I. Die Europäische Union auf dem Weg zum sicherheitspolitischen Akteur
Im Anschluss an den revolutionären Wandel der Staatenwelt der Jahre 1989/91 und im Gefolge des ursächlich mit der Vereinigung Deutschlands zusammenhängenden Vertrags von Maastricht stellte sich dem Beobachter des europäischen Integrationsprozesses zunehmend die Frage, ob sich die Europäische Union über den wirtschafts- und währungspolitischen Bereich hinaus im Sinne Jean Monnets als force d'équilibre im internationalen System etablieren würde. Von der "Stunde Europas" war im Sommer 1991 häufig die Rede gewesen. Als aber der von Belgrad initiierte blutige Konflikt um politische Macht und ethnische Vorherrschaft im März 1998 an seinen Ausgangspunkt, das Kosovo, zurückkehrte, musste man in den Hauptstädten Europas endgültig erkennen, wie weit man davon entfernt war, in eigener Verantwortung auf die sicherheitspolitischen Risiken und Herausforderungen reagieren zu können und im Rahmen der transatlantischen Beziehungen eine ausgewogenere Verteilung der Lasten und Verantwortlichkeiten herzustellen. Im Kontext der Operation Allied Force dominierte die amerikanische Doktrin nicht nur die westliche Luftkriegsführung, sondern auch das Handeln auf der politischen Ebene
Die sicherheitspolitischen Beschlüsse der EU-Gipfeltreffen von Köln (Juni 1999), Helsinki (Dezember 1999) und Feira (Juni 2000) sind jedoch ein klares Anzeichen dafür, dass Milosevic<'s vierter Krieg in Europas Hinterhof innerhalb von acht Jahren "die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen" (Karl Marx) gebracht hat. Mit beispielloser Geschlossenheit und Zielstrebigkeit haben sich die Staats- und Regierungschefs auf einen ehrgeizigen, institutionelle und operative Elemente verbindenden Stufenplan zur Verwirklichung einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geeinigt, der es ihnen gut zehn Jahre nach der Petersberger Erklärung
Wenn die Beschlüsse in praktische Politik umgesetzt werden, werden sie langfristig auch das Gesicht des internationalen Staatensystems verändern. Erstens: Als handlungsfähige Politische Union würde die EU über ein geeignetes institutionelles Instrumentarium verfügen, mit dem Operationen koordiniert und ausgeführt werden können. Auf der Grundlage gleicher Werte und politischer Überzeugungen sowie im Bewusstsein der finanziellen Anforderungen würde sich die Union zu einem sicherheitspolitischen Akteur entwickeln, der selbständig zur Krisenprävention und zur Krisenbewältigung beitragen kann. Zweitens: Gerade weil eine Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik nur Teil eines größeren transatlantischen Projekts sein kann, würde damit auch eine Neudefinition der transatlantischen Beziehungen einhergehen. Dass Stabilität nur im Zusammenspiel mit der "europäischen Macht" USA zu gewährleisten ist und dass die vorhandene asymmetrische Beziehungsstruktur noch in den nächsten Jahren fortbestehen wird, ist unbestritten
II. Die historische Entwicklung
Die Geschichte einer genuin europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist so alt wie die Geschichte der europäischen Integration selbst. In den ausgehenden vierziger Jahren, als die Hauptstädte Westeuropas von der Furcht vor einer den Kontinent überrollenden Sowjetunion ergriffen wurden, übernahm der britische Außenminister Ernest Bevin die Rolle des Wortführers für eine "Western Union". Da das westliche Europa aber kaum drei Jahre nach Kriegsende, erschöpft von zwei Weltkriegen, viel zu schwach war, um sich allein gegen Stalins Sowjetunion behaupten zu können, ging es Bevin in erster Linie darum, die Vereinigten Staaten für eine sicherheitspolitische Garantie des Kontinents zu gewinnen. Insofern war der im März 1948 von Großbritannien, Frankreich und den Benelux-Staaten unterzeichnete Brüsseler Vertrag Katalysator für das im April des folgenden Jahres abgeschlossene Nordatlantische Bündnis.
