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Streit um die streitbare Demokratie. Ein Rückblick auf die Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik | Innere Sicherheit | bpb.de

APuZ Editorial Innere Sicherheit als Thema parteipolitischer Auseinandersetzung Soziale Tatsachen. Eine wissenssoziologische Perspektive auf den "Gefährder" Siegeszug der Algorithmen? Predictive Policing im deutschsprachigen Raum Ausnahmefall Deutschland. Die Debatte um einen Einsatz der Bundeswehr im Innern Autonome und Gewalt. Das Gefahrenpotenzial im Linksextremismus Objektive und subjektive Sicherheit in Deutschland Streit um die streitbare Demokratie.

Streit um die streitbare Demokratie. Ein Rückblick auf die Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik

Dominik Rigoll

/ 15 Minuten zu lesen

Studien zur Geschichte des Umgangs des liberalen Rechtsstaates mit politischem Radikalismus in der Bundesrepublik betonen häufig, dass seit der Staatsgründung 1949 ein "antitotalitärer Konsens" bestanden habe, wonach der Bestand der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" vor allem gegen kommunistische und rechtsradikale Gruppen verteidigt werden musste. Angesichts der SED-Diktatur und antikommunistischer Kontinuitäten zum "Dritten Reich" habe im Kalten Krieg allerdings weniger die radikale Rechte im Visier der Sicherheitsbehörden gestanden als vielmehr die von der DDR abhängige Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Dabei habe der Kommunismus-Vorwurf bisweilen auch die SPD getroffen und linkes Denken generell diskreditiert.

Neuere Forschungen zur Geschichte der westdeutschen Sicherheitsbehörden sowie der Blick in lange verschlossene Archivbestände in Deutschland und den USA bestätigen diesen Befund einerseits. Andererseits wird aber auch deutlich, dass die Frage, wie das Grundgesetz sicherheitspolitisch ausgestaltet werden sollte, allen Bemühungen um Konsens zum Trotz hart umkämpft war. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung stand zum einen die Einschätzung der Gefahr, die von linken und rechten Radikalen jeweils ausging; zum anderen die Frage, inwiefern die Sicherheitsbehörden selbst die Demokratie gefährden konnten – zumal dort Personal arbeitete, das bereits im Sicherheits- oder Militärapparat des NS-Regimes tätig gewesen war.

Diese Dimension der inneren Sicherheit wird in der öffentlichen Debatte heute, aber auch in der politischen Bildung und der einschlägigen Forschung der vergangenen Jahrzehnte, höchstens gestreift. Denn die zehntausendfache Wiederverwendung von belastetem Personal in den Institutionen der inneren und äußeren Sicherheit wurde zunächst nur als soziales und später vor allem als moralisches, nicht jedoch als sicherheitspolitisches Problem untersucht. So konnte jahrzehntelang aus dem Blick geraten, dass in der frühen Bundesrepublik maßgebliche Akteure der inneren Sicherheit nicht etwa in der KPD und ihren vielen Hilfsorganisationen die größte Gefahr für die "freiheitliche demokratische Grundordnung" sahen, sondern im Abgleiten des Landes in einen rechtsautoritären Polizeistaat.

Bezugspunkt Staat oder Mensch?

Im Frühjahr 1937 hatte der im US-Exil lebende Sozialwissenschaftler Karl Loewenstein in der "American Political Science Review" einen Artikel über "Militant Democracy and Fundamental Rights" veröffentlicht, in dem er die Selbstschutzmechanismen mehrerer europäischer Staaten miteinander verglich. Wie der Titel andeutet, legte er Wert darauf, dass die "streitbare Demokratie" nicht nur den Schutz des Staates im Auge haben müsse, sondern auch der Grundrechte. Die Hauptgefahr sah er im Faschismus. Für seinen Kollegen Karl Mannheim, der zur gleichen Zeit im britischen Exil über "militant democracy" nachdachte, war diese keine Aufgabe des Staates, sondern der Zivilgesellschaft: An ihr sei es, durch politische Bildung und ein soziales Miteinander eine die Demokratie stabilisierende Werteordnung zu schaffen.

