Einleitung
Große Entscheidungen stehen Europa bevor, die möglicherweise die bisher bekannte Gestalt der EU (Europäische Union) sowohl innerlich als auch äußerlich maßgeblich verändern werden. Führende europäische Politiker wollen die Erweiterung der EU unter gleichzeitiger Beibehaltung einer Vertiefungsoption. Dabei ist die Erkenntnis, dass "eine halb reformierte EU keine halb reformierten Mitglieder aufnehmen darf" , inzwischen Allgemeingut. Zugleich wird versucht, die Vertiefungsoption mit einer Vision für das Endziel der europäischen Integration zu verbinden. Um ein solches Endziel zu erreichen, wird verstärkt darüber nachgedacht, ob bestimmten Staaten eine Vorreiterrolle zukommen soll und ob diese Rolle einer Absicherung in den europäischen Verträgen bedarf.
Die umrissene Thematik ist äußerst komplex und kann hier nur skizziert werden. Zunächst erfolgt eine Darstellung der jüngsten deutsch-französischen Integrationsdebatte (I) sowie ein Überblick über den Umfang und Zeitplan der Erweiterung (II). Anschließend werden die mit einer Erweiterung verbundenen Gefahren für die Vertiefung der EU (III) und den bisher erreichten Integrationszustand (IV) dargestellt. Nach einem Eingehen auf die Gründe für eine Erweiterung (V) und die ungelöste sicherheitspolitische Frage (VI) schließt der Beitrag mit einer Betrachtung der noch laufenden Revisionskonferenz (VII) und der Überlegung, ob die EU anlässlich ihrer Vertiefung und/oder Erweiterung an einem Scheideweg angekommen ist (VIII).
I. Die deutsch-französische Integrationsdebatte
Die Diskussion über Inhalte und Ziele der Integration hat sich im ersten Halbjahr 2000 mit großer Geschwindigkeit entfaltet; sie hat mit erstaunlicher Leichtigkeit Thematiken in Angriff genommen, die zwar für den politisch interessierten Unionsbürger von erheblichem Interesse sind, an die sich aber seit langer Zeit kaum ein führender europäischer Politiker gewagt hat. Im Folgenden werden als Eckpunkte zu dieser Diskussion die Äußerungen Jacques Delors, Joschka Fischers und Jacques Chiracs gewählt - wobei darauf hinzuweisen ist, dass es zahlreiche weitere Stellungnahmen und wissenschaftliche Projekte gibt, die einschlägige Beiträge zu der Diskussion geliefert haben, auf die an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen werden kann.
1. Die Thesen Jacques Delors
Am 19. Januar 2000 legte der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission Jacques Delors in einem Interview mit der Pariser Tageszeitung Le Monde seine Gedanken zum Fortgang der europäischen Integration dar . Durch dieses Interview wurde in Frankreich eine kontroverse Debatte ausgelöst, die anschließend auf Deutschland übergriff . Jacques Delors forderte für die französische EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2000 und vor dem geplanten Abschluss der Revisionskonferenz im Dezember 2000, endlich einige Fragen zu stellen, "die verärgern und spalten". Vor allem bedürfe es einer Diskussion über das Verhältnis von Erweiterung und Vertiefung der EU. So bestehe die immense Gefahr, dass eine EU mit 25 und mehr Mitgliedstaaten das Projekt der europäischen Integration "verwässere" und die 1992 in Maastricht noch einmal betonten politischen Fernziele der EU nicht erreicht würden. Daher müsse es einer "Avantgarde" von Mitgliedstaaten gestattet sein, eine vertraglich festgelegte "Föderation von Nationalstaaten" innerhalb der EU zu bilden, um vor allem eine bessere Abstimmung der Währungspolitik, eine wirkungsvolle gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie die Schaffung eines "Raumes der Sicherheit" weiterverfolgen zu können.
Unter dem Titel "Jacques Delors hat noch nicht Recht" antwortete der für die Reform der Institutionen zuständige EU-Kommissar Michel Barnier am 22. Januar 2000 ebenfalls in Le Monde, es sollte zunächst das Ergebnis der Regierungskonferenz abgewartet werden, bevor festgestellt werden könne, ob Delors Ansichten zutreffend seien . Der französische Europaminister Pierre Moscovici äußerte sich hingegen vor dem EU-Ausschuss des Deutschen Bundestages zustimmend, lehnte allerdings die Vorstellung ab, die Mitgliedstaaten, die die Avantgarde bildeten, sollten durch einen eigenen "Vertrag im Vertrag" festgelegt werden . In einem gemeinsamen Artikel vom 10. April 2000 in Le Figaro bestätigten Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing die Annahmen Jacques Delors und nannten als Avantgarde die elf Länder der Euro-Zone . In einer Rede vor der französischen Nationalversammlung ergänzte Giscard d'Estaing, während der französischen Ratspräsidentschaft solle Frankreich die beiden Ziele verfolgen, "die Grundlage für ein funktionstüchtiges großes Europa zu legen und die Chancen für eine verstärkte Gemeinschaft der Mitgliedstaaten zu wahren, die den Traum der Gründungsväter vollenden wollen" . Zugleich signalisierten der französische Premierminister Lionel Jospin und der französische Staatspräsident Jacques Chirac ihre grundsätzliche Zustimmung zu einer engeren Zusammenarbeit einzelner EU-Mitgliedstaaten . Kurz darauf wiederholte Jacques Delors in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seine Vorstellung von der Bildung einer Avantgarde und erläuterte, damit dürfe allerdings keine Verdoppelung der Organstrukturen der EU einhergehen. Wie schon zuvor Alain Juppé in der französischen Nationalversammlung forderte er zudem zu einer "Neugründung" Europas auf, ohne dies jedoch näher zu konkretisieren .