In den sich anschließenden Jahren gab es verschiedene Bestrebungen, sicherheits- und verteidigungspolitische Elemente in den sich langsam beschleunigenden europäischen Integrationsprozess einzubauen. Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in der Pariser Nationalversammlung am 30. August 1954 bedeutete jedoch das Ende aller europäischen Bemühungen, eine eigenständige Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu gestalten. Daran konnte auch die Gründung der WEU - eine Modifizierung des Brüsseler Vertrags unter Einschluss Italiens und der Bundesrepublik Deutschland - im Oktober 1954 nichts ändern. Gedacht als westeuropäisches Militärbündnis mit einer engeren militärischen Beistandsgarantie als der des Atlantischen Bündnisses, wurde die WEU von Beginn an einer eigenständigen Rolle beraubt; indem ihre militärischen Funktionen in der NATO aufgingen, versank die neue Organisation WEU in einen dreißigjährigen Tiefschlaf, während das westliche Europa in Gestalt der Europäischen Gemeinschaften unter der externen amerikanischen Sicherheitsglocke kräftig gedieh, es der transatlantischen Gemeinschaft durch den Wiederaufbau demokratischer Gesellschaften und die Vertiefung der internen Integration Substanz verlieh und sich zu einer ernst zu nehmenden Zivilmacht auf der weltpolitischen Bühne entwickelte.
Sämtliche Versuche - vor allem französischer Staatspräsidenten und Regierungen, die sich allesamt mal mehr, mal weniger in der Tradition Charles de Gaulles als kühle Verfechter französischer Staatsräson begriffen -, den de facto inaktiven europäischen Sicherheitspfeiler wiederzubeleben, mussten am britischen Widerspruch scheitern. Die Briten, die sich - in Anlehnung an einen Ausspruch de Gaulles - seit ihrem verspäteten EG-Beitritt in der Rolle des zweiten Hahns auf dem europäischen Hühnerhof gefielen, befürchteten, ein Rütteln am Status quo könne das amerikanische Engagement und damit die Stabilität der Allianz leichtfertig untergraben. Darüber hinaus blieb ihr europäisches Engagement im Kern den Ideen verhaftet, die Winston Churchill bereits Anfang der dreißiger Jahre programmatisch vorgetragen und seither oft wiederholt hatte: "We are with Europe but not of it. We are linked but not comprised."
Angestoßen durch Zweifel an der amerikanischen Zuverlässigkeit, gewann die europäische Sicherheits- und Verteidigungsdebatte erst seit Oktober 1984 wieder langsam an Dynamik. Nachdem bereits die Einheitliche Europäische Akte im Februar 1986 eine engere Zusammenarbeit in sicherheitspolitischen Fragen als wesentlichen Beitrag zu der Ausformung einer europäischen Identität im außenpolitischen Bereich bezeichnet hatte, verband die Haager WEU-Plattform ein Jahr später das Schicksal der WEU erstmals explizit mit dem der EG: "Der Aufbau eines integrierten Europas bleibt ohne eine sicherheits- und verteidigungspolitische Komponente unvollständig . . . Wir beabsichtigten (daher) die Entwicklung einer . . . europäischen Verteidigungsidentität." Geboren war ein neuer Begriff, der sich sogleich anschickte, einen Triumphzug durch europäische und transatlantische Absichtserklärungen anzutreten. Aber nur wenige konnten sich etwas Konkretes unter einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität vorstellen, und noch wenigere waren dazu bereit, diese in praktisches politisches Handeln mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen umzusetzen. Hinzu kam, dass sich zahlreiche Regierungen im Labyrinth des mit unterschiedlichen Mitgliedstaaten ausgestatteten Institutionendreiecks EU/WEU/NATO geschickt zu verlaufen wussten.
Die durch den Vertrag von Maastricht eingeführte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) blieb in der Praxis einem politischen und ökonomischen Sicherheitsbegriff verhaftet, der mit Verteidigungsaufgaben per se nichts zu tun hatte, auch wenn von der "Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik auf längere Sicht, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte", die Rede war (Art. J.4 EUV). Die britische Regierung unter Premierminister John Major blockierte während der zu den Verträgen von Maastricht und Amsterdam führenden Regierungskonferenzen französische, durch Instrumentalisierung der Sonderbeziehung zu Bonn verstärkte Bestrebungen einer eigenständigen EU-Verteidigungskomponente, die in Paris ganz selbstverständlich als Ausbalancierung amerikanischer Hegemonie verstanden wurde. Die Worthülsen von der "schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik" sowie der "Möglichkeit einer Integration der WEU in die Union, falls der Europäische Rat dies beschließt" (Art. 17 EUV), vermochten die zur Zeit des Vertragsabschlusses existierenden tief greifenden politischen Unterschiede nicht zu verdecken. Gleichzeitig aber identifizierte und definierte die WEU im Jahre 1992 neue Aufgaben der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, für die sie aber weder im institutionellen noch im operativen Bereich hinreichend vorbereitet war. Mit dem sich anschließenden Aufbau neuer Strukturen und Instrumente begann jedoch ein neues Kapitel in der Geschichte der WEU. Außerhalb dieses Rahmens verständigten sich Frankreich und Deutschland auf bilateraler Ebene auf den Aufbau des Eurokorps, dem weitere multinationale Zusammenschlüsse folgten.