Obwohl der Tenor des Grundgesetzes es angeboten hätte, wurden Loewenstein und Mannheim von der westdeutschen Staatsrechtslehre nicht wirklich rezipiert. Die "wachsame Demokratie", die der Bonner Staatsrechtler Ulrich Scheuner in den 1950er Jahren konzipierte, war ganz "vom Staat her" gedacht, in der Zivilgesellschaft sah Scheuner keinen relevanten Akteur. Bildung dachte er als "Erziehung des Volkes" und "Förderung der Staatsgesinnung". Die Grundrechte von "Verfassungsfeinden" sah er bereits ausreichend geschützt, wenn ihnen der Rechtsweg offen stand und das Handeln der Sicherheitsbehörden im Nachhinein von Gerichten auf Rechtmäßigkeit überprüft werden konnte – das sei im Bonner Rechtsstaat der Fall. Die Ausrichtung seiner "wachsamen Demokratie" war klar antikommunistisch, nicht antifaschistisch.

Warum dachte Scheuner Demokratieschutz so anders als Loewenstein und Mannheim? Zweifellos war er einfach konservativer, aber der Dissens zwischen ihm und den beiden Gründervätern der "streitbaren Demokratie" hatte auch eine vergangenheitspolitische Dimension: Scheuner zählte zu jenen Beamten, die 1945 als unzuverlässig entlassen worden waren. Unter anderem hatte er 1933 die "nationale Revolution" begrüßt. Indem er den von Loewenstein und Mannheim, die 1933 aus Deutschland geflohen waren, noch antifaschistisch und staatsskeptisch gedachten Ansatz in eine antikommunistische und staatsgläubige Variante überführte, geriet in den Hintergrund, wer aus welchen Gründen zuerst auf demokratische Streitbarkeit hingearbeitet hatte, sodass jemand wie Scheuner als Demokratieschützer auftreten konnte.

Wer hat Angst vor der Renazifizierung?

Eine Schlüsselrolle bei der Beantwortung der Frage, wie das Grundgesetz in Sachen innere und äußere Sicherheit ausgelegt werden konnte, spielten die Alliierten. Bis 1955 behielt sich die Alliierte Hohe Kommission kraft Besatzungsstatut das Recht vor, "die Ausübung der vollen Regierungsgewalt" wieder aufzunehmen, wenn dies "aus Sicherheitsgründen oder zur Aufrechterhaltung der demokratischen Regierungsform" notwendig erschien. Bis zur Verabschiedung der Notstandsverfassung 1968 konnten die Alliierten laut dem 1955 in Kraft getretenen Deutschlandvertrag bei einer "ernstlichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" intervenieren. Die alliierten Vorstellungen zur sicherheitspolitischen Lage in Westdeutschland durchliefen mit der Zeit einen grundlegenden Wandel. War in der Gründungsphase die Furcht vor einem Rückfall in den Polizeistaat noch immens gewesen, rückte bald die kommunistische Gefahr in den Vordergrund; ein Grundmisstrauen blieb jedoch.

Obwohl gerade die US-Besatzungsbehörden kaum weniger antikommunistisch eingestellt waren als die Bundesregierung, war in ihren Augen die red scare zunächst weniger akut als ein Phänomen, das sie als renazification bezeichneten. Damit war nicht nur ein Erstarken rechtsradikaler und revanchistischer Kräfte gemeint, ermöglicht durch die Freiheiten, die das Grundgesetz bot. Die Besatzer registrierten auch, dass 1949 "viele ehemalige Nazis" in "Machtpositionen" zurückkamen. In der Tat wurden von den rund 55.000 Beamten, die 1945 entlassen worden waren, mehr als 53.000 rehabilitiert. Die "Kombination beider Trends" schuf eine "Atmosphäre", in der ein "autokratisches, diktatorisches und undemokratisches Regime" die "Kontrolle" übernehmen konnte.