2. Die Thesen Joschka Fischers
Nach dieser innerfranzösischen Debatte hielt der deutsche Außenminister Joschka Fischer am 12. Mai 2000 in der Berliner Humboldt-Universität eine integrationspolitische Grundsatzrede , die Bundeskanzler Gerhard Schröder später als mit ihm abgestimmt bezeichnete. In dieser Rede sprach Fischer "über die möglichen strategischen Perspektiven der europäischen Integration weit über das nächste Jahrzehnt und über die Regierungskonferenz hinaus". Als "letzter Baustein in das Gebäude der europäischen Integration" müsse "die politische Integration" eingefügt werden. Bei der dadurch entstehenden "historischen" Doppelaufgabe "Osterweiterung und Vollendung der politischen Integration" komme es "ganz entscheidend auf Frankreich und Deutschland an". Als zukünftige Gestalt forderte Joschka Fischer "den Übergang vom Staatenverbund der Union hin zur vollen Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation . . . Und d. h. nichts Geringeres als ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetzgebende und die exekutive Gewalt innerhalb der Föderation ausüben. Diese Föderation wird sich auf einen Verfassungsvertrag zu gründen haben." Um keine Bürgerferne zu erzeugen, müsse "die europäische Integration die Nationalstaaten in eine solche Föderation mitnehmen . . . Die bisherige Vorstellung eines europäischen Bundesstaates . . . erweist sich als ein synthetisches Konstrukt jenseits der gewachsenen europäischen Realitäten."
Zur Verwirklichung dieser Vorstellungen verwies Joschka Fischer unter anderem auf die Vorschläge Jacques Delors' zur Schaffung einer Avantgarde. Die Bildung eines "Gravitationszentrums" könnte mit einem "neuen europäischen Grundvertrag" einhergehen, durch den sich die Mitglieder der Avantgarde "eigene Institutionen geben, eine Regierung . . . , ein starkes Parlament, einen direkt gewählten Präsidenten". Dies alles sei als ein "bewusst politischer Neugründungsakt Europas" anzusehen.
Nach dieser erstaunlich offenen Rede, die zwar von einem Bundesstaat wegzuweisen schien, im Kern jedoch auf einen solchen zusteuerte und mehrere Elemente der französischen Debatte aufgriff, kam es zu zahlreichen Reaktionen . Während etwa Großbritannien, Finnland und Griechenland pauschal vor einer Gefahr für die Einheit der europäischen Integration warnten , setzten sich französische Politiker detailliert mit den Thesen Joschka Fischers auseinander. So stellte der französische Außenminister Hubert Védrine in einem offenen Brief an Fischer vom 13. Juni 2000 folgende Überlegungen an: "Ich habe wohl zur Kenntnis genommen, dass du vorsichtshalber und zu Recht daran erinnert hattest, dass es nicht darum geht, die Nationalstaaten aufzugeben . . . Wenn man aber die Direktwahl eines Präsidenten der Föderation, der deren Außen- und Sicherheitspolitik unter der Kontrolle des Parlaments der Föderation umzusetzen hätte, in Erwägung zieht, welche Zuständigkeiten verbleiben dann dem Nationalstaat? Welche Rolle würden die Staats- und Regierungschefs der Länder, die sich dieser Föderation anschlössen, noch spielen? Um ganz unverblümt zu fragen: Wie lange gäbe es in Frankreich noch einen Präsidenten der Republik, einen Premierminister . . .? Hier muss man klar Farbe bekennen. Zu behaupten, man wolle oder man könne die Schaffung einer Föderation und die Bewahrung der Nationalstaaten miteinander in Einklang bringen, reicht nicht aus."
Am 15. Juni 2000 äußerte Hubert Védrine ergänzend seine Skepsis gegenüber einer europäischen Verfassung, erkannte allerdings an, dass sie dem "Bedürfnis nach Vereinfachung, Verständlichkeit und Demokratisierung" entspräche . Tags zuvor hatte Joschka Fischer vor dem Auswärtigen Ausschuss der französischen Nationalversammlung betont, er sei gegen ein Aufgehen der Nationalstaaten in einer europäischen Föderation . In einem Interview der Libération vom 23. Juni 2000 erläuterte Jacques Delors zu seinen Vorstellungen, die "Föderation von Nationalstaaten" müsse über einen eigenen Präsidenten, einen eigenen Ministerrat und ein eigenes Parlament verfügen. In einer späteren Union der Dreißig könne dann die Föderation sogar mit einer Stimme sprechen.