Parallel zu den europäischen Entwicklungen befürwortete die Allianz, wenn auch noch vage, bereits im Jahre 1990 in London und dann erneut in Brüssel (1994) und Berlin (1996) die Entwicklung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität innerhalb der NATO. Ziel dieser Initiativen war es, die Europäer in die Lage zu versetzen, auch ohne die Nordamerikaner zu handeln und dabei von den vorhandenen NATO-Kapazitäten Gebrauch machen zu können
III. Die Defizite der Vergangenheit
Der Bedarf an politischen Absichtserklärungen war ein knappes Jahrzehnt nach den tektonischen Verschiebungen in Europa also gedeckt. Allein: Die EU war ein nach außen unverändert nur bedingt handlungsfähiger Akteur. Werner Weidenfeld hat jüngst darauf hingewiesen, dass "der Schlüssel zur Erklärung der Misere in der Schwäche europäischer Identität" liege. Jedes politische System bedürfe zu seiner Handlungsfähigkeit eines Rahmens, auf den sich die Begründungen für Prioritäten und Positionen beziehen. In keinem politischen System existiere eine politische Ratio gleichsam als Ding an sich, ohne Bezugnahme auf einen elementaren Konsens, auf gemeinsame Interessen und Perspektiven. "Identität bietet den Rahmen, in dem die Politik in Pro und Contra ihre Prioritäten setzen und begründen kann. Ohne einen solchen Kontext der europäischen Selbstverständigung gerät Politik bestenfalls zum situativen Krisenmanagement."
Misst man die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik an den Kriterien der Interessenkonvergenz sowie an weltweiter politischer und militärischer Handlungsfähigkeit, dann unterscheidet sie sich - trotz ungezählter außenpolitischer Stellungnahmen, zahlreicher gemeinsamer Standpunkte und gemeinsamer Aktionen zu meist unkontroversen außenpolitischen Fragen - bislang nur unwesentlich von ihrem Vorläufer, der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) der siebziger und achtziger Jahre: stark im Bereich der Außenwirtschaftspolitik und der Entwicklungshilfe, schwach, wenn es darum geht, schnell und effektiv auf außenpolitische Krisen zu reagieren. Amerikanische Führung geradezu selbstverständlich voraussetzend, haben sich die EU-Staaten seit langem in eine sicherheitspolitische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten, dem "gütigen Hegemon"
Bis in den Herbst des Jahres 1998 scheiterte ein rascherer Ausbau der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht zuletzt daran, dass die Mächte, die - wie Deutschland - auf ein verstärktes Gemeinschaftshandeln drängten, erkennen mussten, dass ihre Ressourcen den Anforderungen nicht gerecht wurden; dass aber diejenigen Mitgliedstaaten, die - wie das Vereinigte Königreich - schon seit einigen Jahren ihre Streitkräfte auf die Herausforderungen der Zukunft eingestellt haben, kein Interesse an einer Stärkung des zweiten Pfeilers des Maastricht-Vertragswerks zeigten. Ohne militärischen Unterbau würde jedoch selbst bei politischer Übereinstimmung eine außenpolitische Glaubwürdigkeitslücke klaffen. Die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität blieb ohne politische und institutionelle Verbindungen zur EU und ohne abgestimmte Arbeitsmethoden und Entscheidungsprozesse ein tot geborenes Kind. Die WEU selbst hat sich in fast allen Krisen der zurückliegenden Jahre, die nach der einen oder anderen Form eines militärischen Beitrags verlangten, als irrelevant erwiesen
IV. Das Signal von Saint-Malo
Mit der in der nordwestfranzösischen Hafenstadt Saint-Malo unterzeichneten britisch-französischen "Erklärung zur Europäischen Verteidigung" vom 4. Dezember 1998