Viele Deutsche, die im Nationalsozialismus verfolgt oder diskriminiert worden waren, teilten die Sorge vor einer Renazifizierung. Der "Kronjurist" der SPD, Adolf Arndt, der einst als "Halbjude" gegolten hatte, war noch 1958 davon überzeugt, dass die größte Gefahr "nicht bei den fünf Prozent verrückter Rechtsradikaler" liege, "sondern in der Unterwanderung der Demokratie [vonseiten] feindlicher Elemente bei den höchsten Stellen". Derlei sagte ein SPD-Politiker freilich nur hinter verschlossenen Türen.

Im öffentlichen Sprachgebrauch hingegen verlegten sich Belastete wie Unbelastete schon sehr früh darauf, die zurückkehrenden NS-Funktionseliten nicht als Sicherheitsproblem zu behandeln, sondern als Problem der materiellen Absicherung und symbolischen Rehabilitation: Anstatt die alten Beamten mit unangenehmen Fragen nach ihrem Karriereverlauf im Dritten Reich in die Hände rechtsradikaler Parteien zu treiben, sollten sie lieber mit Bezügen und Pensionen ruhiggestellt werden.

Bei vielen Deutschen lag einer solchen Haltung schlicht der Umstand zugrunde, dass sie die Zurückkehrenden nicht als Gefahr wahrnahmen, sondern im Gegenteil als Zugewinn an Sicherheit nach einer Periode der politischen und sozialen Instabilität, verursacht durch die alliierte Besatzung und den internationalen Linksruck nach 1945. Andere mochten wiederum tatsächlich kalkuliert haben, dass 53.000 verbeamtete ehemalige Nationalsozialisten die Demokratie weniger bedrohten als 53.000 arbeitslose; entsprechendes galt für die rund 190.000 Berufssoldaten, die nach 1945 von den Alliierten mit Berufsverbot belegt worden waren. Beide Gruppen wurden in der frühen Bundesrepublik nicht nur wegen ihrer "fachlichen Expertise" umworben, wie es offiziell hieß. Darüber hinaus galt es, die Bildung jener antidemokratischen Masse aufsässiger Veteranen zu verhindern, die nach 1918 die erste Republik destabilisiert hatte. Erst so wird erklärbar, dass auch und gerade mäßig qualifizierte NS-Belastete in die Sicherheitsbehörden eingestellt wurden.

Letztlich ließen sich auch die Alliierten auf dieses Kalkül ein. Sehr fern lag der Gedanke einer Stabilisierung der Sicherheitssituation durch soziale Absicherung der Belasteten insbesondere den Amerikanern ohnehin nicht. Schließlich arbeiteten viele hundert ehemalige Angehörige des NS-Militär- und Sicherheitsapparates bereits seit 1945/46 für US-Geheimdienste – freilich unter strengster Geheimhaltung. Im September 1950 gaben die Alliierten grünes Licht für den Aufbau eines Bundesverfassungsschutzes (BfV), eines Bundeskriminalamtes (BKA) und eines Bundesgrenzschutzes (BGS). Sie signalisierten sogar, dass möglicherweise bald westdeutsche Berufssoldaten gebraucht würden.

Für die Berufssoldaten, die 1945 entlassen worden waren, mochte diese Ankündigung ein begrüßenswerter Schritt hin zu materieller Absicherung und symbolischer Rehabilitierung sein. Für viele andere war die Vorstellung, dass die Bundesrepublik fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges wiederbewaffnet werden würde, ein Schreckensszenario, das nicht nur die äußere, sondern auch die innere Sicherheit des Landes bedrohte. Der erste Bundesinnenminister, Gustav Heinemann, der im Dritten Reich in der kirchlichen Opposition aktiv gewesen war, trat im Oktober 1950 aus ebendiesem Grund zurück: Da antidemokratische Kräfte in Staat und Gesellschaft noch viel zu stark seien, werde die "Remilitarisierung die Renazifizierung nach sich ziehen".

