I. Einleitung
Stunden nach dem Ableben des fast 70-jährigen syrischen Präsidenten Hafiz al-Asad am 10. Juni dieses Jahres ging die Macht planmäßig an seinen Sohn Bashar, den seit 1994 inoffiziell designierten Nachfolger, über. Die sofortige Änderung des Artikels 83 (Herabsetzung des Mindestalters für den syrischen Präsidenten von 40 auf 34 Jahre) der 1973 verkündeten Verfassung durch die Volksversammlung, die Ernennung Bashar al-Asads durch den Vizepräsidenten Abd al-Halim al-Khadam zum General der Armee und seine Wahl zum Vorsitzenden der regierenden Arabischen Sozialistischen Ba'th-Partei waren Indizien dafür, dass Asad allem Anschein nach in der Voraussicht seines Todes alle Maßnahmen getroffen hatte, um eine rasche Machtübernahme zu sichern. Ferner zeigte die Wahl Bashar al-Asads, des einzigen Kandidaten, mit einem Ergebnis von 97,29 Prozent der abgegebenen Stimmen zum Staatspräsidenten einerseits die Präzision der vorher geplanten Schritte und andererseits die hohe Stabilität des Regimes, das der verstorbene Präsident in den letzten 30 Jahren etabliert hatte.
Obwohl der Machtwechsel in Damaskus reibungslos verlief, befindet sich Syrien in einer fast an Agonie grenzenden politischen und wirtschaftlichen Situation. Der alternde Präsident konnte in den neunziger Jahren auf dem Feld der Außen- und Regionalpolitik kaum Erfolge erzielen. An der Wirtschaftspolitik zeigte Asad während der gesamten Ära seiner Herrschaft kein besonderes Interesse. Dasselbe gilt für die Innenpolitik, die er, nachdem die Gefahr des Islamismus in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre gebannt war, seinen Geheimdiensten überließ. Die Domäne seines Wirkens war stets die Außenpolitik. Syrien wurde unter seiner Führung zu einer unbestrittenen Regionalmacht, wobei anzumerken ist, dass die Erfolge nach dem Zweiten Golfkrieg nachließen. Der Friedensprozess mit Israel führte trotz zweiphasiger intensiver Verhandlungen unter amerikanischer Vermittlung von 1992 bis 1996 und von 1999 bis 2000 zu keinem Friedensvertrag. Im Bereich der Regionalpolitik konnte Syrien sein Ziel, Einfluss auf Jordanien und auf die Palästinenser zu gewinnen, nicht erreichen. Im Herbst 1998 zwang die Türkei Syrien durch massiven Druck, ihre Forderungen hinsichtlich der Sicherheitsfrage zu akzeptieren. Schließlich setzte der israelische Ministerpräsident Ehud Barak, nachdem im Frühjahr 2000 ein baldiger Frieden mit Syrien in weite Ferne gerückt war, sein während der Wahlen 1999 abgegebenes Versprechen in die Realität um. Er zog die israelischen Truppen aus der 1982 errichteten Sicherheitszone im Südlibanon ab.
Die Außenpolitik Syriens stand in engem Zusammenhang mit dem politischen Stil des verstorbenen Präsidenten sowie seinen machtpolitischen Prioritäten. Da die essentiellen außenpolitischen Entscheidungen die Strukturen der politischen Herrschaft berührten und möglicherweise einen Wandel bewirken konnten, ging die syrische Führung in der letzten Dekade sehr behutsam mit den Entscheidungen, die ein Restrisiko hinsichtlich einer möglichen Machtverschiebung implizieren konnten, um. Die Prädominanz der Sicherheit des politischen Systems bei der herrschenden Elite verhinderte jeden grundlegenden Wandel im Bereich der Politik, Gesellschaft und Kultur. Dies führte am Ende der dreißigjährigen Herrschaft Hafiz al-Asads zu einem, auch im regionalen Vergleich, nicht sehr günstigen Ergebnis für Syrien. Das Land ist nach der langjährigen Herrschaft al-Asads technologisch rückständig, hat im Vergleich zu den Nachbarstaaten eine hohe Analphabetenrate und gehört zu den Staaten, die ein sehr hohes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen haben. Ökonomische und politische Stagnation sowie Korruption bestimmten vor allem die letzte Dekade der Herrschaft Hafiz al-Asads.