3. Die Thesen Jacques Chiracs
Am 27. Juni 2000 nahm schließlich Jacques Chirac in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag ausführlich zu seinen europapolitischen Überlegungen Stellung : "Weder Sie Deutsche noch wir Franzosen wollen einen europäischen Superstaat, der an die Stelle unserer Nationalstaaten treten und deren Ende als Akteure auf der internationalen Bühne markieren würde . . . (Die Nationen) abzuschaffen wäre genauso absurd, wie zu leugnen, dass sie bereits einen Teil ihrer Souveränitätsrechte gemeinsam wahrnehmen . . ." Anders als Joschka Fischer vermied er anschließend eine konkrete Vision, sondern betonte lediglich die Einzigartigkeit der Institutionen der EU und die Notwendigkeit, die Dynamik des europäischen Integrationsprozesses durch die Bildung einer "Avantgarde-Gruppe" zu sichern. Dazu solle kein neuer Vertrag mit neuen Institutionen geschlossen, sondern als "flexibler Koordinierungsmechanismus" nur ein "Sekretariat" geschaffen werden, das "in dieser Gruppe für Kohärenz zu sorgen hätte". Ergänzend solle nach dem Treffen des Europäischen Rates in Nizza Ende 2000 damit begonnen werden, die institutionellen Fragen Europas zu lösen. Dieser Prozess könne dann in einigen Jahren zur Proklamation einer "Europäischen Verfassung" führen. In Reaktion auf die Kritik führender französischer Politiker an derartigen "Verfassungsvorstellungen" erklärte Jacques Chirac anläßlich der Vorstellung des Programmes für die französische Ratspräsidentschaft am 3. Juli 2000, die von ihm dargelegte Idee stünde nicht auf der Tagesordnung der Präsidentschaft .
Am 28. Juli 2000 veröffentlichte der zur Schaffung einer Europäischen Grundrechtscharta vom Europäischen Rat eingesetzte Grundrechtskonvent einen ersten vollständigen Chartaentwurf . Obwohl sich nun die Frage stellte und stellt, ob die geplante Charta den ersten Teil einer europäischen Staatsverfassung bilden könnte, verlagerte sich die integrationspolitische Debatte im Weiteren auf die konkrete Ausgestaltung der Charta. Während Hubert Védrine im Vorfeld des informellen Außenministertreffens in Evian Anfang September 2000 noch einmal betonte, "den europäischen Nationalstaaten und der EU könne kein klassisches föderales System übergestülpt werden" , scheint die weitere Entwicklung wesentlich von den Ergebnissen des Europäischen Rates von Nizza, der im Dezember 2000 tagen wird und zur Grundrechtscharta sowie der Revisionskonferenz abschließend Stellung beziehen soll, abzuhängen.
II. Umfang und Zeitplan der Erweiterung
Um die geschilderte Debatte zur Erweiterung und Vertiefung der EU richtig einordnen zu können, soll ein kurzer Blick auf die Erweiterungspläne der EU geworfen werden, deren Ausmaß allein schon die Notwendigkeit eines Fortganges der Diskussion anmahnt. Bereits im März 1998 sind die Beitrittsverhandlungen mit Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik, Estland, Slowenien und Zypern aufgenommen worden. Im Februar 2000 - einen Tag nach der Eröffnung der Revisionskonferenz und im gewollten zeitlichen Einklang mit dieser - folgte der Beginn der Verhandlungen mit Lettland, Litauen, der Slowakischen Republik, Rumänien, Bulgarien und Malta . Wird das Erweiterungsszenario in seiner größtmöglichen Dimension skizziert, so könnten neben den bisherigen fünfzehn Mitgliedstaaten im "Osten" Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakische Republik, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Slowenien, im Mittelmeerraum die beiden Kleinstaaten Malta und Zypern sowie - falls in der Bevölkerung ein Umschwung stattfinden sollte - die Schweiz und Norwegen die EU bilden. "Übrig" für eine weitere Vergrößerung blieben dann nur noch die Mikrostaaten Liechtenstein, Andorra, San Marino und Monaco, der europäische "Vorposten" Island sowie im "Osten" Moldawien, die Ukraine, Georgien, Weißrussland, Albanien, die restlichen Staaten des ehemaligen Gesamtjugoslawiens (Kroatien, Bosnien-Herzegowina, die Bundesrepublik Jugoslawien und Mazedonien) sowie die Türkei . Die Diskussion über die endgültigen territorialen Grenzen der EU - aufgezählt wurden soeben nicht weniger als 29 Staaten - zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat Ferdinando Ricardi als eine "useless and traumatusing debate" bezeichnet und ausdrücklich vor ihr gewarnt ; von Jacques Delors wurde sie als eine "explosive und inhaltsleere Debatte" charakterisiert .