Heinemanns Haltung wurde von vielen konservativen Zeitgenossen als "moralistisch" belächelt. Aus sicherheitshistorischer Perspektive erscheint sie vor allem als Plädoyer für ein Festhalten der Alliierten an ihrer bisherigen Besatzungspolitik: Die Sicherheit sollte weiter von den alliierten Truppen gewährleistet werden, damit der westdeutschen Gesellschaft mehr Zeit blieb, "Civilcourage" zu entwickeln – ein Gedanke, der sich auch in Karl Mannheims Konzept der "militant democracy" wiederfindet. Davon abgesehen waren die Befürchtungen des Innenministers den Alliierten so fremd nicht. Jedoch artikulierten auch sie das Misstrauen kaum noch öffentlich, das sie den deutschen Sicherheitsbehörden gegenüber hegten. Eine wichtige Ausnahme war 1953 eine britische Kommandoaktion gegen den Versuch von Rechtsradikalen, die FDP zu unterwandern. Die Verhaftung mehrerer rechter "Rädelsführer" auf der Grundlage des Besatzungsstatuts zeigt nicht nur, dass die Briten die "braune Gefahr" weiter ernst nahmen, sondern auch, dass sie den deutschen Sicherheitsleuten hierbei nicht über den Weg trauten. Greifbar wird das alliierte Grundmisstrauen aber auch darin, dass BKA und BfV beobachtet wurden und erst nach 1968 zu den mächtigen Institutionen ausgebaut werden konnten, die sie heute sind.

Staatsschutz oder streitbare Demokratie?

Einer der wenigen Akteure, die ähnliche Akzente setzten wie Heinemann, war der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts. Dieser unterschied sich in einem Punkt von fast allen anderen in die Politik der inneren Sicherheit involvierten Institutionen jener Zeit: Er war mehrheitlich mit Personen besetzt, die wie Heinemann selbst eindeutig unbelastet waren. Vergegenwärtigt man sich dies und liest die Urteile auch zwischen den Zeilen, wird deutlich, dass diese weniger für einen "antitotalitären Konsens" stehen als für einen grundlegenden sicherheitspolitischen Dissens.

So klärte der Erste Senat 1953, als Gruppen ehemaliger Gestapo-Beamter die Entnazifizierung als Unrecht bezeichneten, dass die Massenentlassungen von 1945 nicht nur rechtens, sondern zum Schutz der Demokratie notwendig gewesen seien: Um den Staat "aus der Verbindung mit der nationalsozialistischen Bewegung zu lösen und ihn von unten nach oben im demokratischen Sinne neu aufzubauen", hätten die "hinsichtlich ihrer politischen Zuverlässigkeit als ‚zweifelhaft‘ geltenden Personen" nun einmal "durch andere, politisch zuverlässigere Personen ersetzt werden" müssen. Gestapo-Leuten, die zurück in den Polizeidienst wollten, erteilte das Gericht 1957 eine Absage: Es entstünden zu viele "Gefahren", wenn Personen, die womöglich "den Unterschied der Gestapoaufgaben von einer rechtsstaatlichen politischen Polizei subjektiv nicht zu erkennen vermögen, in das Beamtentum des demokratischen Staates eindrängen".

Nur waren ehemalige Gestapo-Männer längst in den Sicherheitsbehörden tätig – ebenso wie einstige Angehörige der Abwehr und des Sicherheitsdienstes der SS. Im BKA waren 1959 mindestens 65 Prozent der Leitungsstellen mit früheren SS-Leuten besetzt; 1965 wurde ein einstiger SS-Mann sogar BKA-Präsident. Im BfV fanden ehemalige SS- und Gestapo-Leute als "freie Mitarbeiter" in einem "Nebenbundesamt" eine Anstellung, das "unkontrolliert" von den Alliierten, dem Bundesinnenminister und "zunehmend auch ohne Aufsicht der Amtsspitze des Bundesamts selbst" agierte. Sowohl beim BfV als auch bei der später in den BND überführten Organisation Gehlen verhielten sich die Gestapo-Leute, wie es das Bundesverfassungsgericht befürchtete: Rechtsradikale Einstellungen und nichtrechtsstaatliche Praktiken lassen sich ebenso nachweisen wie Kontakte zu militaristischen Veteranen. Als "Staatsfeinde" überwacht wurden nicht nur Linke, sondern etwa auch Angehörige des konservativen Widerstands, die nach ihrer Verfolgungserfahrung antimilitaristische Positionen vertraten.

