I. Einleitung
Die Gründung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1949 hatte den vom Kalten Krieg angetriebenen Spaltungsprozess nur formal abgeschlossen. Seiner Vertiefung schien vor allem entgegenzuwirken, dass sich die Menschen in beiden Teilstaaten als Deutsche fühlten und sie in dem Bewusstsein handelten, nicht nur Angehörige einer Nation, sondern eines nur vorübergehend suspendierten Einheitsstaates zu sein. Zwar hatten sich in Politik und Gesellschaft "hüben und drüben" seit 1945 bereits wesentliche Unterschiede und eine Tendenz zur innerdeutschen Abgrenzung herausgebildet, doch sah man Deutschland diesseits nicht anders als jenseits von Elbe und Werra als gemeinsames Vaterland und bezeichnete dessen Bewohner unterschiedslos als Landsleute, "Brüder und Schwestern" oder einfach als Deutsche. Dies war im Alltag genauso der Fall wie in offiziellen Verlautbarungen. Die Zeitzeugnisse belegen ein erhöhtes Problembewusstsein in der Deutschen Frage - nämlich die Wiedervereinigung -, aber auch, dass die Perspektive eines für lange Zeit gespaltenen Vaterlandes für die meisten Betroffenen kaum denkbar, geschweige denn akzeptabel zu sein schien.
Zum einen besaßen sie keine andere als ihre gesamtdeutsche Erfahrung, zum anderen dachten sie durchaus "zweckpatriotisch", wenn sie den Einheitsstaat als die Grundbedingung für die Überwindung der Kriegsfolgen - letztendlich für die Sicherung der eigenen Existenz - ansahen. Überdies unterschätzten die meisten von ihnen die Dynamik des Kalten Krieges; der Glaube, die Russen und Amerikaner würden sich über Deutschland schon irgendwie einigen, war allgemein verbreitet. Zwar erkannten inzwischen große Bevölkerungskreise, welche Verbrechen der Nationalsozialismus begangen hatte, doch waren ihnen weder deren ganze Tragweite und alle damit verbundenen Konsequenzen bewusst, noch hatte der Antifaschismus in beiden deutschen Staaten wirklich breiten Boden gefasst
Die Schwere der nationalsozialistischen Verbrechen und ein häufig verdrängtes Schuldbewusstsein verzögerten die subjektive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und trugen dazu bei, dass die notwendige kritische Distanz zur NS-Zeit und zum eigenen Verhalten nur zögerlich zustande kam. Diese Verdrängung der Schuld wurde auch von einer Politik begünstigt, die dem Wiederaufbau in beiden deutschen Staaten den Vorrang vor einer "Vergangenheitsbewältigung" gab. Zudem lenkte der immer noch schwierige Alltag von der Frage ab, inwiefern der deutsche Nationalismus
II. Nationale Ansprüche und Ziele
Die SED sah mit der Konstituierung der DDR ein "neues Deutschland" als Alternative sowohl zur imperialistischen Kontinuität vor 1945 als auch zur kapitalistischen Bundesrepublik entstehen. Ihr Staat sollte Vorbild sein für ein von Ausbeutung und Unterdrückung freies Land aller "Werktätigen"; er sollte sich der Welt als die legitime Fortsetzung der progressiven Traditionen der deutschen Nation sowie als Hort des Friedens und der Freundschaft mit allen Völkern präsentieren. Davon abgeleitet erhob die Führung der SED - ähnlich wie die Bundesregierung - gesamtdeutsche bzw. Alleinvertretungsansprüche, entwickelte Kernstaatsgedanken und ebenfalls eine "Magnettheorie"
Das wichtigste Instrument dafür sollte eine gesamtdeutsche Volksfront (Nationale Front) aller "antiimperialistischen" Kräfte sein, die im Verständnis der SED die nationale Idee an die aktuelle politische Situation anpassen und so einen von den deutschen Lebensinteressen gebotenen neuen Patriotismus konstituieren sollte. Dieser sei gekennzeichnet vom engagierten Kampf um Frieden und Wiedervereinigung, die eine untrennbare Einheit bildeten. "Nieder mit den imperialistischen Kriegstreibern" und "nationale Befreiung der Kolonie Westdeutschland"
Diese strategische Doppelfunktion nationaler, patriotischer Propaganda fand in der Deutschlandpolitik der SED ihren deutlichsten Ausdruck: Zum einen wurde der eigenen Bevölkerung zu beweisen versucht, dass der nationale Aufbau in der DDR die wichtigste Bedingung für die deutsche Einheit sei - und wer sie wirklich wolle, den Kurs der SED unterstützen müsse. Zum anderen sollte zum gewünschten innenpolitischen Konsens umgekehrt das Versprechen der Regierung beitragen, im Sinne der "Volksmassen" und des Programms der Nationalen Front am Ziel der Wiedervereinigung unbeirrt festzuhalten