Zum Zeitplan der Erweiterung haben die europäischen Staats- und Regierungschefs auf dem Europäischen Rat von Helsinki vom 10./11. Dezember 1999 ausgeführt: "Der Europäische Rat bekräftigt die Bedeutung des im Dezember 1997 in Luxemburg begonnenen Erweiterungsprozesses für die Stabilität und den Wohlstand des gesamten europäischen Kontinents . . . , bei dem nunmehr dreizehn beitrittswillige Länder in einen einzigen Rahmen einbezogen werden . . . Nach der Ratifizierung der Ergebnisse [der Regierungskonferenz über die institutionelle Reform] sollte die Union in der Lage sein, ab Ende 2002 neue Mitgliedstaaten aufzunehmen, sobald diese nachgewiesen haben, dass sie die Pflichten einer Mitgliedschaft auf sich nehmen können, und sobald der Verhandlungsprozess zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht worden ist."
Seit einiger Zeit wird vermehrt darüber spekuliert, ob dieser ehrgeizige Zeitplan eingehalten werden kann . Für die Beitrittskandidaten gilt es zudem als eine Frage des Prestiges, in welcher Reihenfolge ihre Aufnahme geplant und vorgenommen wird. Mit konkreten Zusagen in dieser Hinsicht halten sich die führenden Politiker der EU daher auffällig zurück , um die Konkurrenzatmosphäre nicht noch zusätzlich anzuheizen. So hat der Europäische Rat von Feira vom 19./20. Juni 2000 lediglich betont: "Alle Kandidaten werden weiterhin auf der Grundlage ihrer eigenen Fortschritte beurteilt. Nach dem Prinzip des differenzierten Vorgehens ist es für Kandidaten möglich, diejenigen, die ihre Verhandlungen früher begonnen haben, einzuholen."
III. Gefahren für die Vertiefung der EU
Die Debatte um eine Avantgarde erinnert teilweise an die so genannte Kerneuropa-Diskussion aus dem Jahre 1994 . So spielten im Rahmen der Maastricht-Debatte das Schlagwort "Kerneuropa" (Schäuble-Lamers-Papier) und verwandte Modelle (Europa der zwei Geschwindigkeiten, Europa der konzentrischen Kreise) eine erhebliche Rolle. Schon bald nach Maastricht waren derartige Überlegungen jedoch wieder aus der tagespolitischen Europadebatte verschwunden. Dabei stellt sich in der Tat die Frage, auf welche Weise denn eine EU mit über 25 Mitgliedstaaten funktionieren soll. So bedarf es in fast allen Fragen des Mehrheitsprinzips, da ansonsten beständig eine Blockade droht. Denn naturgemäß findet sich bei derart vielen Staaten immer mindestens einer, der - ob nun zu Recht oder zu Unrecht - erhebliche Einwände gegen einen bestimmten Beschluss erhebt.
Durch ein umfangreich ausgeweitetes Mehrheitsprinzip reduziert sich jedoch automatisch das Gewicht der einzelnen - und folglich auch der großen - Mitgliedstaaten. Zugleich stellt sich die Frage eines gesteigerten Demokratiedefizits, da ein ausgeweitetes Mehrheitsprinzip die Einflussnahmemöglichkeit der nationalen Parlamente auf europäische Entscheidungen mittels der von ihnen kontrollierten Regierungen noch weiter verringert. Besteht eine geringere Einflussnahmemöglichkeit der einzelnen Regierungen und Parlamente, wird zugleich die Bereitschaft sinken, in den wichtigen, die staatliche Souveränität am meisten berührenden Bereichen Kompetenzen an die EU abzugeben bzw. diese Kompetenzen durch Beschlussfassungen im Rahmen der EU wirksam wahrzunehmen. Dies tangiert - wie Jacques Delors richtig bemerkt hat - vor allem die mit dem Maastrichter Vertrag in Angriff genommenen und durch den Amsterdamer Vertrag vertieften, die nationale Souveränität besonders berührenden Bereiche der inneren Sicherheit, der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie der Währungspolitik.
Ob die Bereitschaft, in diesen Bereichen dennoch wichtige Entscheidungen zu treffen, dadurch geweckt werden kann, dass in anderen Sachbereichen eine Deregulierung und Rückverlagerung von Kompetenzen der EU auf die Mitgliedstaaten erfolgt - in diese Richtung gehen die Ankündigungen des Kommissionspräsidenten Romano Prodi anlässlich der Vorstellung seines Programmes am 15. Februar 2000 vor dem Europäischen Parlament -, erscheint fraglich. Zum einen bedarf es in einer hochspezialisierten und eng mit dem Welthandel verflochtenen Gemeinschaft eines beträchtlichen Maßes an Regulierung. Zum anderen wurde bereits das Subsidiaritätsprinzip durch den Vertrag von Maastricht in die europarechtliche Rechtsordnung eingefügt, ohne dass dies zu einer erkennbaren Rückverlagerung von Kompetenzen geführt hat. Zudem ist die genaue Auslegung dieses Prinzips trotz einer Unzahl von wissenschaftlichen Stellungnahmen immer noch nicht abschließend geklärt . Daneben wird voraussichtlich - als zwar eher "technischer", aber trotzdem nicht zu unterschätzender Aspekt - das diplomatische Potenzial der Mitgliedstaaten und der Organe der EU durch den Erweiterungsprozess, der bis zu einem Jahrzehnt in Anspruch nehmen könnte, in erheblichem Maße gebunden werden.
