I. Einleitung
Das Recht als Wirkungsinstrument von Hoheitsträgern spielt bei der Entwicklung der europäischen Politik eine Schlüsselrolle. Das Stichwort "Europa als Rechtsgemeinschaft" identifiziert das Recht als das primäre Form- und Gestaltungsprinzip der EU. Die europäischen Institutionen - und insbesondere der Europäische Gerichtshof (EuGH) - binden die politischen Akteure und Einheiten (einschließlich der Mitgliedstaaten) in ein kaum zu durchbrechendes Netz rechtlicher Verfasstheit ein. Das Gemeinschaftsrecht hat - als eigenständige Rechtsordnung - die Kraft, die Rechtsverhältnisse der Mitgliedstaaten und weite Bereiche der nationalen Rechtsordnungen umzugestalten. Der Kompetenzbereich und die Stellung der politischen Einheiten und nationalstaatlichen Institutionen werden tiefgreifend verändert, das Recht der Mitgliedstaaten ist zu einem großen Teil "importiert", und die Rechtssetzung auf nationaler Ebene wird inhaltlich maßgeblich durch europäisches Recht vorgeprägt und gestaltet. Ohne den Europäischen Gerichtshof, dessen Rechtsprechung eine verbindliche Rechtsquelle im europäischen Rechtssystem darstellt, wäre diese Entwicklung nicht möglich gewesen. Denn der Gerichtshof hat "das Gemeinschaftsrecht von der völkerrechtlichen Grundlage der Verträge gelöst und seine Prinzipien in Richtung auf eine Verfassung im Sinne einer weite Gebiete des öffentlichen Zusammenlebens steuernden vorrangigen Grundstruktur hin entwickelt"
Der EuGH wird vielfach als "Universalgerichtsbarkeit"
Im Folgenden sollen die Gründe für diese Qualifizierung systematisch erörtert und gleichzeitig ein Einblick in die Akteursqualität und Rechtsprechungspraxis des Gerichts und die Rolle des Rechts gegeben werden. Zu diesem Zweck werden zuerst die vertraglich normierten Zuständigkeiten und Funktionen des Gerichts sowie einige Spezifika der europäischen Verträge und schließlich das "richterliche Selbstverständnis" und die (durch die Selbstbeschreibung maßgeblich determinierte) Spruchtätigkeit, die einen weit tieferen Einblick in Qualität und Wirkung des Akteurs und des europäischen Rechts erlauben, dargestellt.
II. Die vertraglich normierten Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofes
Der EuGH ist seit 1958 institutionell und funktionell ein unabhängiges Gericht. Der Gerichtshof ist Teil des institutionellen Rahmens der Union, besitzt allerdings nur marginale Rechtsprechungskompetenz auf dem Gebiet des spezifischen Unionsrechts. Er ist eines der fünf Hauptorgane der Gemeinschaft, der "nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse" handelt
Im Vertragsverletzungsverfahren können die Kommission (als "Hüterin der Verträge") oder ein Mitgliedstaat (durch die nationalen Exekutivbehörden, Parlamente oder Gerichte) auf Feststellung eines Vertragsverstoßes durch einen anderen Mitgliedstaat klagen
Im "Vorabentscheidungsverfahren"
Der Rechtsprechungsauftrag aus Art. 220 EGV begründet zwar keine Einzelzuständigkeit im Sinne einer bestimmten Verfahrensart, er gewinnt indessen als Generalklausel bzw. umfassende Rechtsschutzklausel besondere Bedeutung: "Der Gerichtshof sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrags." Der praktische Effekt ist eine Rechtsprechungsbefugnis über alle Rechtsfragen, die auch nur im Entferntesten die europäische Rechtsordnung tangieren, und die Möglichkeit, auf der Grundlage eines "Rechtsverweigerungsverbotes" ein umfassendes Rechtsschutzsystem zu etablieren. Zudem ist "Rechtswahrung" eine äußerst vage und schwer zu spezifizierende Funktionsbeschreibung - im Zweifelsfall kann "Rechtswahrung" auch die Entscheidung von Grundsatzfragen