II. Die syrisch-israelischen Friedensverhandlungen
Über den Stellenwert der Friedenspolitik im Rahmen der Herrschaftsstrategie Hafiz al-Asads scheiden sich die Geister. Die israelischen und die proisraelischen amerikanischen Nahostexperten vertreten in der Kontroverse über die Haltung Asads zum Friedensprozess die Meinung, dass Hafiz al-Asad nach dem Wandel der globalen und regionalen Strukturen infolge des Zusammenbruchs des Ostblocks und durch den Zweiten Golfkrieg zu Verhandlungen bereit war. Dabei ließ sich Asad allerdings nicht davon leiten, Frieden mit dem Erzfeind Israel zu schließen, vielmehr war er bemüht, eine mögliche internationale und regionale Isolierung zu vermeiden. Ein Friedensvertrag hätte die politische Öffnung des Systems, die politische Partizipation der Bevölkerung und damit das Ende der Herrschaft der alawitischen Minderheit, aus deren Reihen Asad stammte, bedeutet
Zweimal waren Israel und Syrien bei Verhandlungen 1992-1996 und 1999-2000 am Rande eines Friedensvertrages, und dennoch konnten sie den letzten Schritt nicht gehen. Seit dem Beginn der Friedensverhandlungen Ende 1991 mussten sich die Vorstellungen und Erwartungen der syrischen Führung den realen Gegebenheiten anpassen. Nachdem die syrische Führung der Madrider Formel bilateraler und multilateraler Verhandlungen zwischen den Kontrahenten zugestimmt hatte, erwartete sie, dass die arabischen Staaten der Formel eines gleichzeitigen und umfassenden Friedens zustimmen würden. Israel sollte keine Gelegenheit erhalten, einen Separatfrieden mit den einzelnen Akteuren zu schließen und seinen Vorteil als stärkste wirtschaftliche und militärische Macht auszuspielen. Infolge des Abschlusses des Osloer Abkommens zwischen der PLO und Israel 1993 und der im gleichen Jahr erfolgten Unterzeichnung der Washingtoner Erklärung zwischen König Hussein und dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Rabin hatte Syrien nur noch den Libanon als Juniorpartner.
Syrien wollte die Auffassung Israels von der Formel "Land für Frieden" präzisiert erhalten. Über den amerikanischen Vermittler, unter anderem über den damaligen amerikanischen Außenminister Warren Christopher, soll Rabin die Bereitschaft Israels bekundet haben, im Falle eines Friedensvertrags den Golan vollständig zu räumen. Die Interpretation der "Zusicherung Rabins" wurde im Nachhinein, vor allem nach dem Wahlsieg Benjamin Netanjahus 1996 und vor dem Beginn der zweiten Verhandlungsrunde Ende 1999 zwischen den beiden Streitparteien, kontrovers dargestellt. Während Syrien die "Zusicherung Rabins" als den Rahmen für die Verhandlungen über die Detailfragen von 1994 bis 1996 betrachtete, wurde die erwähnte Zusicherung von israelischer Seite in ihrer politischen Relevanz abgeschwächt und relativiert. Sie sei eine hypothetische Antwort auf die Frage gewesen, ob Israel bei einer endgültigen Lösung des Konflikts auf das Golangebiet verzichten würde
Durch die Wahl Netanjahus im Mai 1996 kam es zu einem schweren Rückschlag im Friedensprozess. Er wollte die Verhandlungen nach dem Prinzip "neue Regierung, neue Verhandlungen" vom Punkt null wieder beginnen, d. h., er lehnte es ab, die bereits erzielten Fortschritte anzuerkennen. Die Vertreter der Arbeitspartei, so z. B. der ehemalige Ministerpräsident Shimon Peres, wollten nach der Wahl Netanjahus öffentlich den Stand der Verhandlungen nicht preisgeben
Vor der zweiten Runde der Verhandlungen 1999-2000 war der Umfang des israelischen Abzugs aus dem Golan nicht der einzige Streitpunkt zwischen Syrien und Israel. Syrien ging bei den Verhandlungen von den Prinzipien der Gleichbehandlung, der Reziprozität und der Symmetrie aus, d. h., ein Zugewinn an Sicherheit des einen sollte nicht zu Lasten des anderen gehen. Dies wurde vor allem im Zusammenhang mit der Frage der Sicherheit deutlich. Israel präsentierte bei den Verhandlungen 1994-1996 ein Bündel von Forderungen für den Abzug aus dem militärisch und strategisch bedeutsamen Golan. Hierzu gehörte eine starke Reduzierung der Präsenz syrischer Truppen über den zu entmilitarisierenden Golan hinaus. Eine andere israelische Forderung bezog sich auf den Verbleib einer Frühwarnstation auf dem von Israel besetzten Mount Hermon. Es war evident, dass Syrien, was die Entmilitarisierung und andere Maßnahmen betraf, auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit, Gleichwertigkeit und Symmetrie bestehen würde. Grundlegend war jedoch der Umfang des Abzugs Israels aus dem besetzten Gebiet. Alle anderen Fragen hätten nach der Erreichung einer Einigung geregelt werden können. Nach einer langen Verhandlungspause, die praktisch von der Wahl Benjamin Netanjahus im Mai 1996 bis zum Wahlsieg der Arbeitspartei unter der Führung Ehud Baraks 1999 andauerte, ruhten die syrisch-israelischen Verhandlungen.