Einen weiteren sicherheitspolitischen Dissens markierte das Gericht beim Verbot der rechtsradikalen Sozialistischen Reichspartei (SRP) 1952. Einerseits gab der Erste Senat dem Verbotsantrag von Heinemanns Nachfolger als Bundesinnenminister, Robert Lehr, statt. Andererseits setzte er im Urteil einen Kontrapunkt zum politischen Strafrecht, auf dessen Grundlage die Justiz seit 1951 gegen Angehörige des KPD-Umfelds, aber auch gegen unorganisierte Einzelpersonen vorging. Das politische Strafrecht war im Bundesjustizministerium von Josef Schafheutle erarbeitet worden, einem Juristen, der bereits für das Staatsschutzrecht von 1934 verantwortlich gewesen war. Es enthielt eine Definition der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung", in der die Grundrechte nicht vorkamen. Der Senat reagierte auf diese Auslassung mit einer Umdefinition des Begriffs – nunmehr beginnend mit der "Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten". Damit stand das Gericht nicht nur im Einklang mit Loewenstein, sondern auch mit Heinemann, der 1949 gefordert hatte, "Staatswürde und Menschenwürde" zu "vereinig[en]".

Inzwischen hat es die Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung von 1952 in den Kanon der "streitbaren Demokratie" geschafft. Zeitgenössisch wurde sie kaum wahrgenommen – oder bewusst ignoriert. In einer Broschüre des Bundesinnenministeriums über "innere Sicherheit" von 1958 etwa fehlen die Grundrechte, obgleich sich der Autor, der ehemalige Beamte des Reichsinnenministeriums Hans Ritter von Lex, an der entsprechenden Stelle ausdrücklich auf das SRP-Urteil bezieht. Diese erneute Auslassung entspricht dem Geist, in dem die Bundesregierung Demokratieschutz zwischen dem Heinemann-Rücktritt 1950 und 1968 auslegte, als Heinemann – nun Bundesjustizminister – das politische Strafrecht entschärfte und eine KPD-Nachfolgepartei tolerieren ließ. Für die Bundesregierung waren Worte wie "innere Sicherheit" und "Verfassungsschutz" synonym mit "Staatssicherheit" und "Staatsschutz", also mit der "Abschirmung unseres Staatswesens selbst gegen eine Bedrohung durch den Staatsfeind".

Was ein solches Verständnis für die Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden und die betroffenen "Staatsfeinde" konkret bedeutete, ist erst in Ansätzen erforscht. Wenig ist bekannt über Dutzende Verbotsverfahren gegen KPD-Hilfsorganisationen – von der Freien Deutschen Jugend über die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes bis hin zur "Volksbefragung gegen die Remilitarisierung"; über die Öffnung von monatlich bis zu 8.000 Privatbriefen und die Vernichtung von jährlich 17,2 Millionen "staatsgefährdenden" Broschüren aus der DDR; über rund 125.000 Ermittlungsverfahren, die bis 1968 eingeleitet wurden und die zu etwa 7.000 rechtskräftigen Verurteilungen führten. Dabei zeigen Stichproben, dass nur ein Drittel der in Nordrhein-Westfalen strafrechtlich Verfolgten überhaupt Mitglieder der KPD oder ihrer Hilfsorganisationen waren.

Wie ist dieses harte Vorgehen zu erklären? Die offizielle Begründung lautete seit 1950, die Bundesrepublik sei von einem Angriff des Ostblocks und einem kommunistischen Aufstand akut bedroht. Später war eher vage von einer potenziellen Gefahr die Rede, die vom "bolschewistischen Eroberungswillen" ausgehe. Diese Ängste sind einerseits nachvollziehbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es nach 1918 neben rechtsradikalen Putschversuchen auch kommunistische Aufstände gegeben hatte. Zudem befürchteten viele Deutsche zweifellos, die Sowjetunion könnte sich für die 27 Millionen Todesopfer rächen, die der Vernichtungskrieg der Wehrmacht sie gekostet hatte. Andererseits finden sich in den Akten des Bonner Innenministeriums keine Belege dafür, dass die KPD tatsächlich willens oder in der Lage gewesen wäre, einen Aufstand anzuzetteln. Dass ein deutsch-deutscher "Bruderkrieg" bevorstand, bezweifelten nach 1949 nicht nur alliierte Stellen, die SPD und Heinemann, sondern sogar die Mehrheit der Bevölkerung, obwohl deren Antikommunismus US-Umfragen zufolge sehr ausgeprägt war.