Während die britisch-französische Vereinbarung vor allem von angloamerikanischen Kommentatoren und den beteiligten Akteuren selbst als historisches Abkommen bezeichnet wurde
1. Konstruktives Engagement und das Verlangen nach einem gleichgewichtigen transatlantischen Dialog
Noch 1983, als Tony Blair erstmals in das britische Unterhaus gewählt wurde, hatte die Arbeiterpartei unter Oppositionsführer Tony Benn radikal für einen Rückzug Großbritanniens aus der Europäischen Gemeinschaft plädiert. Spätestens seit der Wahl Blairs zum Parteichef im Mai 1994 lässt sich jedoch ein fundamentaler Politikwechsel der Labourpartei in Europafragen konstatieren. Das gilt ungeachtet des vor allem taktisch motivierten Verhaltens seit den verlorenen Europawahlen im Juni 1999, die die Konservativen zu einem Referendum gegen den Beitritt Londons zur Europäischen Währungsunion hochstilisierten. Blair hat wie nur wenige seiner Amtsvorgänger in den vergangenen vier Jahrzehnten eine reale Vorstellung von der Rolle Großbritanniens in Europa und der Welt. In einer Schlüsselrede vor dem Londoner Royal Institute of International Affairs im April 1995 warnte er davor, dass ein Festhalten an der Vorstellung vom europäischen Integrationsprozess als außenpolitisches Nullsummenspiel letztendlich in die außenpolitische Isolation und damit zu einem weiteren Macht- und Einflussverlust des Vereinigten Königreichs führen werde. Stattdessen plädierte er für eine Politik des "konstruktiven Engagements" innerhalb der europäischen Institutionen. Nur wer sich der Teilnahme am europäischen Integrationsprozess nicht verweigere und nach Bündnispartnern in Europa suche, könne diesen Prozess auch mitgestalten und die Richtung maßgeblich beeinflussen
Angestoßen durch Gedankenspiele im Foreign Office, wurden im Sommer 1998 in britischen Regierungskreisen deshalb Überlegungen angestellt, wie der befürchteten außenpolitischen Marginalisierung als Konsequenz des Euro-Beitrittsverzichts mit Initiativen in anderen Politikfeldern entgegengewirkt werden könne. Zeitgleich veröffentlichte der Direktor des der Labourpartei nahe stehenden Centre for European Reform unter dem programmatischen Titel "Can Britain Lead in Europe?" eine Schrift, in der eine führende britische Rolle im Bereich der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik angemahnt wurde
Für die erfolgreiche Lancierung eines offiziellen Programms erschien das Frankreich Chiracs in vielfacher Hinsicht als der ideale Bündnispartner, hatte doch der französische Präsident selbst unmittelbar nach seinem Wahlsieg im Juli 1995 Hoffnungen auf engere bilaterale Beziehungen geweckt. Als einzige europäische Atommächte und UN-Sicherheitsratsmitglieder, deren Stimme in den EU-Gremien stets besonderes Gehör findet, verfügen beide Staaten über moderne, schnell über große Entfernungen verlegbare, erfahrene und über einen längeren Zeitraum stationierbare Streitkräfte, die in allen Teilbereichen den meisten europäischen Partnern überlegen sind. Darüber hinaus versprach die Kooperation zweier Staaten, deren Regierungen im Bereich der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik über Jahre hinweg mit Argumenten an den entgegengesetzten Enden der Skala operiert hatten, die Entwicklung einer positiven Eigendynamik, die andere Staaten mitziehen würde - auch wenn sich beide Regierungen durch ihre diplomatischen Vertreter in den informellen Gremien um die Vermeidung des Eindrucks eines Fait accompli bemühten.
