahr 2003. Auf diesem Niveau soll er auch im Jahr 2004 bleiben.

Eine gesonderte Anschubfinanzierung für die Reform gibt es offensichtlich nicht. Die Bundeswehr darf behalten, was sie an Einsparungen beim Betrieb erwirtschaften kann. Der Verteidigungsminister erhofft sich von der vertieften Zusammenarbeit mit der Wirtschaft Rationalisierungsgewinne von mehreren hundert Mio. DM. Die jährlich zwei Mrd. DM für den Balkan-Einsatz, die bislang aus einem anderen Etat kamen, werden künftig dem Verteidigungshaushalt zugeschlagen. Wenn die Bundeswehr sparsam damit umgeht, kann sie daraus womöglich einige hundert Millionen DM abzweigen. Vom erwarteten Gewinn bei der Veräußerung von ausgemustertem Gerät, von Gebäuden und Grundstücken sollen - sofern die spärlichen Informationen zutreffen - bis 1,2 Mrd. DM pro Jahr dem Verteidigungsetat zugute kommen. Die Bundeswehr muss also die finanziellen Mittel selbst aufbringen, die sie zu ihrer grundlegenden Reform braucht. Vom Finanzminister erhält sie das notwendige Geld nicht. Ob die Haushaltsbeträge reichen werden, um die vom Bundeskanzler in der Kabinettsitzung vom 14. Juni 2000 so benannte "Jahrhundertreform" der Bundeswehr zu finanzieren, wird allerdings von den meisten Kommentatoren bezweifelt.

V. Die neue Bundeswehr

Der Umbau der Bundeswehr soll im April 2001 beginnen und im Jahr 2006 im Wesentlichen abgeschlossen sein. Der Zeit- und Arbeitsplan für die Reform wird derzeit erstellt. In der Prüfung ist die Verabschiedung eines "Programmgesetzes" nach französischem Vorbild. Es soll Art, Umfang und Reihenfolge der Reformmaßnahmen bestimmen und den erforderlichen Finanzrahmen festlegen. Auf diese Weise könnte finanziellen Einbrüchen vorgebeugt und für ein Höchstmaß an Planungssicherheit gesorgt werden.

Die künftige Bundeswehr wird eine neue Teilstreitkraft mit eigenem Inspekteur bekommen. Neben Heer, Luftwaffe, Marine und den Zentralen Sanitätsdienst tritt die in der Regierungskonzeption so benannte "Streitkräftebasis" (SKB). Der neue Organisationsbereich wird mit rund 50 000 Soldaten und einem noch zu bestimmenden Anteil von Zivilpersonal fast so groß sein wie die Luftwaffe und Marine zusammen. Er wird nicht nur alle Querschnittsaufgaben wahrnehmen, sondern auch für die Planung und Führung von Einsätzen zuständig sein sowie die gesamte Logistik, das Kraftfahrwesen, die bodengebundenen Fernmeldekräfte und die Feldjäger übernehmen. Hinzu kommen die Aufgaben im Umweltschutz und bei der ABC-Abwehr. Die Weizsäcker-Kommission hatte ebenfalls dazu geraten, alle teilstreitkraft-übergreifenden, territorialen und unterstützenden Aufgaben in einem Organisationsbereich "Zentrale Militärische Dienste" zusammenzufassen.

Weibliche Soldaten waren in der Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang ein Tabuthema. Heute sind sogar Bündnis 90/DIE GRÜNEN für den freiwilligen Dienst von Frauen in den Streitkräften. Die ersten Soldatinnen will die Bundeswehr im Januar 2001 einstellen. Ihnen werden grundsätzlich alle Laufbahnen und alle militärischen Verwendungen offen stehen, so wie dies in fast allen NATO-Staaten

der Fall ist (s. Tab. 4). Einige Ausnahmen wird es aber wohl doch geben. Auf die Begründung darf man gespannt sein.