Was die KPD und ihr Umfeld für die Regierung akut gefährlich machte, war vielleicht weniger ihr revolutionäres Potenzial als ihre aggressive und unablässige Propaganda: zum einen gegen die Wiederbewaffnung, die von einer Mehrheit der Westdeutschen lange Zeit abgelehnt wurde; zum anderen gegen die Gefahren einer Wiederverwendung von belasteten Beamten und Berufssoldaten in Ministerien, Sicherheitsbehörden und bei der Armee, die weltweit als Skandalon empfunden wurde. Dies war – jedenfalls aus Bonner Sicht – der informationspolitische Kern des Propagandakrieges.

Doch der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts sträubte sich jahrelang dagegen, die KPD zu verbieten. Dabei waren auch die Richter überzeugte Antikommunisten. Ihnen war bewusst, dass die KPD und die Organisationen in ihrem Umfeld politisch und finanziell von der SED-Diktatur abhingen und in vielerlei Hinsicht als deren verlängerter Arm agierten. Gleichwohl hielten sie die Partei für wenig gefährlich und glaubten, dass die Bundesregierung die Demokratie besser schützte, wenn sie auf ein Verbot verzichtete und so die Möglichkeit für einen deutsch-deutschen Ausgleich offenließ. Wurde die KPD verboten, konnte es gesamtdeutsche Wahlen und damit eine friedliche Wiedervereinigung bis auf Weiteres nicht geben. Hier trafen sich die Ansichten des Gerichts mit denen Heinemanns – aber auch Loewensteins, der sein Konzept zur selben Zeit durch den McCarthyismus in den USA missbraucht sah.

Vor diesem Hintergrund führte der Erste Senat im KPD-Urteil 1956 erstmals den Begriff "streitbare Demokratie" in die westdeutsche Debatte ein. Das Gericht definierte den Terminus ganz anders als die Bundesregierung den "Staatsschutz": nicht als unmissverständliche Aufforderung zum offensiven Vorgehen gegen verfassungswidrige Aktivitäten, sondern im Gegenteil als Auftrag an die Politik, vor jeder staatlichen Demokratieschutzmaßnahme genau abzuwägen, ob diese wirklich vonnöten ist. In diesem vorsichtig abwägenden Sinn sei das Konzept zu verstehen – als "Lösung eines Grenzproblems der freiheitlichen demokratischen Staatsordnung". Eine Absage erteilte das Gericht damit auch jenen, die – wie der eingangs zitierte Ulrich Scheuner – die Grundrechte schon dann für ausreichend geschützt hielten, wenn den Betroffenen staatlicher Repression der Rechtsweg offenstand: Grundrechtsschutz sollte nicht erst im Nachhinein erfolgen, sondern möglichst, bevor das Kind in den Brunnen gefallen war.

Schluss

Man könnte erwarten, dass die "streitbare Demokratie" des KPD-Urteils breit diskutiert wurde, doch nichts dergleichen geschah. Im Volltextarchiv des "Spiegel" etwa kommt der Begriff bis 1970 kein einziges Mal vor. Allerdings nahm ein vollkommen anders besetztes Bundesverfassungsgericht 1969/70 von der Öffentlichkeit fast unbemerkt eine erneute Justierung des Konzepts vor. In mehreren Urteilen griff es den Terminus auf und definierte ihn wieder dahingehend um, dass das Konzept wie in Scheuners Variante ganz vom Staat her gedacht wurde. Treibende Kraft hinter dieser autoritären Neuausrichtung der "streitbaren Demokratie" war der Richter Willi Geiger. Er hatte eine ähnliche Biografie wie Scheuner, war aber jünger und noch stärker belastet – normativ gesprochen: Für den Rechtsstaat war er "eigentlich unbrauchbar".