III. Patriotische Dispositionen in der SED-Führung?
Es steht m. E. außer Frage, dass sich die Mitglieder des Politbüros auf ihre Weise - wie ihre Bonner Gegenspieler - als deutsche Patrioten sahen. Die Führung der SED war weder a priori antinational noch "separatistisch". Sie fühlte sich einerseits den nationalen Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung verbunden und dachte in den Kategorien des Bismarkschen Einheitsstaates. Andererseits war ihr Bewusstsein wesentlich von den politischen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik und den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus geprägt worden, aber auch von sowjetischen Einflüssen sowie dem marxistisch-leninistischen Dogma, dass die nationale der sozialen Frage stets untergeordnet sei. Da sie letztere immer als Machtfrage begriff, bestimmte deren Primat auch die SED-Deutschlandpolitik. Das Politbüro handelte insofern antinational, als es die eigenen Machtansprüche über die Einheit und sowjetische über deutsche Interessen stellte. Doch operierten die führenden Funktionäre der SED gleichzeitig "na-tional", wenn sie Deutschland gegen die "Fremdherrschaft" der Westmächte und gegen die antinationale innere "Reaktion" zu verteidigen glaubten, womit sie alle deutschen Gegner der neuen Ordnung in der DDR und einer "antifaschistisch-demokratischen" Perspektive Gesamtdeutschlands meinten. Überdies entstand für sie im Untersuchungszeitraum subjektiv kein Widerspruch zwischen sowjetischem Sozialismusmodell und nationalem Einheitsziel, was seinen Ausdruck in dem Lehrsatz fand, dass sozialistischer Internationalismus und Patriotismus eine Einheit bildeten.
Aus allem ergab sich, dass sie die Wiedervereinigung prinzipiell wünschten, sie aber praktisch von der politisch entscheidenden Frage abhängig machten, inwiefern sie zu ihren Bedingungen zu haben sei. Gerade bei der Analyse nationalen Denkens und "patriotischen" Handelns der SED sollte man die ideologische Prägung des stalinistischen Systems nicht aus den Augen verlieren. Der Glaube an den weltweiten Sieg des Kommunismus, der um Gesamtdeutschland keinen Bogen schlage, überdeckte viele Widersprüche in den eigenen Handlungen. Die ständig wiederholte plakative Parole, dass nur ein guter Deutscher sei, der für Frieden, Wiedervereinigung, Fortschritt und für die Sowjetunion eintrete, gebot geradezu die Verbindung von Nationalem und Internationalistischem. Jetzt konnte, ja musste man Patriot und Internationalist sein. Diese Konstruktion ermöglichte es vielen Funktionären der SED, in ihrem Selbstverständnis deutsch zu handeln. Diejenigen unter ihnen, die wie Otto Grotewohl und Friedrich Ebert aus der SPD kamen, waren zudem durch die nationale Tradition der Sozialdemokraten geprägt.