Die Wahl Baraks wurde in Syrien begrüßt. Asad und Barak zollten sich öffentlich Respekt und gingen von konstruktiven baldigen Verhandlungen aus. In einem Interview mit der arabischsprachigen Zeitung al-Hayat drückte Asad seine Reaktion auf die Wahl Baraks mit folgenden Worten aus: "Ich habe seine Karriere und seine Äußerungen verfolgt. Er scheint ein starker und ehrlicher Mann zu sein. . . . Es ist deutlich, dass er Frieden mit Syrien erreichen will. Er bewegt sich mit angemessenen Schritten vorwärts."
Der Biograph Hafiz al-Asads und Syrienexperte Patrick Seale
In einem Beitrag über die Bedingungen Asads vor der Aufnahme der ersten Verhandlungsrunde im Sommer 1994 präzisierte Seale die Forderungen des syrischen Präsidenten. Er soll den amerikanischen Unterhändlern Warren Christopher und Dennis Ross deutlich gemacht haben, dass er auf dem vollständigen Abzug Israels vom Golan bestehe und dass die Grenzen vom 4. Juni 1967 kein Gegenstand der Verhandlungen sein könnten
In der Grenzfrage ist tatsächlich mehr als ein Aspekt von Bedeutung
Es scheint, dass die Fragen des vollständigen Abzugs und der Sicherheit eine hohe Priorität für den syrischen Präsidenten hatten. Dabei zeigte er eine gewisse Flexibilität. Nach Seale soll Asad 1995 auf dem Feld der Sicherheitsregelungen folgende Idee in die Diskussion eingebracht haben: Es sollen Strukturen entlang der Grenze entstehen, die einen Angriff oder einen umfassenden Krieg verhindern. Zudem soll das Grenzregime jede direkte Konfrontation der Streitkräfte der beiden Länder verhindern
Nach einer mehrmonatigen abwartenden Phase, in der die Kontrahenten ihre Positionen abermals betonten, stimmten die beiden Konfliktpartner dem amerikanischen Vorschlag zu, die Verhandlungen dort aufzunehmen, wo sie 1996 abgebrochen waren. Dadurch wurden wieder Verhandlungen ermöglicht, aber auf Kosten einer Klarheit über die Grenzen, die der syrische Präsident unaufhörlich nach der Wahl Baraks forderte. Präsident Clinton soll damals dem syrischen Präsidenten zugesichert haben, dass das Versprechen Rabins die Grundlage der Verhandlungen sei
Um die verfahrene Situation wieder in Gang zu bringen, trafen sich Asad und Clinton im März 2000 in Genf. Die extrem kurze Unterredung führte zu keinem Ergebnis. Syrien beharrte nicht nur auf den Grenzen von 1967, sondern darüber hinaus wollte Asad keineswegs auf die Nutzung des Tiberiassees, der von syrischen Zuflüssen gespeist wird, verzichten. Die israelische Ansicht, dass der See ausschließlich in israelischem Besitz bleiben muss und dass Syrien, nach dem Prinzip der absoluten Integrität, keine Veränderungen an den Zuflüssen zum Tiberiassee unternehmen darf, ist als eine eklatante Souveränitätseinschränkung Syriens zu bewerten. Die von Israel gegenüber Syrien geforderte absolute Integrität ist zum einen nicht das einzige völkerrechtliche Wasserregelungsprinzip, zum anderen hat die UNO durch Verkündung kooperativer Regelungsvorschläge neue Normen im Völkerrecht gesetzt.