Amerikanischen Bestrebungen, die eigene Weltmachtposition hegemonial zu nutzen, hatte Frankreich über viele Jahre das Verlangen nach einem gleichgewichtigen transatlantischen Dialog entgegengesetzt, aber auch vermehrt die Bereitschaft erkennen lassen, der NATO bei der Ausformung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität eine wichtige Rolle zuzugestehen. Obwohl die Rückkehr in die integrierten militärischen Strukturen der NATO nicht zuletzt an der fehlenden französisch-amerikanischen Einigung über die Besetzung des AFSOUTH-Kommandos (AFSOUTH = Allied Forces Southern Europe) in Neapel scheiterte, ist Paris weit davon entfernt, im Bündnis eine Politik des leeren Stuhls zu betreiben. Die verteidigungspolitische Annäherung zwischen Großbritannien und Frankreich ist aber auch durch das Ende des Kalten Krieges und die Kriege auf dem Balkan gefördert worden. Beide Staaten haben erkannt, dass interne Stabilität und Integration innerhalb EU-Europas als Beitrag zu den transatlantischen Beziehungen nicht länger ausreichen, will Europa nicht zum Kontinent "with no trumps, no luck, no will" (Stanley Hoffmann) herabsinken.
2. Die skeptische Supermacht
Washington reagierte zunächst mit Skepsis auf die europäische Initiative. Weil die USA seit dem Ende der Blockkonfrontation ein wachsendes Interesse an einer Verminderung der eigenen Verteidigungslasten in Europa haben, wurde die Aussicht auf ein verstärktes europäisches Engagement begrüßt, soweit es sich um den Ausbau militärischer Fähigkeiten und finanzieller Anstrengungen handelte. Als sich die EU-Regierungen aber anschickten, zunächst den Aufbau neuer Entscheidungsstrukturen voranzutreiben und damit institutionellen Veränderungen scheinbar den Vorrang vor einer Stärkung des militärischen Dispositivs gaben, interpretierte die Hegemonialmacht das Verhalten der EU als Versuch - wann immer möglich -, außerhalb der Atlantischen Allianz zu handeln, und sah darin langfristig eine gegen die eigene Führungsposition gerichtete Herausforderung. Gefördert durch das gespannte Verhältnis Paris - Washington, bestand somit die Gefahr einer Neuauflage der unergiebigen Debatten vergangener Jahre: Während die eine Seite ein höheres Maß an Mitsprache begehrte, ihren Anspruch aber nicht durch entsprechende Leistungen einlöste, forderte die andere Seite verstärkte Bemühungen, ohne im Gegenzug die Teilung von Verantwortung in Aussicht zu stellen. Die von US-Außenministerin Albright frühzeitig aufgestellten "3-D-Warntafeln" ("no decoupling, no duplication, no discrimination"
Als wenig hilfreich erwies sich die vom State Department geäußerte, auf Anhörungen in Senat und Repräsentantenhaus zurückgehende Erwartung, der NATO beim Krisenmanagement ein right of first refusal einzuräumen, weil sie auf einer Vorstellung beruht, die auch den Befürwortern eines kooperativen Gleichgewichts fremd ist. Diese wünschen sich die Allianz als Fundament euro-atlantischer Stabilität und wissen, dass es unklug wäre, europäische Sicherheit auf dem Prinzip transatlantischer Rivalität statt auf Partnerschaft aufzubauen. Bei europäischen Krisen mit hohem Konfliktrisiko und großem Eskalationspotential werden sich die Amerikaner an einem Einsatz beteiligen wollen, und keine europäische Regierung wird sich dem verschließen - auf absehbare Zeit aufgrund unterentwickelter Fähigkeiten auch nicht verschließen können.