Drei Verfassungsrichter, die allesamt unbelastet waren, formulierten ein Sondervotum gegen die Neudefinition. Sie erinnerten an das abwägende KPD-Urteil von 1956 und warnten, dass sich die "streitbare Demokratie" "gegen sich selbst" kehre, wenn sie von der "Staatsräson" her gedacht werde und nicht "unter Berücksichtigung des Wertes, den das Grundgesetz den Individualrechten beimißt". Für die Politik der inneren Sicherheit der 1970er Jahre maßgeblich waren allerdings nicht das Sondervotum, sondern die eigentlichen Urteile. Entsprechend schwer fiel es den Sicherheitsbehöden, auch in ihrem eigenen Handeln eine potenzielle Gefahr für die Demoratie zu erkennen. Allein zwischen 1973 und 1978 wurden 1,3 Millionen Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst beim Verfassungsschutz überprüft, was zu mehreren Tausend umstrittenen Ablehnungsverfahren wegen tatsächlichem oder vermeintlichem "Extremismus" führte. Rechtskräftig abgelehnt wurden am Ende nur rund 1.000 Personen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zuletzt etwa Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 148–151.

  2. Vgl. Imanuel Baumann et al., Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2012; Gerhard Sälter, Die Organisation Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo-Feindbildes "Rote Kapelle", Berlin 2016; Constantin Goschler/Michael Wala, Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit, Reinbek 2015; Manfred Görtemaker/Christian Safferling, Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016; Dominik Rigoll, Innere Sicherheit, in: Frank Bösch/Andreas Wirsching, Die Nachkriegsgeschichte des Bundesministeriums des Innern (BMI) und des Ministeriums des Innern der DDR (MdI), München–Potsdam 2015, Externer Link: http://www.geschichte-innenministerien.de.

  3. Vgl. Udo Wengst, Beamtentum zwischen Reform und Tradition, Düsseldorf 1988; Ulrich Brochhagen, Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer, Berlin 1999; Norbert Frei, Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

  4. Vgl. hier und im Folgenden auch Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland, Göttingen 2013.

  5. Karl Mannheim, Wartime Essays of a Sociologist, London 1999, S. 7f.

  6. Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004; zu Scheuner vgl. auch Rigoll (Anm. 4), S. 96–100.

  7. Ulrich Scheuner, Der Verfassungsschutz im Bonner Grundgesetz, in: Recht und Gerechtigkeit, Stuttgart 1950, S. 313–330, hier S. 325f.; vgl. außerdem ders., Politische Betätigung von Beamten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, in: Deutscher Bund für Bürgerrechte (Hrsg.), Politische Treuepflicht im öffentlichen Dienst, Frankfurt/M. 1950, S. 65–91.

  8. Vgl. ders., Die nationale Revolution, in: Archiv des öffentlichen Rechts 24/1934, S. 166–220, S. 261–344.

  9. Hier und im Folgenden Newman an McCloy, 24.10.1949, National Archives and Records Administration (NARA), RG 466/A1/267/1 (eigene Übersetzung).

  10. Ein Drittel der Befragten in einer US-Umfrage unter 59 bayerischen Funktionseliten 1949, NARA, RG 260/B3C1/31.

  11. Zit. nach Gerd Kühling, Erinnerung an nationalsozialistische Verbrechen in Berlin, Berlin 2015, S. 358.

  12. Vgl. auch Dominik Rigoll, NS-Belastung und NS-Verfolgungserfahrung bei Bundestagsabgeordneten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1/2014, S. 128–140.

  13. Die Politikwissenschaft bezeichnet solche Umdeutungen auch als "Entsicherheitlichung". Vgl. etwa Ole Wæver, Securitization and Desecuritization, in: Ronnie D. Lipschutz (Hrsg.), On Security, New York 1995, S. 46–86.