Die geplante Erweiterung gefährdet folglich den Ausbau der europäischen Integration, für den sich derzeit das Stichwort der Vertiefung eingebürgert hat. Dies gilt nicht nur für die eigentliche Erweiterungsphase, sondern auch für die Zeit danach. So wird allein aufgrund der Größe der EU und der damit einhergehenden Schwierigkeiten institutioneller und sachlicher Art eine Vertiefung nicht mehr gewährleistet sein. Als wiederum eher "technische" Angelegenheit sei nur die Sprachenfrage genannt, die neben ihres inzwischen "babylonischen" Ausmaßes schon immer Anlass für Streit gegeben hat. Als Beispiel jüngeren Datums kann etwa auf den deutschen Boykott von mehreren Ministerratssitzungen in Finnland 1999, auf der Deutsch nicht als Arbeitssprache Verwendung finden sollte, hingewiesen werden. Die finnische Ratspräsidentschaft hatte daraufhin eine ihrer Abschlusserklärungen in lateinischer Sprache veröffentlicht .
IV. Die Gefahr für den gegenwärtigen Integrationszustand
Sollte allerdings eine weitere Vertiefung ohnehin nicht gewünscht sein, würfen die skizzierten Überlegungen nur ein Scheinproblem auf. Eine einheitliche Meinung der Mitgliedstaaten zu den Fernzielen der europäischen Integration lässt sich zur Zeit nicht feststellen, sie hat es allerdings wohl auch noch nie gegeben. Übereinstimmend beteuern die Mitgliedstaaten gegenwärtig lediglich, ein europäischer Bundesstaat - die vielzitierten "Vereinigten Staaten von Europa" - sei jedenfalls nicht anvisiert. Außenminister Fischer hat in seiner Grundsatzrede vom 12. Mai 2000 einen europäischen Bundesstaat sogar als "ein synthetisches Konstrukt jenseits der gewachsenen europäischen Realitäten" bezeichnet. Bis zu einem Konsens über die Endzielfrage werden die beteiligten Regierungen daher - wie schon zuvor - weitgehend nach dem Motto handeln, der Weg bilde das Ziel. Zumindest eine gewisse Vertiefung über den Amsterdamer Vertrag hinaus muss jedoch von allen Mitgliedstaaten gewollt sein, wenn die wiederholten Äußerungen der Staats- und Regierungschefs auf den zuletzt erfolgten Zusammenkünften des Europäischen Rates ernst genommen werden sollen. In die Zukunft gerichtete Symbole für eine noch engere Verklammerung Europas sind zudem die Einführung des Euro sowie der diplomatische und konsularische Schutz der Unionsbürger, der bedeutet, dass ein einheitlicher Mindestschutz gegenüber Drittstaaten im Namen der EU für insgesamt über 378 Millionen Personen verwirklicht werden soll .
Die dargestellte Gefahr für die Vertiefung der EU erscheint allerdings nicht als die einzige Gefahr, die von der Erweiterung ausgeht. Eine noch viel größere Problematik bildet die Möglichkeit eines Rückschrittes in Bezug auf den gegenwärtig schon erreichten Integrationszustand. So könnte die EU von dem Zustand eines staatsähnlichen Gebildes mit einem gemeinsamen Markt und erheblich koordinierten Politikbereichen in den einer Freihandelszone zurückfallen. Anders formuliert ist zu fragen, ob ein Verbund von 25 und mehr Staaten tatsächlich in der Lage sein wird, weiter auf dem gegenwärtigen Integrationsniveau zu agieren.
In der neueren Geschichte gibt es kein Beispiel eines solchen Großverbandes mit supranationalen Elementen. In diesem Zusammenhang wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass sich Staatenzusammenschlüsse integrierterer Art entweder zu einem Bundesstaat verdichtet haben oder aber auseinander gefallen sind . Beispiele großer Bundesstaaten sind in der heutigen Welt ohnehin selten geworden. Zu nennen sind vor allem Russland, Kanada, die USA, Brasilien und Indien. In jüngerer Zeit ist zudem verstärkt das Phänomen aufgetaucht, dass bereits bestehende Bundesstaaten zumindest teilweise auseinander fallen. Erinnert sei an die UdSSR, Jugoslawien und Indonesien. Auch Russland scheint davon nach wie vor bedroht. Andere große Organisationen wie NAFTA (North American Free Trade Agreement) und ASEAN (Association of South East Asian Nations) sind trotz anderweitiger Bemühungen bisher nicht über das Stadium von - einigermaßen funktionierenden - Teilfreihandelszonen hinausgekommen .