Teil der Bundeswehr-Reform und gleichzeitig eine notwendige Voraussetzung für den Umbau ist die eingeleitete zivilberufliche Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive. Wer bereits über eine Berufsausbildung verfügt, soll sie während der Dienstzeit verbessern können. Wer ohne Ausbildung in die Bundeswehr kommt, erhält eine später verwertbare Qualifikation. Daneben wird es ein Bündel von Laufbahn- und Besoldungsverbesserungen geben mit dem Ziel, die strukturellen Verwerfungen im Personalbestand zu korrigieren, die Attraktivität des Soldatenberufs zu erhöhen und die Bereitschaft zum freiwilligen Dienst in der Bundeswehr zu fördern.

Material und Ausrüstung sollen umfassend modernisiert und den neuen Aufgaben angepasst werden. Auch in dieser Hinsicht stimmen Regierungskonzept und Kommissionsbericht überein. Überflüssige Kapazitäten werden aufgegeben, damit neue Fähigkeiten erworben werden können. Ein Rüstungsrat unter Vorsitz des Generalinspekteurs der Bundeswehr wird die Ausrüstungsplanung künftig koordinieren. Die Führungsorganisation der Bundeswehr wird gestrafft und die Position des Generalinspekteurs gestärkt. Als Steuerungs- und Führungsinstrument der Leitung wird im Ministerium ein zentrales Controlling-Element eingerichtet . Die Überwachung und Steuerung der Informationstechnologie (IT) ist künftig Aufgabe eines IT-Direktors.

Die Territoriale Wehrorganisation wird verkleinert: aus sieben Wehrbereichskommandos werden vier Regionalkommandos. Im gleichen Umfang wird auch bei der Territorialen Wehrverwaltung gekürzt: aus sieben Wehrbereichsverwaltungen werden vier. Die organisatorische Trennung von Kreiswehrersatzämtern und Standortverwaltungen soll zugunsten von neuen "Dienstleistungszentren" aufgegeben werden. Lediglich bei der Zahl der künftigen Standorte gibt es zwischen dem Konzept der Bundesregierung und dem Bericht der Weizsäcker-Kommission eine Meinungsverschiedenheit. Dieser Dissens ist allerdings gravierend:

Die Kommission empfiehlt, Stationierungsentscheidungen vornehmlich unter Wirtschaftlichkeitsaspekten zu treffen. Die Bundeswehr könne nicht Instrument regionaler Struktur- und Sozialpolitik sein, wie das in der Vergangenheit häufig der Fall war. Ausschlaggebend ist künftig höchstmögliche Effizienz angesichts begrenzter Ressourcen. Die Interessen der Länder und Kommunen müssten dahinter zurückstehen. Nach Ansicht der Kommission kann die Zahl der Standorte und Liegenschaften etwa halbiert werden. Dadurch ließe sich schätzungsweise eine Mrd. DM jährlich einsparen. Hinzu kämen Einnahmen aus Immobilienverkäufen, die dem Verteidigungshaushalt zufließen und für Investitionen verwendet werden sollten (Ziff. 244-226, 249-250).

Die Bundesregierung will allenfalls die 166 Kleinstandorte überprüfen und ansonsten die Zahl der Garnisonen so wenig wie möglich verändern, zumal hier in den vergangenen Jahren schon etliche aufgegeben worden seien. Die Bundeswehr "müsse auch weiterhin in der Fläche präsent sein" - so fordert es wortgleich auch das Papier der CSU zur Wehrreform. Das sei wesentliche Voraussetzung für die gesellschaftliche Einbindung der Soldaten und ihrer Familien. Einer ausschließlich an wirtschaftlichen Gesichtspunkten orientierten Stationierungspolitik seien Grenzen gesetzt. Das "Eckpfeiler-Papier" nennt die Rangfolge, nach der die anstehenden Stationierungsentscheidungen getroffen werden sollen: "Optimierung geht vor Reduzierung" (Ziff. 77).

Über die künftigen Standorte der Bundeswehr muss bald befunden werden. Angesichts der Bedeutung eines Bundeswehrstandorts als lokalem wie regionalem Wirtschaftsfaktor ist klar, dass in der Stationierungsplanung eine Menge Zündstoff steckt. Neben Umfang, Wehrform und Haushalt wird sich die Stationierungsfrage als das vierte große Streitthema der Wehrreform erweisen.