III. Das schwere Erbe Hafiz al-Asads
Die alawitische Gemeinschaft in Syrien, die mächtigen Offiziersriegen, die Partei und die obersten Ränge der staatlichen Bürokratie bildeten unter Hafiz al-Asad die Stützen der politischen Macht. Aus den Angehörigen dieser Gruppen ging die Staatsklasse hervor. Diese Gruppen beherrschten in der dreißigjährigen Regierungszeit Hafiz al-Asads das Land. Die syrische Staatsklasse weist einen hohen Grad an Kohärenz und Kontinuität auf. Anders als im vergleichbaren Irak wurde das System strukturell und personell kaum verändert. Die Kosten waren für das Land sehr hoch: Die Isolationspolitik und die Unbeweglichkeit des Systems führten zu einer umfassenden Stagnation der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen. Alle Bereiche, die die Sicherheitsbedürfnisse des Systems nicht tangierten, wurden vernachlässigt. So konnte das Bildungswesen, auch im regionalen Vergleich, kaum Fortschritte verzeichnen. Die Analphabetenrate in Syrien gehört mit 36 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahren zu den höchsten in der Region
Diese Probleme fanden in der syrischen Wirtschaft ihren Niederschlag. Mitte der siebziger Jahre versuchte das syrische Regime, durch die Einräumung eines größeren Terrains für den Privatsektor neue soziale Schichten für sich zu gewinnen. Die so genannte Öffnungspolitik (infitah) blieb jedoch im Vergleich zu Ägypten eher bescheiden. Erst durch die Verabschiedung das Investitionsgesetzes Nr. 10 im Jahre 1991 sollte der Privatsektor die marode, vom Staat kontrollierte Wirtschaft wieder ankurbeln. Die restriktive Vergabe von Projektgenehmigungen und der fehlende Rahmen (etwa Industrieparks und ein modernes Banksystem) führten dazu, dass die Hoffnungen, die in die Liberalisierung gesetzt wurden, nicht realisiert werden konnten. Zudem kam es nicht zu der in Syrien viel diskutierten Privatisierung der Wirtschaft. Das Ergebnis der Wirtschaftsstagnation war, zumal bei Berücksichtigung der jährlichen Bevölkerungswachstumsrate, negativ. Im Widerspruch zu dieser Situation bemächtigten sich die wenigen Privatunternehmer der staatlichen Unternehmen und die Angehörigen der Staatsklasse häuften beachtliche Reichtümer an.
Es ist zu vermuten, dass Bashar al-Asad, der sich als Modernisierer profilieren möchte, den Reformstau partiell bewältigen wird. Die anstehenden Probleme der Privatisierung und der Liberalisierung der Wirtschaft sind kein leichtes Unterfangen. Vor allem der Widerstand der alten Garde und der Bürokratie muss gebrochen werden. Der Streit um die Einführung eines modernen Banksystems ist ein typisches Beispiel für die Unbeweglichkeit der Staatsklasse.
