I. Dreifacher Bezugsrahmen
Das Modell des "Arbeiterstaates" - die Bauern in der offiziellen Etikettierung lassen sich hier vernachlässigen
Ohne diese ausgeprägt idealistische Komponente des Historischen Materialismus ist die lange, weltweite Faszination des Marxismus und die Verführungskraft seiner Utopie einer klassenlosen Gesellschaft nicht verständlich. Lenin fügte dieser Vorstellung die Forderung nach einer revolutionären Avantgarde hinzu, ohne die es keine erfolgreiche proletarische Revolution geben könne. Nur so ließ sich nach Lenin das Verharren der Arbeiterschaft in einem "trade-unionistischen" Bewusstsein verhindern und überwinden
An diesen beiden Axiomen waren die politischen und ökonomischen Grundstrukturen der Systeme orientiert, die nach 1945 mit Hilfe der Roten Armee in Ostmitteleuropa etabliert wurden. Die mit der kommunistischen Bewegung verbundene selbst ernannte Avantgarde, auf die sich die Sowjetunion stützte, stammte in ihrer großen Mehrheit aus der Arbeiterschaft; sie war aber trotz aller terminologischen Rabulistik nicht mehr Teil dieser Klasse, sondern verselbständigte sich schnell gegenüber ihrer Basis. Ihre Herrschaft funktionierte nach den Gesetzen einer von der Sowjetunion implantierten und von der deutschen kommunistischen Führungselite akzeptierten und gewollten Diktatur, die ihren ursprünglich gedachten Übergangscharakter schnell verlor. Statt des von Engels prognostizierten "Absterbens des Staates"
In der östlichen Hälfte Deutschlands vollzog sich dieser Versuch in einer singulären Situation: Jenseits der Grenze gab es diesen bürgerlichen Staat innerhalb einer noch existierenden Gesamtnation, die lange Zeit durch vielfältige wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verbindungen über die politische Grenze hinweg zusammengehalten wurde. Das bedeutete nicht zuletzt, dass in der DDR der Westen ungleich stärker präsent war, als das für Ostmitteleuropa gelten konnte.
Welche kollektive und individuelle soziale Relevanz hatte die Ideologie des "Arbeiterstaates", der zwar politisch ein sowjetischer Oktroi war, aber zugleich wesentliche Ziele der sozialistischen Arbeiterbewegung einzulösen beanspruchte, für die realen Arbeiter im beruflichen und alltäglichen Leben? Was bedeutete in diesem Kontext die Nachbarschaft der kapitalistischen Bundesrepublik mit politischer Freiheit, einer expandierenden Sozialpolitik und einer "reformistischen" Arbeiterbewegung für die Politik der SED und für das Verhältnis der Arbeiter in der DDR zu "ihrem" Staat?
Diese Fragen verweisen überwiegend auf weiße Flecken in der Historiographie. Eine Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in der DDR wird damit in drei Bezugsfelder eingeordnet: Sie stand einerseits in einer deutschen Tradition, auf die man sich zu Recht - oder zu Unrecht - ständig berief. Sie war andererseits Teil des sowjetsozialistischen Herrschaftssystems, in dem sowjetische Modelle von außen vorgegeben und auch freiwillig als Vorbilder übernommen wurden. Beide Entwicklungsstränge aber standen, drittens, ständig unter dem Einfluss eines westdeutschen Magnetfeldes, dessen Ausstrahlung zwar nicht gleichbleibend war, aber zu keinem Zeitpunkt wirklich durchkreuzt werden konnte und so stets eine strukturelle und mentale Herausforderung blieb.
Dietrich Mühlberg hat in der Rezeption der Formen und Erfahrungen der Arbeiterbewegung als Organisationskultur aus den zwanziger Jahren einen wesentlichen Charakterzug der DDR gesehen: "So gut wie alle Einrichtungen der Arbeiterbewegungskultur wurden wieder aufgenommen und in modifizierter Form (meist an Betriebe oder Gewerkschaften gebunden) weitergeführt. Sie sollten nun für alle - vorzugsweise aber für Arbeiter - offen sein."
Offenkundig beschwor die SED "die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienst herauf", entlieh ihnen "Namen, Schlachtparolen, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen"
II. Industriearbeiterschaft und SED
"In der DDR wurde der Typus des deutschen Facharbeiters", wie Peter Hübner betont, "politisch umworben und sozial konserviert. Er stand in engem Zusammenhang mit einer Wirtschaftspolitik, die weitgehend an den vorhandenen industriellen Strukturen festhielt und diese bis Mitte der sechziger Jahre durch eine kräftig ausgeweitete Grundstoffindustrie untermauerte."
