Einleitung
Vom 13. bis 15. Juni 2000 besuchte Kim Dae-jung als erster Präsident der Republik (Süd-)Korea die Demokratische Volksrepublik (Nord-)Korea (DVRK). Am 15. Juni unterzeichneten Kim und sein nordkoreanischer Partner Kim Chung-il ein Abkommen, in dem sich beide Seiten verpflichteten, in der Frage der Wiedervereinigung an neuere Vorschläge anzuknüpfen (DVRK: lockere Föderation, Südkorea: Konföderation) und Dritte nicht an diesem Prozess zu beteiligen, Gefangene auszutauschen, Familien zusammenzuführen und ihre sonstige Zusammenarbeit zu intensivieren. Kim Chung-il kündigte einen Gegenbesuch "zu gegebener Zeit" an.
Das Gipfeltreffen war der bisherige Höhepunkt von Kim Dae-jungs 1998 proklamierter "Sonnenscheindiplomatie" gegenüber Nordkorea und löste weltweit fast euphorische Erwartungen hinsichtlich einer Einbindbarkeit der DVRK aus. Noch 1998 hätte kaum jemand mit einer solchen Entwicklung gerechnet: Die innerkoreanischen Beziehungen waren durch anhaltenden kalten Krieg auf der koreanischen Halbinsel schwer belastet, das Regime in Pyöngyang versuchte, Südkorea, die USA und Japan durch Ausspielen des eigenen Chaospotentials zu wirtschaftlichen und diplomatischen Zugeständnissen zu erpressen, und der marode Zustand der nordkoreanischen Volkswirtschaft hatte wiederholt Spekulationen über einen Kollaps der DVRK und daraus resultierende dramatische Verschiebungen in der regionalen Kräftebalance inspiriert. Im Folgenden soll die Entwicklung von der Konfrontation zur Entspannung nachgezeichnet und bewertet werden.
I. Nordpolitik, 1988-1992
Der Gipfel vom Juni 2000 war nicht der erste anscheinende Durchbruch der südkoreanischen "Nordpolitik" nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Im Dezember 1991 hatten beide Seiten einen Nichtangriffs- und Versöhnungspakt und eine Erklärung über die Entnuklearisierung der nordkoreanischen Halbinsel unterzeichnet, deren Implementierung jedoch über die anschließende Kontroverse um Pyöngyangs Atomrüstung verschleppt worden war. Dass sich die DVRK unter ihrem damaligen Präsidenten Kim Il-sung, dem Vater Chung-ils, überhaupt zu solchen Abmachungen bereit fand, hatte viel mit ihrer zunehmend desolaten Wirtschaftslage zu tun.
Nach eindrucksvollen Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts (BSP) von 16 bis 17 Prozent in den sechziger Jahren und immerhin noch etwa 10 Prozent in den siebziger Jahren hatte das nordkoreanische Pro-Kopf-Einkommen seit etwa 1985 stagniert und war seither rückläufig gewesen (es liegt heute bei ca. 700 US-Dollar). Schon in den siebziger Jahren war Pyöngyang nicht mehr in der Lage, westliche Kredite zurückzuzahlen. Was blieb, war ein institutionalisierter Tauschhandel mit dem sozialistischen Lager, an dem die Tauschpartner angesichts ihrer eigenen wirtschaftlichen Öffnung immer weniger Interesse zeigten.
In Südkorea betrug das jährliche Wachstum des BSP im Durchschnitt der siebziger und achtziger Jahre regelmäßig mehr als 10 Prozent. Das Prokopf-Einkommen stieg von 83 US-Dollar 1961 auf 2 826 US-Dollar 1987. Die Entwicklung der verarbeitenden Industrie und eine exportorientierte Entwicklungsstrategie hatten aus der Republik Korea eine Newly Industrialised Economy gemacht. Dieser ökonomische Erfolg und der Beginn der Ost-West-Entspannung unter Michail Gorbatschow ermöglichten ab 1987 einen schrittweisen Prozess der "Demokratisierung von oben", der im Februar 1981 in der Person des pensionierten Generals Roh Tae-woo den ersten frei gewählten Präsidenten seit 1961 an die Macht brachte. Roh leitete Südkoreas "Nordpolitik" noch vor dem Untergang der Sowjetunion ein, konnte aber erste Ergebnisse nicht vor der offiziellen Beilegung des sino-sowjetischen Konflikts 1989 vorlegen. Dieser hatte es Pyöngyang in den Jahren zuvor ermöglicht, Peking und Moskau zur Maximierung des eigenen Nutzens gegeneinander auszuspielen und beide von größerer Flexibilität in der Koreafrage abzuhalten. Im selben Jahr fiel die Berliner Mauer. Seither war Wiedervereinigung in Nord und Süd nicht viel mehr als eine rhetorische Konzession an Erwartungen der jeweiligen Basis. Die DVRK wollte ihre Einparteiendiktatur in die neue Zeit hinüberretten, Seoul scheute vor den zu erwartenden Kosten der Einheit zurück. Der beginnende Entspannungsprozess nahm allerdings schnell eine Eigendynamik an, die zumindest im Norden zunehmend als Bedrohung empfunden wurde.