Noch vor zwei Jahren lehnte die syrische Führung beharrlich die Liberalisierung des Banksektors ab. Der syrische Wirtschaftsminister Muhammad al-Imadi wies damals darauf hin, dass die in Syrien tätigen libanesischen Privatbanken für die syrischen und ausländischen Investoren Dienstleistungen erbringen könnten
Die syrische Führung hat aber vermutlich keine andere Wahl, wenn Syrien Mitglied der von der EU im Rahmen des Barcelona-Prozesses für 2010 anvisierten Mittelmeer-Freihandelszone werden möchte. Zudem muss Syrien die Konsequenzen für den Beitritt zur WTO und die Assoziierung mit der Europäischen Union tragen. Diese wären ohne Wirtschaftsreformen kaum zu bewältigen. In der jetzigen Situation fürchten die Syrer, dass ihre veraltete Industrie nicht konkurrenzfähig sein wird. Die Exportmöglichkeiten für syrische Industrieprodukte sind deshalb gering, weil sie teuer hergestellt werden und den Qualitätsstandard der europäischen Produkte nicht erreichen
Der Wirtschaftskurs des neuen Präsidenten und seines Ministerpräsidenten Miro zeigt, dass die neue Führung sich durchaus bewusst ist, dass trotz der Widerstände der alten Garde Anstrengungen zur Ankurbelung der Wirtschaft unternommen werden müssen, zumal die fast 25 Milliarden Dollar Schulden die Erlöse aus dem Erdölexport verschlingen. Die Ankündigung Miros, dass der öffentliche Sektor im Interesse des Privatsektors stehe, ist nicht konsequent genug, da die führende Rolle des Staatssektors nicht durch die Führung in Frage gestellt werde
Die Stagnation und die Verknöcherung der Strukturen ist vor allem auch im Bereich der Politik sichtbar. Asad stellte zu keiner Zeit die in der Verfassung von 1973 verankerte Führungsrolle der regierenden Ba'th-Partei in Staat und Gesellschaft (Art. 3) infrage. Die 1972 gegründete Nationale Progressive Front diente eher zur Legitimation des Regimes. Sie hat seit ihrer Gründung nie eine selbstständige Politik betrieben. Zudem marginalisierte Asad die mit ihm koalierenden Parteien durch das Prinzip der Spaltung und der Integration, so dass aus den vier Parteien, die 1972 die Nationale Progressive Front mit der Ba'th-Partei gründeten, weitere drei hervorgingen. Die Volksversammlung war eine zweite Möglichkeit für die Kooptation der politischen Kräfte. Neben den erwähnten Parteien der Nationalen Progressiven Front erhielten die "Unabhängigen" seit den Parlamentswahlen von 1990 etwa 35 Prozent der 250 Sitze.
Die Stabilität des Systems beruhte nicht nur auf der ideologischen Legitimation, sondern auch auf den viel zitierten berüchtigten und vielfältigen syrischen Geheimdiensten. Das System Hafiz al-Asads stützte sich vor allem auf die traditionelle Solidarität seiner alawitischen Gemeinschaft, die etwa zehn Prozent der syrischen Bevölkerung ausmacht. Die Loyalität der alawitischen Offiziere innerhalb der Armee, in den Geheimdiensten, aber auch in der Partei war die Hauptsäule der Stabilität des Systems.
Die Frage des Nachfolgers des seit den achtziger Jahren erkrankten Asads ging daher mit der Aufrechterhaltung der angedeuteten Strukturen einher. Zwei Ereignisse waren für Vorstellungen Asads hinsichtlich der Nachfolgefrage von primärer Bedeutung: Die Nachfolgefrage ergab sich erstmals im Herbst 1983, als Hafiz al-Asad schwer erkrankte und sein Amt nicht mehr ausüben konnte. Ein sechsköpfiges Gremium unter der Beteiligung seines Bruders Rifa'at al-Asad, des damaligen Ministerpräsidenten Abd al-Ra'uuf al-Kasim sowie des Außenministers Abd al-Halim Khaddam sollte ihn vertreten. Rifa'at al-Asad fürchtete jedoch eine Machtverschiebung zum Nachteil der Alawiten. Konsequenterweise sammelte er die alawitischen Offizier um sich und versuchte, mit Hilfe der unter seinem Befehl stehenden Verteidigungsbrigaden (Saraiya al-Difa') die Macht an sich zu reißen. Die Offiziere versagten ihm jedoch auf Druck des erkrankten Staatspräsidenten die Gefolgschaft. Vom Krankenbett aus leitete Hafiz al-Asad die Entmachtung seines Bruders ein. Asad, der sich einst auf die Kampfbrigaden seines Bruders in der Auseinandersetzung mit den Islamisten verlassen konnte, hatte nun allen Grund zu der Befürchtung, dass sein Bruder ihn entmachten und dadurch den behutsam aufgebauten Machtzuwachs der Alawiten in Gefahr bringen könnte.