Auch als sich ab 1951 innerhalb der SED-Führung zwei unterschiedliche nationale Linien herauszukristallisieren begannen
Nachdem die DDR als nationales Alternativmodell spätestens am 17. Juni 1953 gescheitert war und damit die SED die Illusion einer kurzfristigen Wiedervereinigung nach ihren Vorstellungen endgültig aufgeben musste, änderte sie jedoch vorerst nichts an ihrem nationalen Anspruch. Im Gegenteil: Wenngleich die SED in der folgenden Zeit eindeutig für die Fortsetzung des eigenstaatlichen Weges der DDR optierte und eine praktische Politik der Abgrenzung von der Bundesrepublik sowie des Abbaus nationaler Gemeinsamkeiten betrieb, verstärkte sie sogar noch die gesamtdeutsche Propaganda. Denn zum einen musste sie angesichts innerer Probleme und äußerer Misserfolge gegenüber der einheitswilligen Bevölkerung aus Akzeptanzgründen unbedingt am Postulat der Einheit festhalten und die damit verbundenen ideologischen und politischen Risiken in Kauf nehmen. Zum anderen konnte sie sich im Hinblick auf die prosperierende westdeutsche Konkurrenz gewisse Positionsvorteile in der innerdeutschen Systemauseinandersetzung weiterhin nur unter diesem Vorzeichen versprechen. Hinzu kam, dass die Sowjetunion bis 1955 im Kampf gegen die Einbindung der Bundesrepublik in ein westliches Bündnissystem auf die Einheitsrhetorik nicht verzichten wollte
IV. Nationalismus versus "Amerikanismus" und Westintegration
Das für Moskau enttäuschende Nachgeben Frankreichs hinsichtlich bundesdeutscher Wiederbewaffnung und Westintegration hatte zu einer noch stärkeren Orientierung der sowjetischen Führung auf deutsche Kräfte beigetragen. Moskau spornte die Deutschen zum eigenen "nationalen", zum "patriotischen Handeln" an. Nichts schien Stalin zuverlässiger zu sein als deutsches Nationalbewusstsein, der nationale Stolz eines Volkes, das seinen Traditionen - wie man in Moskau während des Krieges schmerzvoll erfahren hatte - so stark verbunden schien. Diese Annahme zeitigte ein politisches Programm. Es setzte eine faktisch ungebrochene Kontinuität nationaler Identität voraus, wie sie sich bis 1945 in Deutschland entwickelt hatte, und unterstellte ein Wertesystem, in dem ein "Deutschland, Deutschland über alles" Priorität hatte. Eine Reihe von Indizien weist darauf hin, dass die Sowjetunion seit dem zweiten Halbjahr 1951 entsprechenden Druck ausübte, um den "nationalen" Kampf zu intensivieren. So konstatierten die Politbüromitglieder Hermann Matern und Fred Oelssner - nachdem sie sich noch kurz zuvor in dieser Sache eher skeptisch geäußert hatten - das Fehlen eines "echten Nationalbewusstseins" und des "nationalen Verantwortungsgefühls" bei vielen Genossen; sie stellten schließlich fest, dass es bislang nicht gelungen sei, "ein echtes demokratisches Nationalbewusstsein, einen echten Patriotismus im deutschen Volke zu erziehen"
Zur Logik eines solchen Programms gehörte es, dass alle Kräfte unter Einschluss ehemaliger Nationalsozialisten angesprochen werden sollten - was auch tatsächlich geschah. Für politisch Belastete bedeutete es eine Art Absolution: Wer im Sinne der UdSSR und der DDR für Einheit und Frieden eintrat, rehabilitierte sich und galt als Patriot. Dieser einfache "Katharsis"-Mechanismus funktionierte auch in der Bundesrepublik und trennte damit faktisch gute von schlechten Nazis. Sobald sich der Eindruck ergab, dass frühere NSDAP-Mitglieder gegen die Westintegration und Wiederbewaffnung eingestellt waren, versuchte die SED, sie neben anderen oppositionellen westdeutschen bürgerlichen Kräften und Politikern der Weimarer Republik vor ihren "nationalen Karren" zu spannen. Auch belastete NS-Funktionäre sowie SS- und Wehrmachtsgeneräle