Auf diese Weise stieß die politische Dispositionsfreiheit der SED bereits früh an selbstgeschaffene Grenzen. Die Kontinuität im industriellen Ambiente verstärkte die Erwartungen der "führenden Klasse" hinsichtlich eines angemessenen, gerechten Lohnsystems und Lebensniveaus und schränkte den Spielraum für einschneidende Veränderungen auf Kosten der Arbeiterschaft von vornherein erheblich ein. Der 17. Juni 1953 wurde für diese nie aufgelöste Grundkonstellation zum politischen Menetekel. Dieses Schlüsselproblem aller kommunistischen Systeme in Europa erhielt in der DDR besondere Brisanz, weil sie den Vorposten zum kapitalistischen Westen bildete und - neben der Tschechoslowakei - der einzige Staat mit der Tradition einer starken sozialistischen Arbeiterbewegung war.
Die für die siebziger und achtziger Jahre entwickelte These vom stillschweigenden "Sozialkontrakt" zwischen SED und Arbeiterschaft, zwischen Staat und Gesellschaft
Die egalitäre Orientierung wurde in den fünfziger Jahren noch stark überlagert vom Aufbruchpathos des sozialistischen Aufbaus
Diesem im Großen und Ganzen wohl zutreffenden Befund entsprach auch die soziale Selbsteinschätzung eines im Vergleich zur Bundesrepublik viel höheren Anteils der DDR-Bevölkerung als "Arbeiter", und zwar vor 1989 ebenso wie nach 1989
In den Normen und Anschauungen der DDR-Gesellschaft steckten zwar noch Traditionselemente der alten Arbeiterbewegung, zumal deren Institutionen in verstaatlichter Form vielfach in die Konstruktion des "Arbeiter-und-Bauern-Staates" eingegangen waren. Der Egalitarismus als Grundströmung - verbunden mit der dauerhaften Erfahrung von Mangel, Desorganisation, politischer Patronage und Inkompetenz - ließ aber zunehmend andere Tugenden, die in der Arbeiterbewegung ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt hatten, in den Hintergrund treten: Disziplin, Fleiß, Qualitätsbewusstsein, Orientierung an "deutscher Wertarbeit"
III. "Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs"
Die Forderung nach Abbau der sozialen Schranken im Bildungswesen und dessen Öffnung für alle Schichten, insbesondere für die traditionell benachteiligten Arbeiter und die Landbevölkerung, war ein wichtiges Programmelement aller kommunistischen und sozialistischen Parteien. Sie gehörte neben verbreiteten Vorstellungen von Sozialisierung und Planwirtschaft bei Kriegsende zu den Postulaten, die den gesellschaftlichen Neubeginn nach dem Desaster des Nationalsozialismus signalisieren sollten
Dieser erste - "gesamtzonale" - Schritt auf dem Weg zur Einebnung traditioneller Bildungsbarrieren war zunächst begleitet von einer weitgehenden Wiederherstellung des herkömmlichen Universitätssystems, wenngleich die SED in der Personalpolitik und in der administrativen Steuerung schon frühzeitig auf Sicherung ihres Einflusses bedacht war. Um aber auch auf der universitären Ebene bereits Signale für künftige sozialstrukturelle Veränderungen zu setzen, begannen schon 1945 ohne nachweisbaren sowjetischen Einfluss unter verschiedenen Namen die ersten Initiativen für Vorstudienanstalten, aus denen 1949 die Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten (ABF) hervorgingen
Mit der Etablierung der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten 1949 gewann gegenüber anderen Motiven die gezielte politische Kaderrekrutierung an Gewicht. Insbesondere die von führenden Funktionären gezogenen Parallelen zur Parteischulung machten dieses neue Motiv deutlich: "Genauso, wie die Partei gut ausgewählte und geprüfte Genossinnen und Genossen auf ihre Parteischulen schickt", erklärte Anton Ackermann im Mai 1949, "genauso müssen auch die Bewerber und Kandidaten für die Aufnahme an den Universitäten und Hochschulen durch die Partei mobilisiert, von ihr bestimmt und überprüft werden."