nach der allgemeinen Orientierung oder dem Werte- und Prinzipiensystem, das in der Gemeinschaft gelten soll, beinhalten. Obwohl im europäischen Rechtssystem keine Individualrechtsbeschwerdemöglichkeit institutionalisiert ist, zeigt die Spruchpraxis, dass der EuGH auch die Wahrung der Grundrechte durch die europäischen Institutionen sowie durch die Mitgliedstaaten prüft, falls sie im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts tätig werden. Die Quelle individueller (Grund-)Rechte sind hierbei die allgemeinen (ungeschriebenen) Rechtsgrundsätze, die der Gerichtshof hauptsächlich durch ,wertende Rechtsvergleichung' aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ableitet und "integrationsadäquat" anwendet
Die allgemeinen Rechtsgrundsätze spielen im Europarecht eine größere Rolle als im traditionellen Völkerrecht. Sie erfüllen in erster Linie drei Funktionen: als Interpretationshilfe zur Konkretisierung bestehender Normen, als Lückenfüller und als eigenständiger Prüfungsmaßstab für Rechtssetzungsakte der Gemeinschaftsinstitutionen (und zum Teil sogar der mitgliedstaatlichen Rechtssetzung). Obwohl die allgemeinen Rechtsgrundsätze primär aus den mitgliedstaatlichen Rechtssystemen abgeleitet sind und auf Rechtsvergleichung basieren, liegt ihre eigentliche Quelle häufig im Dunkeln. Besondere Probleme und Fragen ergeben sich bei der Qualifizierung des "Gemeinsamen" der Grundsätze: Sind die Prämissen und Grundpositionen überhaupt kompatibel und ergeben sich Widersprüche und Divergenzen in Bezug auf Terminologie, Definition und Reichweite eines Rechts oder Rechtsinstituts? Ein weiteres Problem ist die Bindungs- und Invalidierungswirkung der allgemeinen Rechtsgrundsätze als eigenständiger Prüfungsmaßstab. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der internen Hierarchisierung, d. h., gibt es gegebenenfalls einfache versus fundamentale Rechtsgrundsätze, und falls ja, welche Folgen sind an diese Qualifizierung geknüpft? Im Wesentlichen haben die "allgemeinen Rechtsgrundsätze" die Tendenz, sich von "den Mitgliedstaaten gemeinsamen" in genuin "(euro-)richterrechtliche Grundsätze" zu verwandeln
Fazit: Im Vergleich zu innerstaatlichen Gerichtsbarkeiten nimmt der EuGH Kompetenzen als Verfassungsgericht, Verwaltungsgericht, Zivilgericht, Dienst- Disziplinargericht wahr. Die Rechtswege sind jedoch formal nicht eindeutig ausdifferenziert, insbesondere die (quasi-)verfassungs- und die verwaltungsrechtliche Kontrolle sind miteinander verschlungen und erstrecken sich über praktisch jedes Rechtsgebiet
III. Spezifika der europäischen Verträge
Die Qualifizierung des Europäischen Gerichtshofes als "Verfassungsgericht" ergibt sich nicht nur aus den eigentlichen Kompetenznormen und Verfahrensarten, die seinen Rechtsprechungsauftrag umschreiben, sondern ebenso aus der Natur und Qualität der "Verträge". Die Fülle der Vertragsbestimmungen und die Komplexität der vertraglichen Grundlage, die zum Teil undurchsichtigen und diffusen Bestimmungen verweisen auf einen enormen Kompetenzbereich des Gerichts. Ähnlich wie in nationalen Verfassungen finden sich in den Europäischen Verträgen offene Normen und Zielbestimmungen, Generalklauseln, Lapidarformeln und Formelkompromisse mit den damit einhergehenden Widersprüchen und Inkommensurabilitäten. Dies befördert den EuGH an den Grenzbereich von Recht und Politik. Das Problem der Justiziabilität allgemeiner Prinzipien (z. B. Subsidiarität) und Zielvorgaben (z. B. aus der Präambel) und generell das Problem der Konkretisierung von Rechtsnormen, deren konkrete Ausgestaltung ,präzedenzlos' ist (man denke nur an Bestimmungen zur