Auch wenn Washingtons Haltung nach wie vor von Skepsis geprägt ist, mehren sich seit den den Ausbau militärischer Fähigkeiten betonenden Beschlüssen von Helsinki und Feira sowie den auf eine Bündelung der Kräfte zielenden bi- und multilateralen Vereinbarungen sowohl im demokratischen als auch im republikanischen Lager die Stimmen derer, die eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Chance begreifen. Ein Anwachsen der militärtechnologischen Lücke würde die Neigung der USA zum Unilateralismus oder gar Isolationismus eher noch verstärken. Zu einer Zeit, da der Stellenwert Europas für die USA relativ an Bedeutung verliert, liegt es im amerikanischen Interesse, dass die Europäer sich selbst so organisieren, dass sie zum Krisenmanagement an der eigenen Peripherie imstande sind, zumal dann, wenn die USA keine unmittelbaren eigenen strategischen und/oder ökonomischen Interessen verfolgen. "Capabilities for Influence" lautet daher die Losung für die transatlantische Partnerschaft der Zukunft
V. Stärkung der operativen Fähigkeiten
Für viele Regierungen ergibt sich dabei jedoch ein Ziel-Mittel-Konflikt, da autonome politische Handlungsfähigkeit nicht nur effizienter Entscheidungsstrukturen und der Bereitschaft zur Übernahme von Führungsaufgaben bedarf, sondern vor allem eines verstärkten militärischen und finanziellen Engagements - was denen, die zehn Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ein unvermindertes Ansteigen der bereits beträchtlichen Friedensdividende
Die veränderte Sicherheits- und Bedrohungslage sowie die damit einhergehenden vielfältigen strategischen Erfordernisse, die im Neuen Strategischen Konzept der Allianz vom April 1999 ihren Niederschlag gefunden haben, spiegeln sich bei fast allen europäischen Armeen bisher nur unzureichend in der Streitkräftestruktur und -ausrüstung wider. Die Truppenstärke der EU-Streitkräfte, die mit insgesamt zwei Millionen die der USA um ein Drittel übersteigt, steht in einem unverhältnismäßigen Widerspruch zu den mit einer Interventionsfähigkeit verbundenen Erfordernissen: Flexibilität, Mobilität, Dislozierung, Interoperabilität und Durchhaltevermögen. Mit 60 Prozent der US-Verteidigungsausgaben liegen die europäischen Verteidigungsausgaben zwar deutlich unter denen der weltweit engagierten Supermacht; entscheidender aber ist die Tatsache, dass Europa weniger als 20 Prozent der operativen Fähigkeiten der US-Einsatzkräfte mobilisieren kann. Auch wenn die Europäer über Krisenreaktionskräfte (KRK) mit Abstufungen in der Bereitschaft und Präsenz verfügen, blieb das Denken in Bonn und Brüssel bis zum Ende der neunziger Jahre "nicht frei von der überkommenden Fixierung nach Osten auf einen kontinentalen Landkrieg mit großen Panzerverbänden, massivem Artilleriefeuer und Luftunterstützung für eine Defensive"
Wie die Einsätze in Südosteuropa zeigen, reicht die vorhandene Zahl der KRK mittel- und langfristig bei weitem nicht aus. Der Europäische Rat von Helsinki hat deshalb beschlossen, dass die EU bis Ende 2003 in der Lage sein soll, binnen 60 Tagen eine schnelle Eingreiftruppe mit einer Stärke von 50 000-60 000 Soldaten zur internationalen Krisenbewältigung zu verlegen und mindestens ein Jahr im Einsatz zu halten. In der Praxis bedeutet das eine Verfügungstruppe von 150 000-180 000 Mann: eine Gruppe im Einsatz, eine trainierte Reserve in Bereitstellung zur Ablösung und eine in der Erholungsphase nach dem Einsatz
Zahlreiche europäische Regierungen - allen voran die britische - haben in den vergangenen Jahren verteidigungspolitische Reformprogramme vorgestellt. In Berlin sind die Grundentscheidungen für die Zukunft der Bundeswehr inzwischen vom Kabinett verabschiedet worden. Zum 1. April 2001 soll mit dem Umbau der Streitkräfte begonnen werden, deren Gesamtumfang bei einer Erhöhung des Anteils an Zeit- und Berufssoldaten auf 282 000 sinken wird. Deutschland investiert prozentual seit Jahren nicht nur deutlich weniger als die französischen und britischen Partner in seine Streitkräfte, sondern liegt damit auch deutlich unter dem NATO-Durchschnitt. Darüber hinaus wird ein unverhältnismäßig hoher Anteil für Personalkosten benötigt. Bei gestiegenen Unterhalts- und Reparaturkosten für zum Teil völlig veraltete Ausrüstung wird der ohnehin geringe investive Anteil in den kommenden Jahren durch die leicht verbesserten Eckdaten im Verteidigungsetat nicht in dem notwendigen Ausmaß vergrößert
In Anbetracht des vielfach unnötigen Wettbewerbs ungezählter Organisationen um die ohnehin begrenzten finanziellen Ressourcen ergibt sich im Kontext einer europäischen Verteidigungspolitik die Notwendigkeit zu einer engeren Koordinierung und Kooperation. Die von der WEU durchgeführte Bestandsaufnahme hinsichtlich militärischer Kapazitäten für die Krisenbewältigung sowie die auf dem Washingtoner Gipfeltreffen lancierte Defence Capabilities Initiative sind auch vor diesem Hintergrund zu interpretieren. Die Fusion der deutschen Dasa, der französischen Aérospatiale Matra und der spanischen Casa zum drittgrößten Luft- und Raumfahrtunternehmen der Welt (EADS) ist deshalb ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer effizienteren europäischen Luft-, Raumfahrt- und Rüstungsindustrie. Synergieeffekte allein werden jedoch nicht zur Umsetzung der Beschlüsse ausreichen.