Weitgehend offen ist bislang, wie die Akzeptanz dieses Angebots zum sozialen Aufstieg durch gezielte Privilegierung unter der Arbeiterschaft ausgesehen hat und wie stark der Effekt einer sozialistischen Kaderrekrutierung tatsächlich war. Die Frage nach der Resonanz lässt sich ebenso an andere Zweige des Bildungswesens richten und ist dort nicht minder schwierig zu beantworten.
Die SED führte 1951 die am sowjetischen Modell ausgerichtete 10-Klassen-Schule ein, die allgemeine und polytechnische Bildung verbinden sollte. Das Ziel, angesichts der durch Entnazifizierung und Abwanderung bürgerlicher Fachkräfte entstandenen Lücken schnell ein neues qualifiziertes Potenzial zu gewinnen, dominierte hier von Anfang an. Es war insbesondere auf Arbeiter und Bauern gerichtet mit dem Ziel, den gewünschten Kaderschub zu forcieren. Gleichwohl trat hier ebenso wie bei den Vorstudienanstalten und den ABF ein Dilemma auf, das auch im "Arbeiterstaat" nicht kurzfristig zu lösen war: Die kulturellen Grenzen des Sozialmilieus mussten aufgebrochen werden, um Angebote wirksam werden zu lassen. Vollmundige Erfolgsbilanzen parteioffizieller Berichte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lösung dieses schwierigen Problems, das relativ unabhängig vom politischen System auch in westlichen Ländern bestand, mühsam war
IV. Gewerkschaften im "Arbeiterstaat"
Die größte Massenorganisation des "Arbeiterstaates", die wie keine andere eine lange Tradition der Arbeiterbewegung mit einer substantiellen Funktionsveränderung nach sowjetischem Vorbild verband, war der FDGB. Die eigentümliche Mixtur dieser beiden Einflussfaktoren prägte das Erscheinungsbild und das Innenleben dieser Staatsgewerkschaft und macht jenseits der eher öden Organisationsgeschichte die Entwicklung dieser "Gewerkschaft" zu einem interessanten und noch keineswegs wirklich erschlossenen Untersuchungsfeld
Die Spannung zwischen sowjetischem Modell und deutscher Tradition, zwischen dem FDGB als Träger von Produktionskampagnen und als Interessenorganisation von Lohnabhängigen verschwand nie vollständig, so dass die Geschichte des FDGB unter der Oberfläche eine merkwürdige Ambivalenz aufweist. Eine Sozialgeschichte dieser Massenorganisation, die 1988 mit rund 9,6 Millionen Mitgliedern nahezu die gesamte arbeitende Bevölkerung der DDR umfasste
Der FDGB hat offenbar jenseits seiner offiziellen politischen Geschichte auch eine "Krypto-Geschichte" gehabt, die starke Verbindungslinien zum immer wieder bekämpften "Sozialdemokratismus" und zum "Nur-Gewerkschaftertum" besaß und somit auch für eine nichtstalinistische, demokratische Linie im Sozialismus empfänglich war
Neben seiner staatstragenden Funktion besaß der FDGB in der Arbeitsgesellschaft der DDR eine Schlüsselrolle im Betrieb. Arbeiter waren mit seinen Aufgaben in zweifacher Weise konfrontiert: Der FDGB war Motor der Mobilisierung für Produktionssteigerung - das Dauerthema der DDR -, aber auch Träger betrieblicher Sozialpolitik und Kulturarbeit, d. h. individuell und unmittelbar erfahrbarer sozialer, gesundheitlicher und kultureller Leistungen. Insofern schien Loyalität ratsam, auch wenn die politische Funktion des FDGB eher unerwünscht war. Für den Apparat galt tendenziell bis in die sechziger Jahre: Je höher die Ebene, desto verheerender das Image an der Basis der Belegschaften
V. Kulturhäuser
In den Richtlinien des FDGB von 1949 wurde die Funktion eines Kulturhauses folgendermaßen beschrieben: "Das Kulturhaus gibt den werktätigen Menschen die vielfältigsten Möglichkeiten zur Entwicklung ihrer schöpferischen Fähigkeiten, zur Erweiterung und Festigung ihres beruflichen Könnens und zur Vertiefung ihres Wissens und bildet damit das kulturelle Zentrum des Betriebes . . . Im Kulturhaus und aus ihm heraus soll sich das Kulturleben der Werksangehörigen entfalten. Und schließlich soll im Kulturhaus die neue Beziehung zwischen [dem] Werktätigen und seinem Werk entwickelt und gefördert werden."