Unionsbürgerschaft, die die Art der Beziehung zwischen der EU als politischer Autorität und dem Einzelnen oder der "Europäischen Bürgerschaft" offen lässt), machen die Grenzziehung zwischen Rechtsanwendung und Rechtssetzung höchst fragwürdig. Aber auch die breite Palette und Komplexität der europäischen Entscheidungsfindung, die Intransparenz des Rechtssetzungsprozesses und die uneindeutige Hierarchie der Rechtssetzungsinstrumente machen das Gericht zum zentralen Akteur im Institutionengefüge. Die gesamte Konstruktion des Rechtssystems der EU (das nicht synonym mit dem der EG ist) ist uneinheitlich und inkohärent. Der Anspruch eines "einheitlichen institutionellen Rahmens" ist darum höchst fraglich, supranationale und intergouvernementale Element stehen nebeneinander oder sind vermischt
Im Vergleich zu nationalen Verfassungen tragen die Verträge stärker programmatische und dynamische Züge, als "eine auf Wandel angelegte Gemeinschaftsordnung" sind sie in hohem Maße prozess- und zielorientiert. Hieraus folgte wohl die bedeutsamste Kompetenzzuweisung, denn das Gericht wurde mit der Auslegung und damit Verwirklichung eines politischen Programms beauftragt. Diese Kompetenz nahm es dann auch in Anspruch, indem es die expansive Auslegung von Gemeinschaftskompetenzen zwingend aus der funktionalen Ausgestaltung der rechtlichen Grundlage ableitete und die "EG-Verfassung" als intentional und per se auf dynamische Fortentwicklung angelegt ansah
IV. Das richterliche Selbstverständnis
Die Selbstreferenz des Gerichts z. B. als Hüter (oder sogar "Motor") der Integration, des institutionellen Gleichgewichts und des "acquis communautaire" eröffnet eine andere Perspektive als die einer einfachen Schiedsgerichtsbarkeit des internationalen Rechts. So hat der EuGH mit seiner Rechtsprechung sowohl die negative als auch die positive Integration vorangetrieben. Indem er vielfach eine "föderalisierende" und "zentralisierende" Spruchpraxis verfolgte, hat er die Politiken der Mitgliedstaaten häufig transzendiert
Der EuGH nahm vielfach Kompetenzen in Anspruch, die sich nicht unmittelbar aus den Verträgen ergaben und kaum antizipierbar waren. Die Selbstbeschreibung als Rechtsschutzinstanz, die sich dem Rechtsverweigerungsverbot verpflichtet fühlt, ließ das Gericht vermeintliche "Rechtslücken" zum Schutz individueller Rechte und im Interesse eines umfassenden Rechtsschutzsystems füllen
Zum richterlichen Selbstverständnis gehört schließlich die Auffassung, dass das Gericht im Interesse eines kohärenten Rechtssystems die Autorität besäße, die Maßnahmen der Gemeinschaft (auch ohne vertragliche Kompetenznormen) zu überprüfen und zu annullieren
V. Die "konstitutionalisierende" Rechtsprechungspraxis des Gerichts
Wesentliche Elemente der "europäischen Verfassung" sind ohne hinreichend deutliche Vertragsnormierung als Auslegungsergebnisse der Rechtsprechung ausgeformt und gestaltet worden; u. a. die Effektuierung des Integrationsziels durch die Abgrenzung der Gemeinschaftszuständigkeiten, die Beantwortung von Strukturfragen in der Kompetenzzuordnung der Gemeinschaftsorgane und die Ausgestaltung des Rechts(staats)prinzips mit der Eruierung allgemeiner Rechtsgrundsätze in Form von Grundrechten. Daraus folgt, dass sich das Gemeinschaftsrecht nicht mehr aus dem Wortlaut der Verträge, sondern aus den Leitentscheidungen des EuGH erschließt, ganz in dem Sinne: "The constitution is what the judges say it is." Mehr noch: Das supranationale Rechtssystem ist in erster Linie das Produkt einer (mehr oder minder "unübersichtlichen") Peu-à-peu-Konstruktion durch den EuGH, d. h. ein System a posteriori.