Eine Antwort auf die skeptische Haltung vieler seiner Genossen gegenüber nationalen Argumenten und gleichzeitig eine den sowjetischen Wünschen entsprechende Äußerung bildete eine weitere Zäsur, die Walter Ulbricht im Sommer 1952 mit einer Neubewertung des Nationalen setzte: Es sei falsch, die deutsche Geschichte als eine "Geschichte der deutschen Misere" darzustellen. Er forderte dazu auf, die großen Leistungen deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler in der Geschichte zu popularisieren
Freilich diente der SED eine national verbrämte Geschichts- und Kulturpolitik ebenfalls als innenpolitisches Instrument gegen "Kosmopolitismus" und andere "volksfeindliche" Abweichungen. Doch ging es auch hier eigentlich gegen den "amerikanischen Imperialismus", der als Bedrohung für den Weltfrieden und für die Lebensinteressen der deutschen Nation - insbesondere ihre kulturellen Traditionen - angesehen wurde. Dieser Antiamerikanismus kam gerade bei denjenigen in der DDR wie in der Bundesrepublik gut an, die sich gegen amerikanische Vorbilder bei Modernisierungen in der Wirtschaft, gegen die "Verwestlichung" der deutschen Gesellschaft und vor allem gegen amerikanische Einflüsse auf Jugendkultur und Alltagsleben wandten. Ulbricht schimpfte: "Wir sind gegen diesen ganzen Amerikanismus, wir sind für die Schätze der deutschen Kultur . . . und wir führen einen harten Kampf gegen den Amerikanismus. Das ist eine große Aufgabe zur Verteidigung der deutschen Kultur."
Doch erhielt der Antiamerikanismus des Politbüros erst im Zusammenhang mit der zunehmenden Westintegration der Bundesrepublik seine "nationale" Begründung und spezifische Stoßrichtung. Denn die Westbindung trage durch "imperialistische Blockbildung" zur Spaltung Europas und zur Verewigung der deutschen Teilung bei. Sie sei zutiefst antinational, was sich auch daran zeige, dass sie eine "Perspektive des Bruderkrieges Deutsche gegen Deutsche" enthalte
Die "nationalen" Argumente der SED gegen die westeuropäische Integration beruhten demnach nicht nur auf sowjetischen Vorgaben, sondern zeigten auch das eigene Unvermögen, übernationale integrative Entwicklungen nüchtern zu beurteilen und neue Tendenzen in der westlichen Nachkriegspolitik strategisch richtig zu bewerten. Hinzu kam insbesondere nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957, dass die SED befürchtete, die ökonomische Integration des Westens könnte sich zu Lasten des als nationale Alternative gesehenen innerdeutschen Handels auswirken, der auch im Interesse der Sowjetunion lag.
V. Patriotismus als integrativer Faktor?
Die flammenden nationalen Appelle der SED suggerierten einen nationalen deutschen Notstand, eine unmittelbar bevorstehende Gefahr, die ohne Verzug mit allen Mitteln und in der Gestalt einer alle friedliebenden Kräfte des Volkes umfassenden "Widerstandsbewegung" abgewehrt werden müsste. Signifikant an ihnen war, wie sie mit ganz verschiedenen tagespolitischen Zielen der UdSSR und der SED verknüpft wurden und dass sie immer wiederkehrende Elemente einer Verschwörungstheorie enthielten: "Die patriotische Widerstandsbewegung in Westdeutschland" und die "demokratische Staatsordnung" in der DDR "müssen stark und mächtig sein, um den hinterhältigen Plänen der Feinde Deutschlands gewappnet gegenüberzustehen"
Die "deutsch-nationale" Art und Weise des Kampfes der SED gegen die parlamentarisch-demokratische Ordnung in der Bundesrepublik und gegen deren Integration in den Westen appellierte in beiden deutschen Staaten an nationalistische Gefühle und Vorurteile. Inwiefern er in verschiedenen Kreisen tatsächlich zur Schürung eines zumeist unterschwelligen Chauvinismus und zu einer bei vielen noch deutlichen nationalen Überheblichkeit beitrug, ist eine weitgehend ungeklärte Frage.
