Seit einigen Jahren wird in Deutschland die Figur des "Gefährders" als polizeilicher Arbeitsbegriff verwendet, um Personen zu benennen und zu identifizieren, von denen in Zukunft möglicherweise eine terroristische Gefahr ausgehen könnte.
Was bedingt diese auch innerpolizeilich nicht unumstrittene Entwicklung,
Anders als mit Blick auf politische Entwicklungen in der sozialwissenschaftlichen Debatte verbreitet, rekurriert dieser Beitrag damit analytisch nicht auf Fragen konkreter Interessen und mächtiger Akteure. Auf sozialkonstruktivistische Theoriebildung abzustellen, bedeutet in diesem Fall, eine wissenssoziologische Betrachtungsweise anzulegen. Diese konzipiert Gegebenes nicht als an sich mit Bedeutung versehen, sondern als in seiner Bedeutung in sozialen Dynamiken durch menschliches Sagen und Tun hervorgebracht. Auf ganz bestimmte Art sozial denk- und auch sichtbar wird Bestehendes erst, weil es auf spezifische Weise bezeichnet, bewertet und zu anderen sozialen Sachverhalten in Relation gesetzt wird. Auf den staatlich-exekutiven Kontext übertragen heißt das, dass jede noch so instrumentell erscheinende institutionelle Rationalität auch durch ein kulturelles Verständnis dessen geprägt ist, was jeweils als Gegenstand institutioneller Bearbeitung gilt, und von dort aus, welche Bearbeitung als richtig, effektiv oder ethisch korrekt betrachtet wird.
Vom Risiko zur Katastrophe
Die Entstehung des Gefährders als Begriff in seiner hier untersuchten Bedeutung ist im Kontext von 9/11 anzusiedeln,
Die Anschläge von 9/11 fielen durch dieses präventive Erkennungsraster: Trotz ihrer außergewöhnlichen Größenordnung hatten die Sicherheitsbehörden sie nicht vorhergesehen, da sie schlichtweg aus Kalkulationen des bisher Geschehenen nicht ableitbar waren – Größe, Struktur und Anschlagsziel erwiesen sich als zu andersartig und unwahrscheinlich.
Der Gefährder als polizeilicher Arbeitsbegriff, wie er in dieser Zeit in deutschen Sicherheitsbehörden entstanden ist, stellt eine Antwort auf die Notwendigkeit dar, unterminierte Gewissheiten wiederherzustellen und Handlungsfähigkeit neu zu erarbeiten: Ganz im Sinne des präventiven Standbeins innerhalb der Kriminalpolitik ist sein Gebrauch mit der Zielsetzung verbunden, wieder "vor die Lage" zu kommen, also einzugreifen, bevor ein Verbrechen geschehen kann. Dem zugrunde liegt jedoch kein Risikomanagement wie im Bereich herkömmlicher Kriminalität, bei dem Kriminalitätsraten lediglich möglichst niedrig gehalten werden sollen. Vielmehr geht es darum, das Anschlagsrisiko auf null zu setzen, da die Schadenshöhe terroristischer Anschläge als inakzeptabel hoch angesehen wird.
Im Bereich des Terrorismus erweitert der Gefährder deshalb den klassischen Rechtsbegriff des "Tatverdächtigen", der in der Polizeiarbeit zuvor handlungsleitend war. Um jegliches Risiko auszuschließen, sind die Praktiken der Kriminalpolizeien nunmehr bereits im extremistischen Vorfeld angesiedelt
Um Personen der Kategorie des Gefährders zuordnen zu können, werden "Gefahrenermittlungen" durchgeführt, um das Gefahrenpotenzial bestimmter Personen festzustellen.
Die Einführung des Gefährders steht in diesem Sinne nicht einfach für eine Intensivierung des herkömmlichen präventiven Gedankens, sondern für eine neuartige Denkweise, die auf ein grundsätzlich unbegrenztes Möglichkeitsfeld von Gefahren rekurriert. Dem zugrunde liegt die Auffassung, dass es nicht ausreicht, das durchschnittlich Erwartbare zu antizipieren – nach 9/11 gilt das innerhalb der westlichen Polizeien als fast schon konservative Herangehensweise. Polizeien versuchen deshalb stärker, auch das Unwahrscheinliche zu berücksichtigen und stets vom Schlimmsten auszugehen, um auf alles vorbereitet zu sein. Nicht mehr allein gesicherte Informationen und berechenbare Risiken sind seitdem einzubeziehen, sondern auch unkalkulierbare Gefahren.