VI. Innere Führung: Die große Gemeinsamkeit

Bei allen Meinungsverschiedenheiten über Umfang, Wehrform und Finanzen gibt es in den zahlreichen Entwürfen und Konzepten zur Wehrreform eine große Übereinstimmung: das ist die uneingeschränkte Zustimmung zu den Grundsätzen der Inneren Führung. Sie sind die wahren "Eckpfeiler" der deutschen Streitkräfte. Nach den Grundideen der Inneren Führung ist die Bundeswehr aufgebaut worden. Auch unter veränderten Umständen haben sie ihre Tragfähigkeit über mehr als vier Jahrzehnte hindurch bewiesen. Deshalb will niemand an den bewährten Pfeilern der Inneren Führung rütteln - nicht einmal die PDS.

Für die Weizsäcker-Kommission bleibt die Innere Führung "das Modell für die Zukunft". Im Hinblick auf die neuen Aufgaben und auf die neuen Strukturen der Streitkräfte empfiehlt sie eine Weiterentwicklung und Stärkung der Praxis der Inneren Führung. Unbeschadet notwendiger Anpassungen, die durch fortschreitende multinationale Einbindung erforderlich werden können, sollte die Bundeswehr an der Inneren Führung als ihrer besonderen Führungsphilosphie auch künftig festhalten (Ziff. 10, 211-215).

Ebenso klar und eindeutig sind die hierzu getroffenen Festlegungen im Reformkonzept der Bundesregierung: Das Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform" und die Innere Führung bleiben "Richtschnur für die Zukunft". Die neuen Aufgaben der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung können erfolgreich nur wahrgenommen werden, wenn der Soldat fest in die Werteordnung des Grundgesetzes eingebunden ist und er sein Handeln und sein Selbstverständnis an Menschenwürde, Recht und Freiheit orientiert. Politische Bildung soll ihm helfen, sich in einer komplexer werdenden Welt zurechtzufinden (Ziff. 29-33).

Die Grundsätze der Inneren Führung werden also auch in der neuen Bundeswehr ihre Gültigkeit behalten. Soldaten sind weiterhin "Staatsbürger in Uniform". Unbeschadet der Umwälzungen durch die Wehrreform verbleibt der Bundeswehr und ihren Soldaten damit auch ein Stück persönlicher und organisatorischer Identität.

Fussnoten

Fußnoten

  1. "Rotation" meint den regelmäßigen Austausch der Einsatzkräfte. Je nach Einsatzdauer und Heimataufenthalt rechnet man mit einem "Rotationsfaktor" von fünf bis sieben. Das heißt, um beispielsweise auf dem Balkan ein Kontingent von 10 000 Soldaten über längere Zeit im Einsatz zu halten, werden Einsatzkräfte in einer fünf- bis siebenfachen Gesamtstärke gebraucht.

  2. Die Schwierigkeiten der Bundeswehr bei der Erfüllung ihrer Verpflichtung auf dem Balkan hat der damalige Generalinspekteur von Kirchbach auf der 37. Kommandeurtagung der Bundeswehr im November 1999 in Hamburg wie folgt beschrieben: "Der Kraftaufwand für die Sicherstellung der laufenden Einsätze ist enorm. Nach Abschluss des laufenden Kontingentwechsels werden es 63 000 Soldaten sein, die dann auf dem Balkan eingesetzt waren oder sind. Über 1 600 Soldaten haben bis heute mehrfach bis zu fünf, in einem Ausnahmefall sechsmal an einem Einsatz teilgenommen. Die fortlaufende Zusammenstellung der Kontingente aus zahlreichen Garnisonen quer durch Deutschland, ihre Ausbildung und Unterstützung nehmen die gesamten Streitkräfte unvergleichlich in Anspruch. Die rund 6 000 Soldaten des deutschen KFOR-Kontingents beispielsweise stammen trotz aller Verbesserungen in den letzten Jahren aus rund 1 000 Dienststellen."