Im Januar 1992 unterzeichnete Pyöngyang ein Inspektionsabkommen mit der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), ein Schritt, der mit Beitritt der DVRK zum Atomwaffensperrvertrag 1985 zwingend notwendig geworden war. Aber schon wenig später begann eine nordkoreanische Verzögerungspolitik, die am 12. März 1993 in der Kündigung des Atomwaffensperrvertrages gipfelte und den innerkoreanischen Dialog vorläufig beendete. Die "Nordpolitik" war gescheitert, und eine neue Administration unter Präsident Kim Young-sam (1993-1998) erhöhte fortan wieder den Druck auf die DVRK.
II. Das Gleichgewicht der Kräfte und das Waffenstillstandsregime
Auf der koreanischen Halbinsel stehen sich südlich und nördlich der Entmilitarisierten Zone (Demilitarised Zone, DMZ) am 38. Breitengrad 670 000 südkoreanische Soldaten sowie 36 000 amerikanische GIs und 1,1 Millionen nordkoreanische Soldaten gegenüber. Letztere verfügen über ein gewaltiges, aber weitgehend veraltetes Waffenarsenal, das hinter dem technologischen Stand der südkoreanischen Streitkräfte zurückbleibt. Pyöngyangs einzige Chance läge in einem Überraschungsangriff auf städtische Ziele im Süden, insbesondere das nur 40 Kilometer von der DMZ entfernte Seoul. Nordkorea könnte dabei versuchen, seinen Mangel an konventioneller Schlagkraft durch den Einsatz von Massenvernichtungswaffen auszugleichen. Die DVRK wäre vermutlich in der Lage, bis zu fünf nukleare Sprengköpfe und bis zu 250 Tonnen Munition für chemische Waffen zum Einsatz zu bringen. Die Existenz biologischer Waffen wird vermutet.
Aufrechterhaltung und Einsatzbereitschaft der Armee zehren allerdings an Nordkoreas ohnehin schwindender Wirtschaftskraft. Pyöngyang ist mit mehr als sechs Milliarden US-Dollar im Ausland verschuldet. Das Pro-Kopf-Einkommen ging zwischen 1991 und 1999 um mehr als 50 Prozent zurück. Die Landwirtschaft konnte den Mindestbedarf aufgrund von Misswirtschaft und Flutkatastrophen seit 1995 nicht mehr decken, und trotz einsetzender internationaler Hilfen fehlten 1997 immer noch drei Millionen Tonnen Getreide. Die verarbeitende Industrie produzierte mangels Energie nur noch zu einem Viertel ihrer Kapazität. Von den jährlich benötigten 2 Millionen Tonnen Rohöl kamen bis Ende 1992 noch 1,2 Millionen Tonnen aus China und 800 000 Tonnen aus Staaten des Mittleren Ostens im Tausch gegen Produkte der nordkoreanischen Rüstungsindustrie. Im Februar 1992 verlangte China Bezahlung in Devisen und schränkte seine Lieferungen deutlich ein, als diese nicht erfolgte. Moskau hatte seine militärischen und zivilen Hilfsleistungen bereits seit 1989 abgebaut und verlangte seinerseits eine Abwicklung des bilateralen Handels auf Devisenbasis. Die DVRK sah sich nunmehr gezwungen, eine bestimmte Menge des importierten Öls weiterzuverkaufen, wodurch sich ihre Energiekrise zusätzlich verschärfte. Militärausgaben verzehrten weiterhin ein Viertel aller verfügbaren Mittel.