Diese Ereignisse werden unterschiedlich interpretiert; eines scheint jedoch sicher zu sein: Asad war nun alarmiert, seinen Nachfolger selbst zu bestimmen. Der Aufbau seines älteren Sohnes Basil zum Nachfolger hatte höchste Priorität. Der unerwartete Unfalltod Basils im Jahr 1994 zwang den Präsidenten dazu, seinen zweitältesten Sohn für die Übernahme des Präsidentenamtes vorzubereiten. Seit Mitte der neunziger Jahre wurde Bashar al-Asad systematisch aufgebaut. Seitdem wird die Aura des Modernisierers und des Saubermanns um ihn verbreitet. Die Modalitäten für die Machtübernahme durch Bashar beschränkten sich nicht nur auf den eher symbolischen Offizierslehrgang und den Vorsitz der "Syrischen Gesellschaft für Information". Darüberhinaus wurden in den letzten zwei Jahren alle möglichen Konkurrenten ausgeschaltet, so unter anderem auch Asads Bruder Rifa'at, der 1998 sein Amt als Vizepräsident verlor. Er ging daraufhin ins Exil. Im Herbst 1999 wurde sein Besitz in Syrien gewaltsam beschlagnahmt.
IV. Bashar al-Asad: Wandel ohne Diskontinuität?
Die Machtübernahme durch Bashar al-Asad war nach dem Ableben seines Vaters eher eine Formsache. Das Drehbuch lag längst vor. Zwei Fragen scheinen aber trotz der problemlosen Machtübernahme für die Zukunft des Systems von großer Bedeutung zu sein. Zum einen, ob Bashar al-Asad gewillt und in der Lage ist, die Herausforderungen des schweren Erbes zu bewältigen. Dies hieße, das Land zu modernisieren und das System politisch und wirtschaftlich zu öffnen. Zum anderen stellt sich die Frage, ob er den Friedensprozess als eine wichtige Prämisse für den umfassenden Wandel fortführen wird. Diese Fragen scheinen in einem engen Zusammenhang mit der Zukunft seiner Herrschaft zu stehen.
In seiner Rede zum Amtsantritt bezog Bashar al-Asad Stellung zu den Herausforderungen und zu den Reformplänen, die er in der nächsten Zeit in Angriff nehmen wird
Die Vorstellungen des neuen Präsidenten über die Umgestaltung scheinen tatsächlich, wie die Kritiker des Systems es formulieren, eher kosmetisch zu sein
Die Umstrukturierung der Ba'th-Partei, die seit der Amtsübernahme durch Bashar al-Asad vorgenommen wird, dient vermutlich eher der Effizienz des Parteiapparates, der von Hafiz al-Asad zugunsten anderer Institutionen, vor allem der Geheimdienste, vernachlässigt worden war. Die versprochene Anpassung der "Nationalen Progressiven Front" beschränkt sich bislang auf die im Oktober 2000 erteilte Erlaubnis zur Öffnung von Büros für die Frontparteien. Diese Parteien bleiben aber 28 Jahre nach der Gründung der Front juristisch illegal, da seit der Machtübernahme durch die regierende Ba'th-Partei kein Parteiengesetz verabschiedet worden ist. Die Frontparteien sind vom guten Willen der Staatsführung abhängig. Ein nicht unbedeutender Faktor ist die Frage nach der Haltung des Präsidenten zur alten Garde, die seinen Vater dreißig Jahre auf seinem Weg zum absoluten Herrscher Syriens begleitete.
Die in Syrien entstandene Konstellation unterscheidet sich von der, die sich in Jordanien nach dem Tode König Husseins bildete. Der neue jordanische König hat eher die Handhabe, sich der alten Garde zu entledigen. Da die Stabilität der haschemitischen Herrscher, die selbst keine autochthone jordanische Gruppe sind, auf der Partizipation der Vertreter der traditionellen ethnischen und religiösen Gruppen an der Macht beruht, kann der junge König die alte Garde durch junge Vertreter der erwähnten Gruppen ersetzen. Eine angemessene Beteiligung der Palästinenser bleibt noch eine offene Frage, auch wenn ihre Zahl im Sommer 2000 unter der neu gegründeten Regierung Abu al-Raghib zugenommen hat. Die Ziele des neuen Königs, der sich ebenfalls der verkrusteten Strukturen entledigen will, konzentrieren sich auf die Demokratisierung, Liberalisierung und Privatisierung. König Hussein legte schon Ende der achtziger Jahre die Grundlagen für die Verwirklichung dieser Ziele. Allerdings scheint die politische Gleichberechtigung des palästinensischen Bevölkerungsteils die größte Herausforderung für König Abdallah zu sein.