V. Gründe für eine Erweiterung
Das Dilemma besteht nun darin, dass es aus der Sicht vieler keine Alternative zu dem bisher eingeschlagenen Weg gibt. So ist die Schaffung einer eigenen internationalen Organisation durch die beitrittswilligen Länder Mittel- und Osteuropas, die nach einer erfolgreichen Phase ihres Bestehens in der EU aufgehen könnte, mit der Gründung der CEFTA (Central European Free Trade Area) zwar kurz angedacht und teilweise auch in Angriff genommen, jedoch nie ernsthaft als Alternative erwogen worden. Folglich könne - so die oft unausgesprochene mehrheitliche Ansicht - nur gehofft werden, dass eine Erweiterung den gegenwärtigen Integrationszustand nicht gefährde, ja ihn sogar noch nicht einmal bremse, sondern die Option einer Vertiefung lasse.
Diese Sicht hat ihre Hauptursache in dem Bewusstsein, dass zumindest das "alte Mitteleuropa" ohne eigene Schuld von dem westlichen Europa abgekoppelt worden sei und nun ein Recht darauf habe, "wieder nach Europa zu finden". Vor allem die Metropolen der mittel- und osteuropäischen Staaten erinnern sich an die Jahrhundertwende und die Zeit danach, als sie sich mehr denn je kulturell mit den westeuropäischen Metropolen identifizierten und ihrerseits Impulse dorthin sandten. So hat Timothy Garton Ash seiner Essaysammlung "Ein Jahrhundert wird abgewählt" auch den treffenden Untertitel "Aus den Zentren Mitteleuropas" gegeben. In der darin enthaltenen Skizze "Mitteleuropa - aber wo liegt es?" merkt er an: "Im deutschen Sprachraum schien allein schon das Wort Mitteleuropa mit Adolf Hitler untergegangen zu sein und nur noch als gespenstisches Mitropa auf den Speisewagen der DDR-eigenen Deutschen Reichsbahn zu spuken." Teilweise entsteht nun der Eindruck, als wolle man ein vergangenes Zeitalter wiederbeleben, wobei oft schmerzlich darauf hingewiesen wird, dass mit der jüdischen Bevölkerung(selite) ein Teil dieses Zeitalters unwiederbringlich verloren gegangen sei.
Eine andere Argumentation ist die, dass jedes Land in Europa einen Anspruch darauf habe, in der Europäischen Union Mitglied zu sein. Dazu ist vorab anzumerken, dass Europa selbst definieren kann, wer zur geopolitischen Einheit Europa gehört. Der Staatsrechtler Josef Isensee hat dies die politische Erfindung eines Erdteiles genannt . Aus dieser Perspektive wird die Diskussion darüber verständlich, ob die Türkei ein europäisches Land darstellt. Auf sie trifft das oben beschriebene Gefühl des alten Mitteleuropas nicht zu. Es wird teilweise durch die rationaleren Erwägungen ersetzt, dass es sich um einen Mitgliedstaat der NATO an einer strategisch wichtigen Schnittstelle mehrerer Regionen handelt. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass der Wunsch nach Aufnahme und eine entsprechende Mitgliedschaft möglicherweise die Streitigkeiten zwischen der Türkei und Griechenland in der Ägäis und insbesondere um Zypern lösen könnte. Allerdings hat die EU bisher auch die Nordirlandproblematik trotz der Mitgliedschaft beider beteiligten Länder nicht zu schlichten vermocht. Die dortige Annäherung beruht bezeichnenderweise nicht auf einer europäischen, sondern auf einer US-amerikanischen Initiative.
VI. Die ungelöste sicherheitspolitische Frage
Mit letzterem Land ist zugleich eine Problematik angesprochen, die seit dem Ende des Kalten Krieges besteht und sich durch die Erweiterung noch verstärken wird. Dies ist die Frage, wie die gegenwärtige EU - und umso mehr noch eine größere EU - sicherheitspolitisch konturiert sein soll. Auch die USA scheinen sich diesbezüglich noch keine abschließende Meinung gebildet zu haben. Gegenwärtig wird die WEU (Westeuropäische Union) sehr zögerlich und unter weitgehender Betonung, es solle keine Parallel- oder sogar abgegrenzte Organisation, sondern eine mit der NATO eng verbundene Organisation geschaffen werden, an die EU herangeführt, ausgeweitet und vertieft . Doch mit der Erweiterung der EU um die baltischen Staaten und die Balkananrainerstaaten wird sich diese Frage in erheblich größerer Schärfe stellen, da nun Russland weit mehr "ins Spiel kommen" und seine Sicherheit gefährdet sehen könnte.
Zwar ist kürzlich mit dem neuen Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, auch "Mr. GASP" genannt, eine Institution geschaffen worden, die sich insbesondere um diese Frage kümmern soll . Doch bereits die ersten Überlegungen von Javier Solana, der seit dem 18. Oktober 1999 den neuen Posten bekleidet, sind auf teilweise heftigen Widerstand einiger Mitgliedstaaten gestoßen: Dem ehemaligen NATO-Generalsekretär wurde diesbezüglich vorgeworfen, er setze sich nicht genug für eine sicherheitspolitische Unabhängigkeit der EU von der NATO ein . Obwohl die EU inzwischen ihre militärischen Ziele ehrgeiziger und sichtbar auf Eigenständigkeit bedacht zu umschreiben weiß, zeigen doch die von dem Europäischen Rat von Feira vom 19./20. Juni 2000 angenommenen "Prinzipien über die Konsultation mit der NATO über militärische Angelegenheiten" deutlich, dass das "bilaterale" Verhältnis zwischen beiden Organisationen noch keineswegs geklärt ist.