Kim Il-sung starb unerwartet im Juli 1994, kurz nachdem er seine Bereitschaft zu einem innerkoreanischen Gipfeltreffen signalisiert hatte. Sein Sohn übernahm die Führung, wenngleich nicht als Staatspräsident (das Amt blieb vakant) und zunächst auch nicht als Vorsitzender der Koreanischen Arbeiterpartei (KAP).
Kim Il-sung hatte kurz vor seinem Tode versucht, den Status quo auf der koreanischen Halbinsel durch Wiederbelebung des Kalten Krieges zu stabilisieren, und sein Sohn schien diese Strategie zunächst beibehalten zu wollen. Im April 1994 hatte Pyöngyang nach dreijährigem Boykott seinen Austritt aus der Militärischen Waffenstillstandskommission erklärt. Anfang 1995 beging Pyöngyang wiederholt Übergriffe im Bereich der DMZ. Noch im April 1999 kam es vor der Westküste der koreanischen Halbinsel zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den Seestreitkräften beider Seiten. Wenig später proklamierte die DVRK eine Seegrenze, die deutlich weiter südlich verlief als die 1953 von den USA und ihren Verbündeten festgelegte Linie.
Die weitaus schwerwiegendste Provokation in dieser Serie war 1993 der Austritt Nordkoreas aus dem Atomwaffensperrvertrag.
III. Nukleares Roulette
Amerikanische Nachrichtendienste hatten bereits 1984 vom Bau eines atomaren Forschungsreaktors in Yongbyun, 80 Kilometer nördlich von Pyöngyang, berichtet und daraufhin die sowjetische Regierung in Kenntnis gesetzt. Unter sowjetischem Druck war Nordkorea im folgenden Jahr dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten, hatte aber den Abschluss eines Inspektionsabkommens mit der IAEO verschleppt. Dieser erfolgte erst 1992, nachdem die USA ihre in Südkorea stationierten taktischen Atomwaffen abgezogen und ihre Stützpunkte grundsätzlich für nordkoreanische Inspekteure geöffnet hatten.
Schon die ersten Ad-hoc-Inspektionen der IAEO in Nordkorea erbrachten 1992/93 Anhaltspunkte dafür, dass die DVRK in den Jahren zuvor mehr Plutonium gewonnen hatte, als in ihrer Ausgangsbilanz ausgewiesen war; nach Berechnungen amerikanischer Geheimdienste hätten damit zwei Atombomben gebaut werden können
Die USA boten daraufhin bilaterale Verhandlungen an, worauf die DVRK ihren Austritt kurz vor Ablauf der dreimonatigen Kündigungsfrist "vorläufig" zurücknahm. Am 19. Juli begannen trotz anhaltender Spannungen
Erstens: Die USA organisieren ein internationales Konsortium, das bis ca. 2003 zwei Leichtwasserreaktoren mit einer Gesamtkapazität von 2000 Megawatt an Nordkorea liefert und betriebsfertig aufbaut (in Leichtwasserreaktoren fällt deutlich weniger waffenfähiges Plutonium an als in dem graphitmoderierten Reaktor in Yongbyun). Die DVRK "friert" ihr Plutoniumprogramm bis ca. 2000 "ein" und gestattet IAEO-Inspektoren zwischenzeitlich den Zugang zu den betreffenden Anlagen. 8 000 abgebrannte Brennstäbe werden außer Landes verbracht.
Zweitens: Zwischen 2000 und 2003 lässt Pyöngyang die vollständige Inspektion
Drittens: Washington und Pyöngyang bauen existierende Hemmnisse für Handel und Investitionen ab und eröffnen Verbindungsbüros. Die Büros werden in dem Maße zu vollen diplomatischen Vertretungen ausgebaut, in dem es zu Fortschritten bei der Verständigung über "Themen von beidseitigem Interesse" kommt.
Viertens: Die USA geben eine förmliche Erklärung ab, der zufolge sie keine Atomwaffen gegen Nordkorea zum Einsatz bringen und die DVRK nicht mit solchen bedrohen. Pyöngyang implementiert die Gemeinsame Erklärung mit Südkorea vom Dezember 1991 über die Entnuklearisierung der koreanischen Halbinsel und nimmt den Nord-Süd-Dialog wieder auf.