VI. Aufbau neuer Entscheidungsstrukturen
Neben die grundlegende Stärkung der operativen Fähigkeiten tritt der Aufbau geeigneter institutioneller Strukturen, die den Mitgliedstaaten im Krisenfall einen effektiven Entscheidungsablauf ermöglichen sollen. Dem Wunsch nach bürokratischer und institutioneller Geradlinigkeit stehen dabei nicht unerhebliche Probleme bei der Umsetzung gegenüber - geht es doch darum, mit einer europäischen Verteidigungspolitik nicht die Atlantische Allianz zu schwächen und die Konformität im Hinblick auf verschiedene Verpflichtungen in der NATO ebenso zu berücksichtigen wie die unterschiedliche Mitgliedschaft der europäischen Staaten im existierenden Organisationsdreieck. Der Aufbau neuer Entscheidungsstrukturen ist in den vergangenen Monaten zügig vorangeschritten. Seit dem 1. März 2000 verfügt die EU interimistisch über einen sicherheitspolitischen Ausschuss, dem ein Militärausschuss und ein Militärstab zur Seite gestellt werden. Eine wichtige Funktion bei der Formulierung, Vorbereitung und Durchführung politischer Entscheidungen kommt dem Hohen Vertreter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu, dem ehemaligen NATO-Generalsekretär Javier Solana. Zu erwägen wäre, ob der Hohe Repräsentant im Bereich der GASP die koordinierenden und vermittelnden Aufgaben der bisherigen Ratspräsidentschaft übernimmt. Die im Vertrag von Amsterdam vorgesehene Möglichkeit der vollständigen Integration der WEU in die EU kommt nicht zum Zuge. Einige Komponenten werden sich in der EU wiederfinden; die Überführung anderer in einen abtrennbaren, aber nicht getrennten europäischen Pfeiler der NATO liegt schon deshalb nahe, weil der Aufbau paralleler militärischer Strukturen einen politisch gefährlichen und wirtschaftlich kostspieligen Wettbewerb um knappe Ressourcen eröffnen würde.
Die politische Aufsicht über EU-geführte Operationen wird bei den Außen- und Verteidigungsministern liegen, während die militärische Durchführung - sofern es sich nicht um Operationen ohne Rückgriff auf Strukturen und Fähigkeiten der NATO handelt - Aufgabe herauszulösender europäischer Militärstäbe und designierter Streitkräfte sein wird unter Hinzuziehung weiterer europäischer Kontingente, die nicht in den NATO-Kommandostrukturen repräsentiert sind, sich aber an EU-geführten Operationen beteiligten wollen. Vor allem in den Bereichen der militärischen und der Streitkräfteplanung, der gemeinsamen Streitkräftekommandos (CJTF), der neuen Führungsleitlinien und des Austauschs von Informationen wird die EU sich auf die in den vergangenen Jahren intensivierten Beziehungen zwischen WEU und NATO stützen können, einen verbindlichen EU-NATO-Koordinierungsmechanismus festlegen wollen und auf der Grundlage eines Abkommens, das die Prinzipien und Modalitäten für den Transfer, die Überwachung und die Rückführung von NATO-Kapazitäten regelt, mit der Allianz zusammenarbeiten.