In Syrien kann Bashar al-Asad die mächtige alawitische Gruppe innerhalb der Armee und im Staatsapparat nicht entmachten, um sie durch eine jüngere, weniger korrupte Gegenelite zu ersetzen, da sie die Grundlage seiner eigenen Macht ist. Die inneralawitischen Differenzen könnten der Anfang einer Marginalisierung sein. Hafiz al-Asad hat u. a. seinen Bruder Rifa'at al-Asad deshalb aus dem Zentrum der Macht entfernt, weil er die Gefahren möglicher inneralawitischer Zwistigkeiten bemerkte. Die sunnitischen Angehörigen der alten Garde kann er ebenso wenig entmachten, da die enge Verflechtung dieser Politiker mit dem System dies nicht zulässt. So konnte der ehemalige Stabschef der syrischen Armee, Hikmat Shihabi, nachdem die syrische Presse über seine Verwicklung in Korruptionsskandale berichtet hatte und er sich infolgedessen in die USA absetzte, im Juli 2000 unbehelligt nach Damaskus zurückkehren. Asad soll dem Präsidenten der Volksversammlung, Abd al-Qadir Qaddura, anvertraut haben: "After my father passed away, I learned the value of the organization he left behind."
Bashar al-Asad hat auf dem Parteitag der regierenden Ba'th-Partei im letzten Juni durchgesetzt, dass korrupte Personen, die für das Regime zu einer Belastung geworden waren, nicht wiedergewählt wurden. Ferner hat er auch einige Provinzfunktionäre entlassen. In der Führung der Massenmedien kam es ebenfalls zu Entlassungen und Umsetzungen. Diese Maßnahmen tragen offensichtlich nicht zu einer Veränderung der Strukturen bei, die seit Jahrzehnten die Ursache für Stagnation und Korruption sind. Solange der Staat eine führende Rolle in der Wirtschaft spielt und die Privatisierung der maroden Staatsunternehmen verhindert wird, scheint eine Reformpolitik kaum durchführbar. Hinzu kommt, dass unter dem verstorbenen Präsidenten Netzwerke entstanden sind, die die Korruption und die Vetternwirtschaft zu einer allgemein gültigen Norm gemacht haben
Auf dem Feld der Regionalpolitik verfügt der neue Präsident über eine gewisse Bewegungsfreiheit. Er ist nicht wie sein Vater mit einer schweren Hypothek und Verwicklung belastet. Die Beziehungen Syriens mit Jordanien und auch die mit Arafat sprechen von einem neuen Anfang. Strategisch bleiben die Beziehungen mit Ägypten, aber vor allem mit Saudi-Arabien bzw. mit anderen Staaten des Golfkooperationsrates, die Syrien seit Jahrzehnten finanziell unterstützen, von zentraler Bedeutung. Syrien kann nur in der Kooperation mit Ägypten und Saudi-Arabien eine starke arabische Achse bilden. Dies war nach dem Yom-Kippur-Krieg und nach dem Zweiten Golfkrieg der Fall.
Neben der Festigung seiner Herrschaft wird die Haltung des neuen Präsidenten zum nahöstlichen Friedensprozess insgesamt und insbesondere zum israelisch-syrischen Konflikt höchstwahrscheinlich der bestimmende Faktore für die syrische Politik sein. Die politische Stabilität und damit die ökonomische Prosperität hängen mit der Beilegung des bilateralen und regionalen Konflikts zusammen. Bei den beiden israelisch-syrischen Verhandlungsrunden wurde von israelischer Seite stets auf die mangelnde Gesundheit Hafiz al-Asads spekuliert. Der Präsident, so hieß es damals, habe keine andere Wahl, als den Konflikt vor seinem Tode zu regeln, zumal der designierte Nachfolger sein eigener Sohn war. Dies implizierte, dass der Präsident allein die Macht dazu hatte, den Frieden mit Israel gegenüber internen und externen Gegnern der Konfliktbeilegung durchzusetzen. Dieser Gedanke war nicht falsch. Asad hätte gern den Konflikt mit Israel zu seinen Lebzeiten geregelt, um die Machtübernahme durch seinen Sohn nicht zu belasten. Er war aber nicht bereit, um jeden Preis Frieden mit Israel zu schließen.