Wurde die patriotische Propaganda der SED zumindest bis zum Mauerbau im Jahre 1961 gesamtdeutsch betrieben, geriet ihr gesamtnationaler Anspruch schon seit Mitte der fünfziger Jahre in einen signifikanten Widerspruch zur Zwei-Staaten-Theorie. Das Politbüro stand jetzt vor der schwierigen Aufgabe, der eigenen Bevölkerung sein offizielles Festhalten an der deutschen Einheit glaubhaft machen zu müssen, gleichzeitig aber einen Kurs zu vertreten, der von diesem Ziel wegführte. Das warf für die SED die Frage auf, wie tradierte nationale Legitimationsmuster und patriotische Werte formal beibehalten werden, aber inhaltlich den eigenstaatlichen Weg der DDR legitimieren könnten. Diese Problematik wurde auch von der Entwicklung in der Bundesrepublik mitbestimmt. Nachdem zu Beginn der fünfziger Jahre durchaus noch unklar war, inwiefern das nationale Thema der SED bei verschiedenen sozialen und politischen Gruppen im Westen verfangen würde und zeitweilige operative Erfolge im oppositionellen Lager zu verzeichnen waren, blieben diese angesichts der innen- und außenpolitischen Erfolge der Bundesrepublik, aber auch der Ineffektivität und Unattraktivität des Sozialismus in der DDR aus. Vor allem war der sowjetischen und ostdeutschen Führung lange nicht klar geworden, dass in der Bundesrepublik mit dem wirtschaftlichen und politischen Aufschwung ein allmählicher Identitätswandel einherging. Zunehmend fühlte man sich hier als Westeuropäer, sah sich auch als ein Teil eines entstehenden neuen, übernationalen Ganzen, als Mitglied von multinationalen Zusammenschlüssen, die im Alltag sichtbaren Nutzen brachten und auch mehr Sicherheit versprachen.
So verstärkte sich für die SED der Zwang, die Abgrenzung von der Bundesrepublik und die Absage an die Wiedervereinigung mit der Suche nach neuen, konstruktiven Elementen für eine ostdeutsche Identität verbinden zu müssen. Das hieß praktisch, dass man versuchen musste, das gesamtdeutsche Nationalgefühl und den Einheits-Patriotismus in ein DDR-Staatsbewusstsein zu verwandeln und damit eine Loyalität der Bürger zur SED-Politik sowie alltägliche Konformität durch Deutschlandbilder, nationale Werte, patriotische Gefühle u. a. m. zu erreichen. Das warf faktisch nicht nur die Frage auf, inwiefern der strategische Nationalismus der Herrschenden mit dem emotionalen der Beherrschten inhaltlich korrespondierte, sondern auch das Problem, gegen wen er sich konkret richten würde.