Fünftens: Nordkorea verbleibt im Atomwaffensperrvertrag
In einem vertraulichen Zusatzprotokoll wurden die verdächtigen Standorte aufgelistet, die im Verlauf der Implementierung inspiziert werden sollten. Der Bau entsprechender Anlagen an anderen Standorten wurde untersagt. Es gab allerdings keine Vorkehrungen für eine Inspektion möglicherweise abkommenswidrig errichteter Anlagen
Kritik an diesem Programm war bereits zum Zeitpunkt der Unterzeichnung laut geworden. Theoretisch konnten auch mit zwei Leichtwasserreaktoren jährlich bis zu 70 Atombomben gebaut werden; angesichts der langen Fristen würde die IAEO kaum noch in der Lage sein, die Geschichte des nordkoreanischen Plutoniumprogramms zu rekonstruieren; bis zur Anwendung von "full scope safeguards"
Das Genfer Abkommen war Ergebnis des Versuchs der Clinton-Administration, den unterstellten bevorstehenden Zusammenbruch Nordkoreas hinauszuzögern und einen daraus möglicherweise resultierenden zweiten Koreakrieg ("hard landing") zu verhindern. 1996 korrigierten die amerikanischen Nachrichtendienste ihre Lagebeurteilung. Das Regime Kim Chung-il hatte nicht nur politisch überlebt, sondern seine Position anscheinend nach innen und außen konsolidiert. Seit 1995 periodisch auftretende Überschwemmungskatastrophen und Hungersnöte waren nicht auf Kosten der Regimestabilität gegangen und hatten stattdessen weltweite Hilfsanstrengungen ausgelöst. Washington lieferte 500 000 Tonnen Getreide, und Pyöngyang erklärte sich zur Teilnahme an so genannten Vierergesprächen mit den USA, Südkorea und China bereit, die bis heute ergebnislos geblieben sind. Was in den USA als Verlegenheitslösung begonnen hatte, wurde nunmehr als Strategie verkauft: Mit der Einbindung der DVRK in unterschiedliche Dialoge sollte Zeit für eine langsame wirtschaftliche Öffnung gewonnen werden, die wiederum die Voraussetzungen für eine spätere friedliche Wiedervereinigung der Halbinsel schaffen sollte ("soft landing").
IV. Erpressung
Problematisch war vor allem, dass Nordkorea die Agenda ständig erweiterte und sich mit möglicherweise neuen nuklearen Aktivitäten, dem Test einer Langstreckenrakete und wiederholten Provokationen innerhalb und jenseits der DMZ neue Unterpfänder für die Verhandlungen mit Washington beschaffte. Hinzu kamen als Dauerthemen die militärische Präsenz der USA in Südkorea, die in Pyöngyang weiterhin als Haupthindernis für eine Normalisierung der Beziehungen dargestellt wurde, und die Mobilisierung der internationalen öffentlichen Meinung durch Publikation einzelner, aber dramatischer Daten über die nordkoreanische Hungerkatastrophe. Wann immer die USA Fortschritte auf einem Feld einklagten, erhöhte Nordkorea auf einem anderen den Druck und damit den Preis für Vertragstreue.
Unter anderem deshalb kam es bei der Umsetzung des Rahmenabkommens zu Verzögerungen. Der im September 1997 begonnene Bau der Leichtwasserreaktoren liegt aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zwischen dem mit der Durchführung betrauen Konsortium (Korean Peninsula Energy Development Organisation, KEDO
Die Projektkosten werden auf 4,6 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Davon sollten Südkorea ca. 70 Prozent und Japan 20 bis 25 Prozent übernehmen. Die Clinton-Administration hatte gehofft, die fehlenden 200 Millionen US-Dollar aufbringen zu können, war aber auf Widerstand im Kongress gestoßen. Die Europäische Union (EU) stellte 1997 86 Millionen US-Dollar zur Verfügung, verteilt auf fünf Jahre.
Von Anfang an herrschten zwischen Japan, Südkorea und den USA Unstimmigkeiten über die Aufteilung der Kosten für die Schweröllieferungen (60 bis 65 Millionen US-Dollar im Jahr). Tokio und Seoul sahen sich mit ihren Beiträgen zum Reaktorprojekt hinreichend belastet. Washington blieb nichts übrig, als selbst in die Bresche zu springen, woraufhin wiederum der Kongress Bedenken geltend machte.