Bashar al-Asad hat erwartungsgemäß nach seiner Wahl und in seiner Rede zur Amtsübernahme seine Bereitschaft erklärt, für den Fall, dass Israel die Grenzen vom 4. Juni 1967 akzeptieren würde, die Verhandlungen wieder aufzunehmen und Frieden zu schließen
V. Zusammenfassung
Durch das Ableben Hafiz al-Asads wird Syrien als eine aktive, berechenbare und konsequente Regionalmacht voraussichtlich seinen Rang in der Regionalpolitik zumindest kurzfristig nicht behaupten können. Der verstorbene syrische Präsident hat ein strenges, stabiles, aber wenig dynamisches innenpolitisches Regime aufgebaut. Ferner hat er es verstanden, Syrien unter den besonderen historischen Bedingungen im Schatten des bipolaren Weltsystems als Regionalmacht zu etablieren. Innenpolitisch und wirtschaftlich erstarrte das System jedoch. Hafiz al-Asad scheint geglaubt zu haben, dass jedwede Veränderung zur Machtverschiebung und zum Machtverlust führen könne. Die konfessionalistische Struktur des Systems war wahrscheinlich ein bestimmender Faktor, der den Willen zu Reformen bei Asad schwächte. Liberalisierung, Demokratisierung und Partizipation könnten ein "Schreckgespenst" für das autoritäre System Hafiz al-Asads gewesen sein. In der Außenpolitik gelang es dem alten Präsidenten, sich z. B. trotz regionaler und internationaler Widerstände im Libanon festzusetzen. Die neunziger Jahre brachten neue Herausforderungen. Das Ende des globalen bipolaren Systems bedeutete für Hafiz al-Asad den Verlust des bisherigen Partners, der Sowjetunion. Asad versuchte durch seine Haltung im Zweiten Golfkrieg, aber vor allem durch die Teilnahme am Friedensprozess einen flexiblen außenpolitischen Kurs einzuschlagen. Der Friedensprozess war die größte Herausforderung, mit der Asad in seiner sehr langen Karriere als Offizier und Politiker konfrontiert war. Er war wahrscheinlich prinzipiell dazu bereit, Frieden mit dem Erzfeind zu schließen. Er wollte zum einen eine Garantie für die vollständige Rückgabe des Golans. Zum anderen sollten seine Bedingungen - die Gleichberechtigung der Partner und die Reziprozität der Schritte - erfüllt werden. Asad war nicht dazu bereit, auch nur einen Hauch von Unterlegenheit zu akzeptieren. Der von syrischen Massenmedien seit 1994 propagierte "Frieden der Mutigen" bezog sich an erster Stelle auf Hafiz al-Asad, den starken Friedenspartner. Vermutlich wäre aber eine rasche und umfassende Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Konfliktpartnern, auch wenn Israel die von Rabin gemachte Zusicherung anerkannt hätte, von Asad nicht erfüllt worden. Es ist nicht völlig falsch, wenn behauptet wird, dass die unnachgiebige Haltung Israels in der Grenzfrage den Syrern nicht ganz ungelegen kam.
Asads Tod hat in Syrien keine Systemkrise ausgelöst. Sein Nachfolger Bashar al-Asad hat keine andere Wahl, als das schwere Erbe seines Vaters so zu gestalten, dass es für seinen angestrebten Machtzuwachs nützlich wird. Der jordanische König Abdallah II., der vor der Machtübernahme durch Bashar al-Asad mit diesem in regem Kontakt stand, glaubt, dass Bashar viel von seinem Vater gelernt hat. Sollte dies der Fall sein, so wird er bei der Verwaltung des Erbes keinen grundlegenden Wandel anstreben. Sein Vater hat durch die staatlichen Massenmedien Berichte verbreiten lassen, die ihm die Aura eines Reformers und Modernisierers verliehen. Der junge Asad ist scheinbar der Ansicht, dass das Mittel der Antikorruptionskampagne, ein immer wieder unter der Herrschaft seines Vaters genutztes Instrument, sowie die Hervorhebung der Notwendigkeit der Modernisierung ohne politische Reformen möglich seien. Aus diesem Grund ist es denkbar, dass die alte Garde sich noch lange der Machtausübung erfreuen kann. Bashar, der mit dem Ordnen des syrischen Hauses beschäftigt ist, wird höchstwahrscheinlich kaum den Friedensprozess primär auf seine politische Agenda setzen. Es sei denn, dass der Friedensprozess regional wieder in Gang kommt oder die Stabilität des Systems einen Friedensvertrag mit Israel erforderlich macht.