Um dem Ziel der Integration der Ostdeutschen in das System der DDR näher zu kommen, ordnete die SED die nationalen Traditionen danach, ob diese "reaktionär" und damit für die Bildung eines DDR-Staatsbewusstseins ungeeignet oder "progressiv" und daher brauchbar schienen. Die Bewohner der DDR waren seit langem mit den nationalen Parolen und Begriffen der SED vertraut. Die Wörter "national" und "Deutschland" fanden sich nicht nur in den Losungen, Programmen und Reden, sondern auch gehäuft in den Bezeichnungen von Institutionen und Gremien der DDR. Man kämpfte in der Nationalen Front, las das Neue Deutschland, die Jugend übte sich im "Dienst für Deutschland". Ab 1952 befanden sich "nationale" Streitkräfte im Aufbau - die spätere Nationale Volksarmee; viele Menschen beteiligten sich am Nationalen Aufbauwerk oder doch an den zahlreichen als national oder patriotisch apostrophierten Initiativen, wie etwa dem Kulturbund. Die SED vermochte es zunehmend, nationale Ereignisse und Gedenktage auf sich zu beziehen, zelebrierte gesamtdeutsche Feiern als DDR-Staatsakte und versuchte, an weihevollen Orten (u. a. auf der Wartburg und in Weimar) zu assoziieren, dass die DDR wesensidentisch mit den progressiven deutschen Traditionen sei und von der Geschichte berufen, das positive nationale Erbe zu bewahren und fortzuführen. Insbesondere der Kulturbund trug dazu bei, die nationalen Traditionen, aber auch die Besonderheiten der DDR bei der Entwicklung ihrer Kultur, herauszustellen und zu propagieren. Bei den Menschen in der DDR erzeugten solche nationalen Angebote eine vielschichtige Resonanz, die oft widersprüchlich war, aber erkennen ließ, dass der von der SED propagierte staatstragende Patriotismus angesichts der tatsächlichen Politik offenbar nur sehr begrenzt als ein integrativer Faktor wirkte.
VI. Die Ambivalenz von Nationalismus und Patriotismus bei der Legitimierung des eigenstaatlichen Weges
Es zeigte sich, dass die DDR zum einen keine anderen Wurzeln und Traditionen und keine andere nationale Identität besaß als die Bundesrepublik und zum anderen die Bevölkerung der DDR die staatspatriotische Phraseologie und nationale Symbolik der SED nur partiell verinnerlichte. Die meisten ostdeutschen Bürger ließen die SED erkennen, dass sie nach wie vor nationale Wertvorstellungen und patriotische Einstellungen besaßen, aber gleichzeitig auch, dass diese ein gesamtdeutsches Vorzeichen trugen und nicht zu dem Umstand im Widerspruch stünden, dass man in der DDR lebe und arbeite. Die wesentliche Ursache für diese Haltung war die Ablehnung des gesellschaftlichen und politischen Systems der DDR und die damit verbundene alltägliche Orientierung am anderen deutschen Staat.
Im gesamten Betrachtungszeitraum hielt die überwiegende Mehrheit der DDR-Bürger am Ziel der deutschen Wiedervereinigung fest. Zum einen erachteten sie die staatliche Einheit als hohen ethischen und politischen Wert, zum anderen hoffte man, durch sie die Diktatur der SED loszuwerden und sich neue politische und gesellschaftliche Perspektiven eröffnen zu können. Gerade nach 1955 trat zutage, dass sich die zu jeder Zeit risikoreiche nationale Propaganda gegen die systemstabilisierenden Absichten der SED kehrte und Instabilität erzeugte. Vor allem konnten sich die ostdeutschen Einheitsbefürworter absichtsvoll darauf berufen, dass sie nichts anderes wollten, als die SED in demagogisch-strategischer Absicht verkündete. Sie nahmen die Partei in der nationalen Frage beim Wort. Als die SED versuchte, die Einheitsrhetorik zügig durch die separatstaatliche Zielsetzung abzulösen, zeigten sich überdies die Parteibasis und die Apparate mit dieser Kehrtwende überfordert, was zusätzlich Elemente von Verunsicherung und Destabilisierung in die Entwicklung der DDR trug. Im Ganzen war der Bevölkerung die von den Parteiideologen propagierte Auffassung nur schwer zu vermitteln, dass Internationalismus und sozialistischer Patriotismus nicht nur vereinbar, sondern zwei Seiten einer Medaille seien. Am deutlichsten wurde diese Schwierigkeit in der Frage der ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen.