VII. Die gegenwärtige Regierungskonferenz
Führt man sich die skizzierte, äußerst komplexe Problematik vor Augen, so beschleicht einen das Gefühl, als beschränke sich die gegenwärtige Regierungs- und Reformkonferenz bewusst auf lediglich technische Fragen. Es sollen Lösungen dafür gefunden werden, wie die EU in institutioneller Hinsicht auch noch nach einer Erweiterung um eine große Zahl von Staaten funktionieren kann. Als Kernfragen gelten die Größe und Zusammensetzung der Europäischen Kommission, das Stimmengewicht der einzelnen Mitgliedstaaten im Ministerrat sowie die Erweiterung des Mehrheitsprinzips. Eine Debatte über die Problematik, inwieweit die Erweiterung zugleich noch eine Vertiefung oder zumindest Beibehaltung des gegenwärtigen Integrationszustandes zulässt, wird dabei nicht ausreichend geführt . Genau dies hat jedoch schon Jacques Delors zu Anfang des Jahres als beunruhigend kritisiert. Für ihn besteht die Gefahr, dass mit der Vergrößerung um weitere Mitglieder eine proportionale Verringerung der Supranationalität einhergeht. Auf dieser Befürchtung beruht sein Vorschlag, die europäische Integration mittels eines Vertrages im Vertrag "abzusichern", durch den einer Avantgarde von Mitgliedstaaten gestattet wird, weiter zu gehen, als es die anderen wollen. Dies mag man die These eines Kerneuropas nennen, wobei das Vorhaben weniger an einen Kern - der zugleich eine geographische Mitte andeutet - als an eine räumlich nicht unbedingt festgelegte Elite erinnert, deren Motor allerdings Frankreich und Deutschland nach dem historischen Vorbild des Schumanplanes bilden sollen.
Nur äußerst zaghaft hat sich die portugiesische Ratspräsidentschaft dieses Themas angenommen. Nach einer Diskussion anlässlich des informellen Treffens der Staats- und Regierungschefs auf den Azoren am 6./7. Mai 2000 und unter dem Eindruck der Berliner Rede von Außenminister Fischer schlug sie schließlich vor, die Frage einer engeren Kooperation zwischen einzelnen Mitgliedstaaten auf die Agenda der Revisionskonferenz zu setzen. Der Europäische Rat von Feira vom 19./20. Juni 2000 hat dann - entgegen der vorher immer wieder betonten Absicht, die Konferenzagenda nicht zu erweitern - einen entsprechenden Beschluss gefasst . In Erwägung gezogen wird, das teilweise Vetorecht gegen eine verstärkte Zusammenarbeit (Artikel 11 Abs. 2 Satz 2 EG-Vertrag) abzuschaffen und die Zahl der für eine solche Zusammenarbeit erforderlichen Mitgliedstaaten - gegenwärtig ist eine Mehrheit notwendig (Artikel 43 Abs. 1 Buchstabe d EU-Vertrag) - zu reduzieren . Diese Überlegungen erwecken den Eindruck, als solle nun ein "Fluchtweg" für den Fall geschaffen werden, dass die Erweiterung die bisherige EU zu stark beeinträchtigt. Bei Eintreten eines derartigen Risikos könnte ein Teil der bisherigen Mitgliedstaaten einen neuen Vertrag mit neuen Institutionen innerhalb oder außerhalb der EU schaffen.
Abgesehen davon, dass darin kein umfassendes Konzept zur Lösung der schwierigen Fragen zu erblicken ist, ist bei diesem Vorschlag - der lediglich die bereits in Artikel 11 EG-Vertrag und Artikel 43 EU-Vertrag enthaltenen so genannten Flexibilitätsklauseln reformieren will - problematisch, dass er die europäische Integration noch mehr verkompliziert. Als außervertragliche Vorreiterrolle für einen übersichtlichen Bereich - als Beispiel seien die Schengenvereinbarungen über die Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen genannt, die inzwischen in das EU-Recht integriert worden sind - mag dies gelingen. In einem größeren Maßstab, der nicht von vornherein begrenzt und auf baldige Vergemeinschaftung angelegt ist, begegnet der Vorschlag jedoch dem genannten Bedenken. Zudem droht eine erneute Spaltung Europas, die gerade durch die Aufnahme der neuen Mitgliedstaaten endgültig überwunden werden soll .