Es ist dabei nur folgerichtig, dass der Gefährder den nach 9/11 zunächst so prominenten Begriff des "Schläfers" ablöst: Dieser wurde von meinen Interviewpartnern immer wieder entschieden als ungeeignet und als nach 9/11 nur kurzzeitig in Verwendung begriffen zurückgewiesen. Als Bezeichnung für Agenten, die "unauffällig unter uns leben, jedoch für Anschläge jederzeit aktivierbar sind",
Vom delinquenten zum legalen Verhalten
Welche Daten werden nun von Gefährdern erhoben, und welche weiteren Maßnahmen sieht die Polizei für derart Kategorisierte vor? Zunächst wird ein Personagramm erstellt. "Mittlerweile 14 Seiten" werden dafür "mit Leben gefüllt", wie es ein Interviewpartner formuliert, indem Familienstand, Staatsangehörigkeit, aktuelle und frühere Wohnsitze, Konten und Kontobewegungen, Kraftfahrzeugbesitze, persönliche Telefonnummern und das persönliche Umfeld erfasst werden, gegebenenfalls auch der Asylstatus und der Weg der Einreise nach Deutschland. Auf dieser Basis werden "Standardmaßnahmen" angelegt. Auf Länderebene, in einer Verbunddatei oder qua Ausschreibung zur stillen Fahndung werden zum Beispiel Observationen vorgenommen. Die Informationen aus dem Personagramm werden auch eingesetzt, um Gefährder im Fall eines Terroranschlags als Täter ausschließen zu können, sofern durchgeführte Verbleibskontrollen sie an einem anderen als dem Anschlagsort lokalisieren. Unterschieden werden muss dabei zwischen Gefährdern, die punktuell heimlich überwacht werden, und solchen, bei denen dies rund um die Uhr der Fall ist. Mit den Maßnahmen wird die Zielsetzung verfolgt, eine Gefahr entweder auszuschließen oder aber diese, sofern strafrechtlich ein Verdacht gegen einen Gefährder vorliegt, in ein Strafverfahren zu überführen.
Brachten schon die bisherigen präventiven Praktiken der Kriminalitätsbekämpfung eine "forward projection of potential harm" mit sich,
Es wird hier schnell ersichtlich: Gefährder sind keine Täter, sie haben sich strafrechtlich nichts zuschulden kommen lassen. Gefährder sind aber auch keine herkömmlichen Verdächtigen, da für die Ermittlungen der Polizei nicht mehr beweiskräftige Tatsachen, sondern bereits Indizien ausreichen.
Nicht zuletzt etabliert die Polizei mit ihren Ermittlungen einen Mechanismus, der keinen Zustand der Sicherheit mehr kennt, sondern sich nur noch auf einem Kontinuum verschiedener Unsicherheitszustände bewegt. Denn da die präventiven Praktiken von der Frage des Rechtsbruchs weitgehend gelöst werden und weit vor ihm einsetzen, kann die "Nähe einer konkreten Gefahr" nie ganz ausgeschlossen werden, weil keine rechtlichen Kriterien für das Entkräften eines Gefährderstatus gegeben sind. Auch wenn die Ermittler in den Interviews erzählen, dass sie einer Person den Status des Gefährders wieder aberkennen, sobald die Überwachungen ohne Ergebnisse verlaufen, entspricht es der skizzierten Logik, dass Observationen, wie sie ebenfalls berichten, mehrere Jahre dauern können. Nicht nur der Anfangs- sondern auch der Endpunkt der heimlichen Überwachungen fallen so gänzlich in das Ermessen der Ermittler – ihre Entscheidung orientiert sich letztlich an außerrechtlichen Maßstäben.
Exkurs: Von der Unschuldsvermutung zur Beweislastumkehr
Weil viele als Gefährder Kategorisierte keine deutschen Staatsangehörige sind, werden Maßnahmen auch mit Bezug auf das Aufenthaltsgesetz getroffen. Dieses ist in seiner Struktur für die skizzierte Logik prädestiniert, da Betroffene in ihm rechtsstaatlich keinem so strengen Schutz wie im Strafrecht unterliegen. Als Verwaltungsrecht kennt das Aufenthaltsgesetz keine Unschuldsvermutung, vielmehr kehrt sich in ihm die Beweislast teilweise um. Probleme, die die Ermittler in Zusammenhang mit den Gefährdereinstufungen benennen, weil sie, wie es ein Interviewpartner ausdrückt, oft mit "recht weichen, schwachen Daten" zu tun haben und "Mutmaßungen" anstellen müssen, die vor Gericht oft nicht als "Fakten" anerkannt werden, tauchen im Aufenthaltsgesetz nur abgeschwächt auf. Das Aufenthaltsgesetz nimmt hier eine substitutive Funktion zum Strafrecht ein, weil sich Gefährder so einfacher "verfolgen" lassen.