  3. Das sind die drei Leitlinien zur Weiterentwicklung von Streitkräften und Wehrverwaltung vom Januar 1999, die Vereinbarung mit deutschen Unternehmen zur "Förderung der Zusammenarbeit in der beruflichen Qualifizierung und Beschäftigung" vom Juli 1999, der Rahmenvertrag "Innovation, Investition und Wirtschaftlichkeit in der Bundeswehr" vom Dezember 1999 sowie weitere Verträge mit Wirtschaft und Industrie. Die im Mai 2000 gegründete Agentur "Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb" (GEBB) ist bereits eine Maßnahme zur Reform der Bundeswehr.

  4. Rudolf Scharping, Pfeiler der Zukunft. Die Bundeswehr vor einer Reform von Grund auf, in: Information für die Truppe, (2000) 6, S. 7.

  5. Vgl. dazu Charles C. Moskos/John Allen Williams/David Segal, The Post-Modern Military. Armed Forces After the Cold War, New York - Oxford 2000.

  6. Die genauen Zahlen ihres Reformmodells hat die Bundesregierung offen gelassen. Das "Eckpfeiler-Papier" nennt "Richtgrößen" zwischen 277 000 und 280 000 Soldaten und führt dazu aus, dass der exakte Bedarf erst nach der Feinausplanung der neuen Streitkräftestruktur festgelegt werden kann. Die 22 000-25 000 Soldaten in Ausbildung und zivilberuflicher Qualifizierung werden dem "Präsenzumfang" nicht zugerechnet, aber sie sind natürlich da und müssen auch bezahlt werden (Ziff. 54-58).

  7. Stefan Schmitz, Ausgedient, in: stern-magazin, Nr. 21 vom 18. Mai 2000, S. 214.

  8. Das sind laut "Eckpfeiler-Papier" eine heimat- und berufsnahe Verwendung, ein erhöhter Wehrsold ab dem 7. Dienstmonat und ein erhöhtes Entlassungsgeld (Ziff. 62).

  9. Zum 1. Juli 2000 ist der Zivildienst von bisher 13 auf 11 Monate verkürzt worden. Um den Haushalt weiter zu konsolidieren, soll die Zahl der zum Zivildienst herangezogenen Kriegesdienstverweigerer um jährlich rund 15 000 abgesenkt werden. Nach den Empfehlungen der Arbeitsgruppe "Zukunft des Zivildienstes" vom 14. September 2000 soll der Zivildienst ab Januar 2002 nur noch zehn Monate dauern. Das erlaubt bis zu 141 000 Einberufungen im Jahr 2002 gegenüber 134 000 im Haushaltsjahr 2001.

  10. Controlling (aus dem Englischen übersetzt als "Beherrschung, Regelung, Steuerung eines Vorgangs") wird fälschlicherweise oft als "Kontrolle" verstanden. Das ist aber lediglich ein einzelner, überdies ein verengter Aspekt. Controlling ist ein Steuerungsinstrument der Unternehmensleitung. Es unterstützt die Leitung in dem Bemühen, die Unternehmensziele zu erreichen, indem es Überlastung reduziert, Fehlentwicklungen rechtzeitig aufdeckt und frühzeitiges Eingreifen fördert. Das Controlling sammelt Informationen, analysiert und filtert sie und stellt sie adressaten- und problemorientiert bereit. Damit werden die Entscheidungen der Leitung erleichtert und effizienter gemacht. Neben der Kosten- und Leistungsrechnung findet der Gedanke einer Führungsunterstützung durch Controlling zunehmend Eingang in die öffentliche Verwaltung.

Dir. u. Prof., geb. 1940; 1984-1996 Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr; seit 1997 an der Universität der Bundeswehr in München; von Januar bis Mai 2000 Mitglied des Sekretariats der von Richard von Weizsäcker geleiteten Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr".

Anschrift: Universität der Bundeswehr, Werner-Heisenberg-Weg 39, 85577 Neubiberg.

Zahlreiche Veröffentlichungen zur Militärsoziologie und Sicherheitspolitik.