Timothy Garton Ash hat dazu aus der Perspektive der deutschen Außenpolitik bemerkt: "Deutschland könnte Frankreich an die erste Stelle setzen. Wenn (beide Länder) dann etwas tun würden, was man im weitesten Sinne als Einigung betrachten könnte, wäre das etwas Neues. Wenn Belgien, die Niederlande und Luxemburg dazukämen, könnte man das Resultat mit etwas dichterischer Freiheit vielleicht einen Staatenbund oder eine Bundesrepublik Nordwesteuropa nennen. Aber es wäre noch lange nicht Europa. Und eine solche kleineuropäische Strategie könnte sehr wohl auf Kosten der Beziehungen Deutschlands zu Großbritannien gehen, zu anderen Ländern in der derzeitigen EG und zu jenen, die noch immer draußen stehen."
Ein weiteres Problem der gegenwärtigen Vorgehensweise ist, dass die erheblichen ökonomischen Probleme, die die Erweiterung nach sich ziehen wird, ausgeblendet bleiben. So stellt sich die Frage, ob nicht der sorgsam austarierte Interessenausgleich zwischen Einflussnahme politischer Art und Erlangung von finanziellen und sonstigen Vorteilen durch eine übereilt vorgenommene und nicht sorgfältig abgesicherte Erweiterung ins Wanken gerät. Dieser Aspekt - und damit verbunden die Frage, wie weit die gesamteuropäische Solidarität reicht - sollte nicht unterschätzt werden, da die rechtliche Angleichung der Beitrittsanwärter - zumindest auf dem Papier - schnell erreicht werden kann, das ökonomische und soziale Gefälle jedoch enorm ist und sich dessen Anpassung - wie das Beispiel der deutschen Wiedervereinigung zeigt - wahrscheinlich Jahrzehnte hinziehen wird . Umgekehrt ist allerdings darauf hinzuweisen, dass eine Aufnahme der mitteleuropäischen Staaten zugleich deren Beziehungen untereinander fördern kann und so potentielle Konflikte zwischen diesen präventiv zu lösen vermag. Ohne diese Integration könnte die EU durch eine instabile Situation an ihrer östlichen Seite selbst bedroht werden , zumal die bisherigen Mitgliedstaaten aus diversen traditionellen Gründen auch sehr unterschiedliche Beziehungen zu den mitteleuropäischen Staaten besitzen.
Vor allem für das wieder vereinigte Deutschland stellt sich die Frage, wie dessen östliche unmittelbare und mittelbare Nachbarn im Falle ihrer Nichtaufnahme in die EU behandelt werden sollen. Angesichts der konfliktreichen Geschichte erscheint es besser, wenn insbesondere Deutschland diese Frage gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten behandelt. Dazu bedarf es noch nicht einmal der etwas antiquiert klingenden Argumentation, die europäische Integration bestehe unter anderem deswegen, um Deutschland vor sich selbst zu schützen . Interessanterweise taucht allerdings genau dieses Argument in der vom österreichischen Bundespräsidenten verlangten Präambel zu der Regierungsvereinbarung zwischen FPÖ und ÖVP vom 3. Februar 2000 wieder auf: "Das Vorhaben der EU eines breiten, demokratischen und wohlhabenden Europas, zu dem sich die Bundesregierung vorbehaltlos bekennt, ist die beste Garantie gegen eine Wiederkehr dieses dunkelsten Kapitels der österreichischen Geschichte."
VIII. Die EU am Scheideweg?
Ob die EU wirklich, wie einige meinen, an einem schicksalhaften Scheideweg - Vertiefung und/oder Erweiterung? - angekommen ist, lässt sich schwer sagen. Allerdings befindet sie sich gegenwärtig in einer höchst interessanten Phase, die zudem teilweise außerhalb der Revisionskonferenz verläuft. So wird erstens seit Dezember 1999 versucht, eine europäische Grundrechtscharta zu schaffen, die der erste Baustein eines modernen Verfassungstextes der EU sein könnte. Abgesehen von der konkreten Ausgestaltung einzelner Grundrechte und der Frage der Verbindlichkeit der Charta ist allerdings noch nicht abschließend geklärt, in welchem Verhältnis dieser Baustein zu der bereits für alle Mitgliedstaaten der EU und sämtliche Beitrittsanwärter geltenden Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) stehen soll . So droht die Gefahr eines verdoppelten und zum Teil sogar voneinander abweichenden Grundrechtsschutzes in Europa. Dies weist zugleich auf das generelle Problem hin, dass es inzwischen eine derartige Vielzahl von europäischen Organisationen, von Christoph Bertram als "schöpferische Hinterlassenschaft des Kalten Krieges" bezeichnet , gibt, dass diese allmählich nur noch als ein - nicht nur für die Bürger der EU - verwirrendes institutionelles Geflecht erscheinen . Zweitens vermischen sich durch die Sanktionen der EU und ihrer Mitgliedstaaten gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich augenfällig die Grenzen zwischen mitgliedstaatlicher Außen- und Innenpolitik .
Beides deutet eher auf eine Vertiefung hin und mag unter anderem dazu beigetragen haben, dass mit Joschka Fischer und Jacques Chirac endlich zwei amtierende hochrangige Politiker öffentlich über den weiteren Weg der europäischen Integration nachgedacht haben.