Die Bevölkerung in der DDR lehnte die Sowjetisierung des Landes, die Übertragung und Übernahme des sowjetischen Gesellschafts- und Politikmodells ab. Sie bediente sich dabei häufig einer patriotisch geprägten Argumentation, die sich allerdings nicht - wie von der SED gewünscht - gegen die amerikanische, sondern gegen die sowjetische Seite richtete. Ein oft zugespitzter Nationalismus widerspiegelte nicht nur die schlechten Erfahrungen vieler Ostdeutscher mit ihrer Besatzungsmacht, sondern auch tradierte Ressentiments gegen die Russen, die den meisten in der DDR fremd blieben
VII. Schlussbemerkungen
In der Zeit von der Staatsgründung bis zum Mauerbau verfolgte der von der SED zum Teil übernommene, zum Teil erzeugte Nationalismus sowohl eine gesamtdeutsche als auch eine die Stabilisierung der DDR beabsichtigende Zielsetzung. Im Verlaufe der fünfziger Jahre - deutlich ab deren Mitte - trat die gesamtdeutsche zugunsten der eigenstaatlichen Aufgabe immer mehr zurück. Dennoch blieb die "nationale" Orientierung bestehen, den westlichen, vor allem amerikanischen Einfluss zurückzudrängen. Gleichzeitig erhielt der Antiamerikanismus zwei wichtige innenpolitische Funktionen: Zum einen sollte er von den Sowjetisierungsprozessen in der DDR ablenken. Zum anderen versuchte die ostdeutsche Führung damit, einer "Verwestlichung" der DDR "von unten" gegenzusteuern, die durch verschiedenartige Kontakte, den westlichen Rundfunk, durch verbotene Presseerzeugnisse, Literatur u. a. den Alltag der Ostdeutschen mitzubestimmen begann und sich für die SED zum Problem auswuchs. So blieb der antiwestliche Nationalismus der SED insgesamt ein Versuch, den Einfluss der Bundesrepublik auf die DDR durch eigene "nationale" und "patriotische" Angebote abzuschwächen.
Gleichzeitig stand der Nationalismus in den frühen Jahren der DDR auch im Zusammenhang mit der erfolgreichen Westintegration der Bundesrepublik und mit den eigenen Problemen bei der Ostintegration. Zwar versuchte die internationalistische Propaganda zunehmend, deren Vorzüge für die DDR in den Vordergrund zu stellen, doch entwickelte das östliche Bündnissystem keine den westlichen supranationalen Strukturen auch nur annähernd vergleichbare ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Attraktivität. Daher konnte auch keine Identitätsveränderung der DDR-Bevölkerung im Sinne der Wahrnehmung einer osteuropäischen Interessen- und Wertegemeinschaft bewirkt werden. In diesem Kontext war der Nationalismus der SED sowohl eine Reaktion auf die europäisch-integrative Herausforderung des Westens als auch der Versuch, ausbleibende übernationale integrative Effekte und damit verbundene Bewusstseinswandlungen zu kompensieren, die eben auch Möglichkeiten innerer Systemstabilisierung waren.
Tatsächlich erzielte der Nationalismus der SED jedoch gegenteilige Ergebnisse: Anstatt die mit der Ostintegration verbundene Sowjetisierung der DDR zu verschleiern, trug er aus den genannten Gründen zu deren Behinderung bei. In Hinsicht auf den deutschen Spaltungsprozess stellte der vielschichtige Nationalismus in den frühen Jahren der DDR zwar ebenfalls einen retardierenden Faktor dar, der den Kurs der Abgrenzung der SED gegenüber der Bundesrepublik und die Entwicklung eines DDR-Staatsbewusstseins zugunsten einer traditionellen gesamtdeutschen Identität abbremste und mit zu dem verbreiteten Urteil führte, dass die DDR "deutscher" sei als die Bundesrepublik. Doch trugen seine Langzeitwirkungen nach der Wende 1989/90 auch zu den Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern bei, nationale Denkschemata aufzubrechen und eine europäische Identität zu entwickeln.