Bevor mit dem "Bitterfelder Weg" 1959 eine neue Phase einsetzte, waren die auf sowjetische Initiative hin gebauten Kulturhäuser Teil der industriellen Schwerpunktbetriebe und der kollektivierten Musterbetriebe in der Landwirtschaft. "Sie waren dezentral den Produktionsstätten angegliedert und blieben als privilegiertes betriebliches Sonderterritorium häufig beneidetes Reservat für Betriebsangehörige."
So genau wir die Friktionen unter den Schriftstellern sowie zwischen den Schriftstellern und der Partei bis hin zum berüchtigten 11. ZK-Plenum 1965 kennen, so wenig Genaues wissen wir bislang über die Resonanz der kulturpolitischen Offensive von Bitterfeld an der betrieblichen Basis, das heißt im Wesentlichen in den Kulturhäusern. Die häufigen Klagen der Funktionäre über die unzureichenden Erfolge der "Zirkel schreibender Arbeiter" und der von oben initiierten "Brigadetagebücher" sind nur ein unzureichender Indikator für die mangelnde Resonanz dieses kulturpolitischen Aufbruchs. Die Untersuchung von Sandrine Kott zeigt jedenfalls, dass es beachtliche, vielfältige Aktivitäten betrieblicher Kulturgruppen gab. Sie stießen aber schnell an die engen Grenzen, die jeder Eigeninitiative gesetzt wurden, und lösten sich schließlich in geselligen Brigadeabenden auf
Als Schriftsteller sich bemühten, diese komplexe und widersprüchliche Realität im "Arbeiterstaat" literarisch umzusetzen, stießen sie erneut auf das überwunden geglaubte Veto der Partei. Insofern bedeutete das Scherbengericht des 11. Plenums von 1965 auch das Scheitern der doppelten Zielsetzung des Bitterfelder Weges.
VI. Der Westen im Osten
Auf drei Ebenen lässt sich für die Arbeitergeschichte der DDR die Präsenz des Westens im Osten besonders deutlich fassen:
1. in organisierten Formen von Widerstand, Informationsbeschaffung und gezielter "Gegenaufklärung" vor allem durch das Ostbüro der SPD in den vierziger und fünfziger Jahren;
2. im "Sozialdemokratismus" als ideologischem Stachel im Fleisch der "führenden Partei";
3. als ständige, durch Medien und Verwandtschaftsbeziehungen vermittelte Vergleichsfolie für Lebensstandard und Konsum, die für die Einstellung der Arbeiter zu ihrem Staat eine zentrale Rolle spielte.
Das Ostbüro der SPD stand zunächst in der Tradition der Widerstandsarbeit aus dem "Dritten Reich"; es sollte die in der SBZ verbliebenen Sozialdemokraten mit Material versorgen, Flüchtlinge unterstützen und sich nach Schumachers Vorstellungen zur "Nachrichtenbörse und Werkstatt für die deutschlandpolitischen und auf Osteuropa bezogenen Konzeptionen der Sozialdemokratie"
Zweifellos hat die Untergrundarbeit des Ostbüros zu keinem Zeitpunkt die von der Sowjetunion gestützte Herrschaft der SED ernsthaft gefährden können. Dennoch bieten die Monatsberichte in ihren regelmäßigen Abschnitten "Massenstimmung und Widerstandsaktionen" eine solche Fülle von Beispielen für offene und verdeckte politische und soziale Konflikte in den Betrieben, dass Partei und Staatssicherheit darüber nicht hinwegsehen konnten
"Sozialdemokratismus" wurde nie eindeutig definiert. Darin lag die propagandistische Brauchbarkeit des Begriffs zur Kennzeichnung von vielerlei unliebsamen Erscheinungen. Die Polemik dagegen durchzieht die Geschichte der SED bis zu ihrem Ende. "Sozialdemokratismus - was ist das?", fragte das "Neue Deutschland" am 5. März 1954 und gab die Antwort: "Er will den Arbeitern einreden, dass es angeblich einen anderen Weg zum Sozialismus gäbe. Er verbündet sich mit den schlimmsten Feinden der Arbeiterklasse in der Bekämpfung derjenigen Staaten, in denen die Werktätigen die Staatsmacht innehaben, und in der Bekämpfung derjenigen Arbeiterparteien, die diesen Weg anstreben. . . . Gleichzeitig - und das ist nur die Kehrseite derselben Medaille - predigt er der Arbeiterklasse die Notwendigkeit der Versöhnung mit dem kapitalistischen Ausbeuterstaat, dessen Klassencharakter beschönigt und vertuscht wird."