Angesichts der eingetretenen Verzögerungen setzte Pyöngyang 1998 das "canning" (Umhüllen mit Metallzylindern) der abgebrannten Brennstäbe aus und beschuldigte die USA des Vertragsbruchs. Als Drohung wurden an einer Plutonium-Trennungsanlage Wartungsarbeiten durchgeführt.
Kurz zuvor hatten amerikanische Medien Geheimdienstberichte kolportiert, denen zufolge die DVRK in Kumchangri, 30 Kilometer nordöstlich von Yongbyun, einen unterirdischen Reaktor oder eine Wiederaufbereitungsanlage baute. Angeblich waren auf der Baustelle 15 000 Arbeiter beschäftigt. Als Washington unter Verweis auf "Buchstaben und Geist" des Genfer Abkommens Zugang verlangte, forderte Pyöngyang für den Fall, dass sich der Verdacht als unbegründet erweisen sollte, eine "Kompensationszahlung" in Höhe von 300 Millionen US-Dollar. Die Politik der Einbindung wurde zusätzlich auf die Probe gestellt, als Nordkorea am 1. September 1998 eine dreistufige Rakete über japanisches Territorium hinweg abschoss.
Dennoch wollte keine Seite die Verantwortung für ein Scheitern übernehmen. Die USA verpflichteten sich, die fehlenden 280 000 Tonnen Heizöl bis Jahresende zu liefern. Präsident Clinton stellte zu diesem Zweck aus einem Sonderfonds für nationale Sicherheit 15 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Nordkorea nahm das "canning" der Brennstäbe wieder auf. Weitere Gespräche zu den Komplexen nordkoreanisches Raketenprogramm und amerikanische Wirtschaftssanktionen wurden vereinbart.
V. Konditionierung
In Reaktion auf die Geheimdienstberichte und den Raketentest versah der US-Senat das Gesetz über Auslandshilfen für 1999 mit einem Vorbehalt. Das Repräsentantenhaus ging noch weiter und strich sämtliche Mittel für KEDO aus dem Gesetz. 35 Millionen US-Dollar wurden in den regulären Haushalt übernommen. Der Präsident sollte allerdings vor Auszahlung zunächst eine Unbedenklichkeitserklärung abgeben, der zufolge Nordkorea sein Nuklearprogramm vertragsgemäß "einfriert", mit dem Süden Gespräche über eine Entnuklearisierung der Halbinsel aufgenommen und damit begonnen hat, amerikanische Forderungen hinsichtlich der unterirdischen Anlage, des Raketenprogramms und von Raketenexporten
Präsident Clinton beauftragte nunmehr seinen ehemaligen Verteidigungsminister William Perry wegen dessen guter Kontakte zur republikanischen Kongressmehrheit mit einer Überprüfung der bisherigen Politik. Im März 1999 vereinbarten Amerikaner und Nordkoreaner "Zusammenarbeit mit dem Ziel einer Ausräumung amerikanischer Bedenken" gegen die unterirdische Anlage durch einen Besuch (in amerikanischer Terminologie: eine Inspektion) im Mai 2000. Washington verpflichtete sich selbst, "einen Schritt zur Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen" zu machen
Die amerikanische Gegenleistung bestand in der Zusage einer Fortsetzung der Lebensmittelhilfen (die Rede war von insgesamt 600 000 Tonnen Getreide)
Die Inspektion der unterirdischen Anlage im Mai 1999 und eine Anschlussinspektion im folgenden Jahr erbrachten erwartungsgemäß keine Anhaltspunkte für Verstöße gegen das Rahmenabkommen. Damit war allerdings weder auszuschließen, dass Nordkorea eventuell vorhandene Nukleartechnologie zuvor an einen anderen Ort verbracht hatte, noch dass die unterirdische Anlage eine Attrappe war, noch dass die DVRK künftig gegen das Rahmenabkommen verstoßen würde. So berichtete Anfang 1999 das amerikanische Energieministerium von nordkoreanischen Bemühungen, in Pakistan Technologien zur Anreicherung von Uran zu erwerben
Am 12. Oktober 1999 legte Perry seinen Bericht vor, der die Empfehlung enthielt, Nordkorea im Rahmen eines Gesamtpakets für jeden positiven Schritt beim Abbau seines Atomwaffen- und Raketenprogramms zu belohnen und für Rückschritte zu bestrafen. Dabei sollten Sanktionen nur im Falle eindeutiger Verstöße gegen das Genfer Rahmenabkommen verhängt werden