  14. Vgl. Sälter (Anm. 2), Goschler/Wala (Anm. 2).

  15. Vgl. Sälter (Anm. 2), S. 67–118.

  16. Vgl. hier und im Folgenden Rigoll (Anm. 4), S. 83–94.

  17. Der Bundesminister des Innern an den Bundeskanzler, 9.10.1950, Externer Link: http://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/0/k/k1950k/kap1_4/para2_64.html.

  18. Gustav Heinemann, Mensch und Staat, 1949, Manuskript, Archiv der sozialen Demokratie, Heinemann I/122.

  19. Vgl. Frei (Anm. 3), S. 361–391; Baumann et al. (Anm. 2), S. 336–342; Goschler/Wala (Anm. 2), S. 308–315.

  20. Vgl. Johannes Feest, Die Bundesrichter, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht, Tübingen 1964, S. 127–156.

  21. BVerfGE (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts) 3, 58 (Beamtenverhältnisse), 17.12.1953.

  22. BVerfGE 6, 132 (Gestapo), 19.2.1957.

  23. Vgl. Baumann et al. (Anm. 2), S. 56ff.

  24. Goschler/Wala (Anm. 2), S. 54.

  25. Vgl. ebd., S. 127–133; Sälter (Anm. 2), S. 740–813.

  26. BVerfGE 2, 1 (SRP-Verbot), 23.10.1952.

  27. Heinemann (Anm. 18); zum SRP-Verbot vgl. auch Rigoll (Anm. 4), S. 115f.

  28. Etwa beim sächsischen Verfassungsschutz: Externer Link: http://www.verfassungsschutz.sachsen.de/975.htm.

  29. Hans Ritter von Lex, Die innere Sicherheit der Bundesrepublik, Bonn 1958, S. 8f.; ders., Die Voraussetzungen eines wirksamen Staatsschutzes, in: Die öffentliche Verwaltung 6/1960, S. 281–286.

  30. Eine Liste der bis 1958 erfolgten Verbote findet sich bei Hans Kluth, Die KPD in der Bundesrepublik, Köln 1959, 131f.

  31. Vgl. Josef Foschepoth, Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, Göttingen 2012.

  32. Vgl. Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968, Frankfurt/M. 1978; Baumann et al. (Anm. 2), S. 159–246.

  33. Vgl. Josef Foschepoth, Rolle und Bedeutung der KPD im deutsch-deutschen Systemkonflikt, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56/2008, S. 889–909, hier S. 907.

  34. Memorandum des Bundeskanzlers über die Sicherung des Bundesgebietes nach innen und außen, 29.8.1950, Externer Link: http://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/0/k/k1950k/kap1_4/para2_13.html.

  35. Gerhard Schröder, Sicherheit heute, in: Bulletin, 31.10.1958, S. 2017.

  36. Vgl. Rigoll (Anm. 4), S. 70–78; zu den Umfragen siehe Patrick Major, Communism and Anti-Communism in West Germany, 1945–1956, Oxford u.a. 1998, S. 271–277.

  37. Vgl. Dominik Rigoll, Politische Konflikte um sensible Akten im internationalen Vergleich, 2013, Externer Link: http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2013/id=4656.

  38. Vgl. ders. (Anm. 4), S. 135–138; Josef Foschepoth, Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg, Göttingen (i.E.).

  39. Vgl. Matthias Stoffregen, Karl Loewenstein und die Selbstverteidigung demokratischer Systeme, in: Robert Christian van Ooyen (Hrsg.), Das Staatsverständnis von Karl Loewenstein, Baden-Baden 2007, S. 157–191, hier S. 180ff.

  40. Vgl. BVerfGE 5, 85 (KPD-Verbot), 17.8.1956.

  41. Görtemaker/Safferling (Anm. 2), S. 97.

  42. Vgl. hier und im Folgenden Rigoll (Anm. 4), Kap. II–IV.

  43. BVerfGE 30, 1 (Abhörurteil), 7.7.1970.

  44. Vgl. Rigoll (Anm. 4), S. 444.

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ist promovierter Historiker und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. E-Mail Link: rigoll@zzf-potsdam.de