Die Auseinandersetzungen mit dem "Sozialdemokratismus" nahmen in den verschiedenen Entwicklungsphasen der DDR unterschiedliche Formen an, das ärgerliche Phänomen blieb jedoch. Egon Bahr ist sogar so weit gegangen, seine Politik des "Wandels durch Annäherung" als eine Spielart des - für die SED besonders gefährlichen - "Sozialdemokratismus" zu charakterisieren
Stärker als direkte politische Einwirkungsversuche dürfte jedoch der magnetische Einfluss gewesen sein, der vom Lebensniveau in der Bundesrepublik auf die Arbeiter in der DDR ausging. Der höhere westliche Lebensstandard bewirkte nicht in allen Phasen der DDR die gleiche Anziehungskraft. Er muss daher als politischer Einflussfaktor möglichst genau zeitlich differenziert bestimmt werden. So war nach einer annähernd gleichen Ausgangslage der Besatzungsjahre trotz Währungsreform das Nachhinken der DDR 1950/51 noch nicht so offenkundig, dass daraus vorrangig die Fluchtmotive abzuleiten waren. Die Messlatte für die Verbesserung des Lebensstandards war anfänglich die Vorkriegszeit, und dieser Stand wurde in manchen Positionen in der DDR kaum später als im Westen erreicht. Mit der 2. Parteikonferenz 1952 und der drastischen Kürzung konsumtiver zugunsten investiver Ausgaben ging die Schere deutlich auseinander. Zwar wurde diese Entwicklung im Zeichen des "Neuen Kurses" zeitweilig wieder zurückgeschraubt, aber das erhebliche Gefälle - trotz aller Differenzierung im Einzelnen, zum Beispiel bei Mieten und Lebensmittelpreisen - ließ sich nicht übersehen
1961 wurde mit dem Mauerbau zwar ein Teil der unerwünschten Kommunikation abgeschnitten. Andererseits wuchs die Rolle von Fernsehen und Rundfunk, seit die in der Hochphase des Kalten Krieges übliche Störung von Sendern in den siebziger Jahren nicht mehr praktiziert wurde. Diese Form der Präsenz des Westens ließ sich nur indirekt neutralisieren, indem der Arbeiterstaat seine "führende Klasse" durch sozialpolitische Attraktivität zu immunisieren versuchte und so zumindest ein bestimmtes Maß an Loyalität sicherte. Selbst wenn die Berichterstattung der "Westmedien" diese Basisloyalität nicht erschütterte, sorgte sie doch stets für Informationen über den Lebensstandard im Westen. Sie konterkarierten damit nicht nur die ständigen Tatarenmeldungen von Krisen und frühkapitalistischem Elend in der Bundesrepublik, sondern auch die eigenen Erfolgsbilanzen der SED.
In einer Umfrage des Instituts für Meinungsforschung beim ZK der SED aus dem ersten Quartal 1976 konstatierten die Befragten zwar - wie in früheren Umfragen auch - mit großer Mehrheit die klare Überlegenheit des sozialistischen Gesellschaftssystems (mit besonderer Hervorhebung der Sozialpolitik). Dass dies aber primär als politische Pflichtübung angesehen werden muss, zeigte die mehrheitlich vertretene Auffassung, in Technik und Wirtschaft sei der Kapitalismus überlegen. Auf die Frage, welche Themen bei Verwandtenbesuchen aus der BRD und Westberlin im Vordergrund stünden, rangierten Probleme des Lebensstandards (64,1 Prozent) und der Preisvergleiche (62,3 Prozent) mit großem Abstand an der Spitze
Die Mischung aus Loyalität und Unzufriedenheit, die immer auch vom Blick nach Westen geprägt war, ist nicht präzise zu erfassen, weil auch anonym und professionell durchgeführte Erhebungen kaum die "Schere im Kopf" der Befragten ganz ausschalten konnten. Dass es in den letzten Jahren der DDR einen galoppierenden Vertrauensverlust gegenüber der SED und dem sozialistischen System gab