Vorausgegangen waren amerikanisch-nordkoreanische Verhandlungen über das Raketenprogramm der DVRK in Berlin, wo die DVRK in der Botschaft der Volksrepublik China über eine Interessenvertretung verfügt. Beide Seiten hatten seit 1998 viermal Gespräche zu diesem Thema geführt, in deren Verlauf Nordkorea für die Einschränkung von Raketentests und -exporten "Kompensationszahlungen" in einem Gesamtwert von 1,5 Milliarden US-Dollar verlangt hatte. Nunmehr boten die USA an, im Gegenzug zu einem - wenigstens vorübergehenden - Testverzicht das Embargo auf den Handel mit "nichtsensitiven" Gütern, den Transport solcher Güter, bestimmte Investitionen und bestimmte finanzielle Transaktionen zu lockern - gemeint waren Überweisungen von Exilkoreanern in den USA
Am 10. September 1999 kamen die Verhandlungspartner überein, dass Pyöngyang während der laufenden Verhandlungen über eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen vom Test ballistischer Langstreckenraketen Abstand nehmen würde. Im Gegenzug hob Clinton die erwähnten Restriktionen im Nordkoreageschäft auf. Aus amerikanischer Sicht bestand das große Defizit der Vereinbarung darin, dass sie mündlich und formlos erfolgt war. Um ihre künftige Einhaltung sicherzustellen, bedurfte es einer Einbringung in Perrys Paketlösung, an der sich die nordkoreanische Seite wenig interessiert zeigte
Angesichts der eingetretenen Verzögerungen ist an eine termingerechte Übergabe der beiden Leichtwasserreaktoren nicht mehr zu denken. Vermutlich wird sich diese um mindestens sieben Jahre verschieben, was es Pyöngyang erlaubt, die USA auch künftig des Vertragsbruchs zu beschuldigen und eine Wiederaufnahme der IAEO-Inspektionen auf eine ferne Zukunft zu vertagen.
VI. Das Einmannregime
Nordkorea überlebt seit den neunziger Jahren nur dank der Zuwendungen der Staatengemeinschaft. Nach Angaben der südkoreanischen Regierung hat die DVRK zwischen 1995 und 1998 internationale Hilfen in einem Gesamtwert von einer Milliarde US-Dollar erhalten, davon 316 Millionen US-Dollar aus der Republik Korea. Im selben Zeitraum könnten dessen ungeachtet 2,4 Millionen Nordkoreaner - ca. 20 Prozent der Bevölkerung - an Unterernährung gestorben sein.
Während diese Staatsbürger in Pyöngyang bisher allenfalls als "Hungergeiseln" mit Blick auf das Ausland interessieren, die angesichts der alltäglichen Repression zu organisiertem Widerstand nicht in der Lage sind
Seit dem Tod Kim Il-sungs hat sich der Einfluss des Militärs auf Kosten der zivilen Führung und der KAP verstärkt
Das System wurde mittlerweile auch auf der zivilen und konstitutionellen Ebene formal unterfüttert. 1997 ließ sich Kim zum Generalsekretär der KAP wählen; 1998 veranlasste er eine Verfassungsänderung, derzufolge sein verstorbener Vater in den Rang des "ewigen" Staatsoberhauptes erhoben wurde. Die NVK wurde zum höchsten Staatsorgan proklamiert.
Kim Chung-il hat folglich die Streitkräfte zur wichtigsten Grundlage seiner Macht aufgebaut, sich damit aber auch tendenziell in deren Abhängigkeit begeben. Aus dem Einmannregime könnte ein Prätorianerregime werden, wenn die Generäle ihre Interessen durch Kims Politik beeinträchtigt sehen. Aufrechterhaltung der Privilegien führender Offiziere bedeutet die direkte oder indirekte Alimentierung dieser Personengruppe, aber auch der Streitkräfte insgesamt, durch die verfügbaren Geldquellen (im Wesentlichen Raketenexporte und internationale Hilfen). Damit steht automatisch weniger Geld für zivilwirtschaftliche Investitionen zur Verfügung. Solche Investitionen werden aber auch deshalb nicht präferiert, weil der darin implizierte Übergang zu einem offeneren Technokratenregime die Privilegien des Militärs und damit Kim Chung-ils derzeitige Machtbasis bedrohen würde. Folglich sind auch die Ergebnisse des Gipfels vom Juni 2000 zurückhaltend zu bewerten.