Interessenkonflikte können sich dann ergeben, wenn beide Organisationen zeitgleich den Zugriff auf Schlüsselkapazitäten für sich beanspruchen. Schon weil zahlreiche der so genannten NATO-Fähigkeiten de facto US-Fähigkeiten sind, wird eine enge politisch-diplomatische Abstimmung zwischen der EU und den USA von großer Bedeutung sein, um das Aufkommen von Misstrauen und die Versuchung der gegenseitigen Blockade auf ein Minimum zu reduzieren. Das bedeutet nicht, dass die USA in Brüssel mit "am Kabinettstisch" sitzen. Koordination heißt vielmehr, dass die Absichten der Europäer "vorab in ihren Auswirkungen auf den wichtigsten Partner der Union kalkuliert und in der Perspektive einer gleichberechtigten Kooperation mit den USA konzipiert werden"
Der Europäische Rat hat sich darüber hinaus darauf verständigt, die von der WEU in den letzten Jahren entwickelten Konsultationsmechanismen zwischen Vollmitgliedern, assoziierten Mitgliedern, Beobachtern und assoziierten Partnern auch im Rahmen einer neustrukturierten Zusammenarbeit sicherzustellen. Dabei soll der kritische Unterschied zwischen Verteidigungsgarantie einerseits und politischer Solidarität andererseits nicht verwischt werden. Die vier neutralen EU-Mitgliedstaaten können nicht als Quasialliierte behandelt werden. Vorstellbar ist, dass die zehn WEU-Mitglieder einen inneren verteidigungspolitischen Kern bilden. Darum herum ließe sich ein Kreis der neutralen Staaten sowie, wenn es daran teilzunehmen wünscht, Dänemarks bilden. Kein Staat wird verpflichtet, sich an Militäroperationen zu beteiligen. Andererseits sollte aber über die Möglichkeit der konstruktiven Enthaltung auch in verteidigungspolitischen Fragen nachgedacht werden. Schließlich werden auch die europäischen NATO-Staaten, die nicht der EU angehören, sowie die weiteren EU-Beitrittskandidaten an Konsultationen, bei der Bereitstellung von Truppenkontingenten zu EU-geführten Operationen auch am detaillierten militärischen Planungsprozess, beteiligt werden. Vor allem durch die auch unter strategischen Gesichtspunkten unentbehrliche sicherheitspolitische Anbindung der Türkei kann die EU erneut ihr Interesse an engeren Beziehungen zum Ausdruck bringen.
VII. Ausblick
Die sicherheits- und verteidigungspolitischen Initiativen der vergangenen zwei Jahre deuten darauf hin, dass sich die Europäische Union nicht länger mit Schritten pragmatischer Anpassung bescheiden, sondern die Entwicklung zu einer außenpolitisch voll handlungsfähigen Politischen Union entschlossen vorantreiben will. Den Begriff der "Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität" auf den Transformationsprozess der NATO zu einem ausgewogenen europäisch-amerikanischen Bündnis zu beschränken ist schon deshalb irreführend, weil gerade die kollektive Einsicht der Europäer, dass gemeinsame Interessen und Ziele den Bezugsrahmen für politische Handlungsfähigkeit bilden, den Anstoß zu den jüngsten, im institutionellen Rahmen der EU vorangetriebenen Entwicklungen gegeben hat. Die neu formulierten Aufgaben des zivilen und militärischen Krisenmanagements sind dabei Teil einer umfassenden, erst in ihrer Gesamtheit den Charakter des Modernen gewinnenden Strategie, die von der Krisenvorbeugung bis hin zur Krisenbewältigung reicht; im recht verstandenen Sinne stehen die einzelnen Aspekte also nicht in Konkurrenz zueinander.
Die Umsetzung der Absichtserklärungen wird einen langen Zeitraum in Anspruch nehmen. Während die neu geschaffenen institutionellen Instrumente bei entsprechender Bereitschaft zur Übernahme von Führungsaufgaben schon in wenigen Jahren einen reibungslosen Entscheidungsprozess ermöglichen werden, wird die Anpassung des militärischen Dispositivs an die neuen Herausforderungen nur dann gelingen, wenn erstens die vorhandenen Mittel besser eingesetzt werden, zweitens die militärische Effizienz durch europäische Zusammenarbeit deutlich erhöht wird und drittens über das dadurch gewonnene Einsparpotenzial hinaus zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. Von Deutschland wird erwartet, dass es zusammen mit Frankreich und Großbritannien eine führende Rolle übernimmt. Neben die Bereitschaft zur Übernahme entsprechender Verantwortung muss deshalb die Führungsfähigkeit treten. Wenn die entstandene Eigendynamik in den kommenden Jahren entschlossen genutzt wird, wird eine erweiterte EU am Ende des Jahrzehnts als sicherheitspolitischer Akteur in Erscheinung treten. Anderenfalls würde sich der gesamte Prozess als militärisch bedeutungslos und politisch schädlich erweisen.