Um Gefährder außer Landes zu weisen, werden Ausreiseverfügungen beziehungsweise Abschiebungen eruiert.
Mit Etablierung des Gefährders als Begriff und Praxis erfolgt auf Basis einer erleichterten Verdachtsgenerierung mithin kein allein heimlicher Zugriff auf Personen. Sofern der Status einer Person eine Anwendung des Aufenthaltsgesetzes erlaubt, werden als Gefährder Kategorisierte auch offen weitreichenden präventiven Maßnahmen unterzogen. Auch wenn diese rechtlich gesehen keine Bestrafungen darstellen, reichen die mit ihnen einhergehenden Grundrechtseinschränkungen in ihrer Qualität nah an den Charakter einer Bestrafung heran. Die Einschränkungen der Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit etwa lassen sich de facto als unterhalb der Ebene der Verurteilung und unter Aussparung des Prinzips der Unschuldsvermutung zustande kommende "Verdachtsstrafe" betrachten. Dieser Charakter manifestiert sich besonders deutlich in der unbefristeten vorbeugenden Haft für Gefährder, die Bayern kürzlich eingeführt hat,
Vom Diskurs zur sozialen Institution
Einzelne Begriffe werden dann populär, wenn der Eindruck entsteht, dass sie bestimmte Phänomene besser als die bislang etablierten Begriffe bezeichnen oder bisher unbekannte Probleme erkennbar machen können. Aus einer sprechakttheoretischen Perspektive, der zufolge Sprache nicht nur als Äußerung, sondern als eine Effekte zeitigende Sprechhandlung betrachtet wird, repräsentieren Begriffe gesellschaftliche Sachverhalte nicht nur, sie bringen diese selbst mit hervor.
Sichtbare Evidenz entwickelte der Gefährder im Institutionalisierungsprozess dabei nach kurzer Zeit nicht nur bedingt durch innerpolizeiliche Praktiken. So führten zunächst Aktivitäten parlamentarischer Kontrolle zur oben zitierten Definition des Begriffs durch die Polizei, als im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage nach Kriterien für Gefährdereinstufungen gefragt wurde. 2007 erfolgte dann für den Gefährder der erste – nicht unumstrittene – Wikipedia-Eintrag.
Die Analyse macht deutlich, dass die Polizei, anders als die klassische Rechtstheorie es vorsieht, das Recht nicht einfach bloß anwendet. Es sind hier gerade polizeiliche Praktiken, durch die kriminalpolitische Tatsachen erst generiert werden, die dann im Weiteren sogar rechtliche Maßnahmen nach sich ziehen. Dabei ist zweitrangig, dass der Gefährder im Recht begrifflich nicht institutionalisiert wird. In der polizeilichen Fachliteratur, aber auch von meinen Interviewpartnern, wird dies im Übrigen immer wieder explizit als nicht notwendig erachtet. Denn es ändert nichts daran, dass Kontakte zu anderen Personen, Bewegungsprofile und Verhalten fortan polizeilich oder aufenthaltsgesetzlich verfolg- und de facto sanktionierbar werden.
Besondere Voraussetzungen für derart weitreichende sozialkonstitutive Akte scheinen dabei vor allem gegeben, wenn Kriminalpolitiken einen besonderen Fokus auf Prävention entwickeln. Die zu ermittelnden Sachverhalte werden dann so weit von konkreten Gefahren oder festgestellten Rechtsbrüchen gelöst, dass Polizeien zunehmend aus außerrechtlichen Normen schöpfen. Da der polizeiliche Umgang mit den antizipierten Gefahren damit aber weniger eine kausale als eine operative Logik hat, ist der Gefährder möglicherweise nur der vorläufige Endpunkt einer derart vorausschauenden Entwicklung. Angesprochen ist an dieser Stelle nicht nur die Übertragung des Begriffs auf den Bereich des Links- und Rechtsextremismus seit 2005, sondern auch die Entstehung weiterer polizeilicher Arbeitsbegriffe. So beschreibt ein Interviewpartner, wie Personen erfasst werden, die dem Umfeld eines Gefährders zuzurechnen sind: "‚Relevante Person‘ ist ein ganz neuer Begriff. Der ist jetzt mit dem Begriff ‚Gefährder‘ entstanden, aber es gibt im Bereich der polizeilichen Betrachtung von Personen, Personengruppen und auch im Bereich der Strafverfolgung solche Begriffe, die unterstützt werden. Das kennen Sie ja auch." Vielleicht handelt es sich dabei um den potenziell-potenziellen Täter von morgen – im Vor-vor-vorfeld.