VII. Gipfeltaumel
Der provisorische amerikanisch-nordkoreanisch Raketenkompromiss vom September 1999 und der Gipfel vom Juni 2000 haben weltweit eine Art Nordkorea-Euphorie ausgelöst. Italien, Australien und die Philippinen nahmen diplomatische Beziehungen auf. Kanada verhandelte über die Aufnahme von Beziehungen, und Japan erklärte sich zu neuen Normalisierungsgesprächen bereit. Die EU prüfte eine Intensivierung der Beziehungen. Das (sicherheitspolitische) ASEAN Regional Forum (ARF) begrüßte die DVRK als neues Mitglied. Die Weltbank bot Finanzhilfen an.
Dieser Wettlauf nach Pyöngyang scheint weder durch die Raketenvereinbarung vom September 1999 noch durch die Ergebnisse des Gipfels vom Juni 2000 gerechtfertigt. Auf dem Gipfel war es neben den eingangs erwähnten Beschlüssen nur zu einem folgenlosen sicherheitspolitischen Austausch und ergebnislosen Gesprächen über die Wiederbelebung der Abkommen von 1991 gekommen; aus Südkorea war zu hören, man plane die Einrichtung eines "heißen Drahtes" und zweier Bahnverbindungen durch die DMZ sowie die Einrichtung von Verbindungsbüros
Nordkoreas Hauptmotiv für die Akzeptanz des Gipfels war seine unverändert prekäre wirtschaftliche Lage. Die Wirtschaft der DVRK verzeichnete zwar 1999 erstmals nach acht Jahren wieder 6,2 Prozent Wachstum, lag damit aber weiterhin um 25 Prozent unter dem Niveau von 1989. Das BSP für das Jahr 1999 wird auf 15,8 Milliarden US-Dollar geschätzt, das Pro-Kopf-Einkommen auf 714 Dollar und das Handelsvolumen auf 1,48 Milliarden Dollar
Dass Kim Chung-il sich auf den Gipfel einließ, ist ein Anzeichen dafür, dass er seine innenpolitische Position gefestigt hat, selbstbewusster agiert, größeres Vertrauen in Kim Dae-jungs "Sonnenscheindiplomatie" gewonnen hat (die er in den Jahren zuvor als Versuch der Unterwanderung abgeblockt hatte) und den Wunsch hat, sein internationales Image als isolierter und gefährlicher Diktator zu verbessern. Kim hat sich, soweit bekannt ist, im Mai 2000 erstmals seit 17 Jahren außer Landes begeben, die Volksrepublik China besucht und deren Führung zu ihrem erfolgreichen Experiment mit einem "Sozialismus chinesischer Prägung" gratuliert
Damit hat sich an den beschriebenen Machtverhältnissen in Nordkorea grundsätzlich nichts geändert, und es darf angezweifelt werden, ob jüngste Entwicklungen für eine wirtschaftliche Öffnung "à la chinoise" sprechen. Kim Dae-jung war von den Vorständen der vier größten Mischkonzerne des Südens zum Gipfeltreffen begleitet worden, die der DVRK für die nächsten fünf bis zehn Jahre Investitionen von je bis zu einer Milliarde US-Dollar zusagten. Das wären nach bisher gemachten Erfahrungen Verlustgeschäfte, und es ist zweifelhaft, ob Nordkorea mangels Rechtssicherheit und Infrastruktur derartige Kapitalzuflüsse absorbieren kann und will. Wahrscheinlicher bleibt eine südkoreanische Beteiligung an Infrastrukturmaßnahmen, mit der Pyöngyang tendenziell unabhängiger von anderen Gebern wird. Kurz: Nach dem Gipfel wiederholte der nordkoreanische Rundfunk eine Rede Kim Chung-ils aus dem Vorjahr, in der er dazu aufgerufen hatte, eine "autarke und starke Nation zu schaffen und uns nicht auf wirtschaftliche Reformen und eine Marktöffnung einzulassen, was mit Gewissheit zu unserem Untergang führen würde"
Unter den wichtigsten Nachbarn Nordkoreas führte unterschiedliche Betroffenheit zu durchaus voneinander abweichenden Reaktionen. Japan, das erwiesenermaßen innerhalb der Reichweite der nordkoreanischen Raketenwaffe liegt, entwickelte seit 1998 gemeinsam mit den USA ein Raketenabwehrsystem für den Kriegsschauplatz (Theatre Missile Defence, TMD) und äußerte sich auch nach dem amerikanisch-nordkoreanischen Raketenkompromiss skeptisch über dessen Haltbarkeit. Dennoch konnte sich auch Tokyo dem allgemeinen Trend zur Entspannung nicht entziehen. Japan und Nordkorea nahmen im April 2000 Regierungsverhandlungen über eine Normalisierung ihrer Beziehungen auf, die wenig später wieder abgebrochen wurden, weil die nordkoreanische Seite unfähig oder unwillens war, den Verbleib von zehn japanischen Staatsbürgern aufzuklären, die in den siebziger und achtziger Jahren vermutlich in die DVRK entführt worden waren. Gleichzeitig hatte Pyöngyang Reparationen gefordert, die Japan nicht zahlen wollte (eine zweite Runde geriet im August über dieselben Themen in die Sackgasse). Nordkorea liegt aus wirtschaftlichen Gründen an regulären Beziehungen, es kann sich aber nach der erfolgten Verbesserung des Nord-Süd-Verhältnisses in dieser Hinsicht Zeit lassen.
Für die USA bleibt Nordkorea in erster Linie ein Proliferationsproblem, was gewisse Divergenzen zwischen den amerikanischen und südkoreanischen Nordkoreapolitiken erklärt. "Sonnenscheindiplomatie" berührt allerdings mit dem subregionalen Kräftegleichgewicht das nächstwichtige amerikanische Interesse in Korea. In den USA besteht die Sorge, Forderungen nach dem Abzug amerikanischer Truppen aus Südkorea und nach einem Verzicht auf den (angeblich durch Pyöngyangs Rüstung motivierten) Aufbau von Systemen zur regionalen und nationalen Raketenabwehr könnten lauter werden, ohne dass es in dieser Hinsicht vor Ort zu Fortschritt gekommen wäre.
Die Nordkoreapolitik der Volksrepublik China bleibt zwiespältig. Peking möchte sowohl einen atomaren Rüstungswettlauf in Nordostasien als auch einen neuen Koreakrieg und die kurzfristige Wiedervereinigung der koreanischen Halbinsel verhindern, hält die Wiedervereinigung jedoch letztlich für unvermeidbar
Russland versucht, sich aus Anlass des Gipfels wieder in die nordostasiatische Kräftegleichung einzubringen und China die dominierende Rolle in Nordkorea (und damit potentiell in der Gesamtregion) streitig zu machen. Präsident Wladimir Putin besuchte die DVRK im Juli 2000 als erstes Staatsoberhaupt aus Moskau und hat dabei wohl versucht, zusätzlich zwischen Nord und Süd zu vermitteln. Einziges konkretes Ergebnis war das nordkoreanische Angebot, das ballistische Raketenprogramm der DVRK im Tausch gegen westliche Raumfahrttechnologie auf Eis zu legen, eine Offerte, die Kim Chung-il einen Monat später persönlich als Scherz bezeichnete, womit er Putin öffentlich desavouierte. Momentan zeigt keine der beteiligten Parteien ein dringendes Interesse, Russland offiziell in den koreanischen Entspannungsprozess einzubinden.
In Südkorea erfuhr Präsident Kim Dae-jung und damit die junge Demokratie eine weitere Stärkung. Wenn Pyöngyang die erweckten Hoffnungen annähernd erfüllt, braucht die DVRK aus dieser Richtung nicht nur nicht mehr mit einer Bedrohung zu rechnen, sondern kann möglicherweise gesamtkoreanischen Nationalismus im eigenen Sinne manipulieren. Zwischenzeitlich ist Kim Dae-jung Realist genug, an der Beibehaltung der Allianz mit den USA und der Stationierung amerikanischer Truppen in Südkorea keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Auch die "Sonnenscheindiplomatie" dient grundsätzlich der Stabilisierung des Status quo. Da sie aber keine Garantien gegen eine weitere Verschlechterung der politischen und wirtschaftlichen Lage in Nordkorea bietet, kann sie auch eine "harte" oder "weiche", schnelle oder schleichende Wiedervereinigung der koreanischen Halbinsel in den nächsten Jahren nicht ausschließen, die dann in der Tat zu einschneidenden Veränderungen im regionalen Kräftegleichgewicht führen würde.
Internetquellen zum Thema:
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