Die Konstitutionalisierung der Gründungsverträge der EG durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nahm schon in den sechziger Jahren ihren Anfang
Die meisten Fälle mit "konstitutionalisierender" Wirkung wurden über das Vorabentscheidungsverfahren entschieden, d. h. unter direkter Beteiligung individueller Kläger und nationaler Gerichte. So bezeichnet Stein den rechtlichen Integrationsprozess als einen dialektischen Prozess, der von einer ,symbiotischen' Beziehung zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten gekennzeichnet ist. Die Mitgliedstaaten stehen vielfach "in the shadow of the law", insbesondere, wenn sich Bürger an ihre Gerichte wenden, um nationalstaatliches Recht anzufechten und Gemeinschaftsrecht durchzusetzen
Autonomie
Den Grundstein zur Konstitutionalisierung legte der EuGH 1962 mit dem Postulat der Eigenständigkeit und Autonomie der europäischen Rechtsordnung unter Betonung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft, der Durchsetzungskraft des europäischen Rechts und der Abgrenzung zum Völkerrecht: "Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist."
Direkte Wirkung
Schon 1963 behandelte der EuGH die Frage nach der direkten Anwendung europarechtlicher Normen unter dem Gesichtspunkt, ob sich hieraus individualrechtliche Ansprüche des einzelnen Bürgers ableiten lassen, die die nationalen Gerichte und gegebenenfalls der EuGH zu schützen hätten
Im weiteren Verlauf der EuGH-Rechtsprechung erfuhr der Grundsatz der "Direkten Wirkung" eine vierfache Ausweitung: Erstens von einer negativen zu einer positiven Verpflichtung des EWG-Vertrages gegenüber den Mitgliedstaaten
Vorrang
Die Begründung der "Direkten Wirkung" und deren Ausweitung bezog sich in erster Linie auf den "effet utile", den "Telos" der Gemeinschaft (d. h. die Verwirklichung des gemeinsamen Marktes) und die Rechtsschutzpflicht gegenüber dem "Marktbürger". Auch um das Vorrangprinzip zu rechtfertigen, verwies der EuGH auf die Ziele, Kompetenzen und insbesondere auf die Funktionsfähigkeit und Effektivität der Gemeinschaft
Grund- und Menschenrechte
Ursprünglich beanspruchte der EuGH "direkte Wirkung" und "Vorrang" uneingeschränkt und differenzierte nicht nach dem Status des innerstaatlichen Rechts, selbst dann nicht, wenn nationales Verfassungsrecht tangiert war. Den Anstoß zu einer Grund- und Menschenrechtsdiskussion gaben die Debatten zur "Verfassungsmäßigkeit" der EG (und insbesondere die Frage nach den Grenzen der Belastbarkeit der nationalen Verfassungsgefüge), worauf sich der EuGH veranlasst sah - entgegen seiner ursprünglichen Auffassung -, den Schutz von Grund- und Menschenrechten als Bestandteil allgemeiner Rechtsgrundsätze in das europäische Rechtssystem sowie in seine Rechtsprechungskompetenz zu integrieren. Die formale Verteidigung eines absoluten Vorrangs wurde durch den die EG-Institutionen verpflichtenden Charakter von Grundrechten differenziert bzw. ergänzt
Das Gericht nimmt prinzipiell für sich in Anspruch, "europäische" Grundrechte definitorisch auszugestalten und deren Anwendung zu sichern. Dies geschieht in der Form der "allgemeinen Rechtsgrundsätze", die das kodifizierte Recht ergänzen, deren Quellen allerdings unklar sind. Der EuGH ist wohl bemüht, "gemeineuropäische Rechte" aus dem System existierender Rechte und Prozeduren der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme abzuleiten, dennoch sind die positiven Referenzpunkte eher nebulös. Die Verfassungen der Mitgliedstaaten, die Verfassungstradition und -überlieferung sowie gemeineuropäische und internationale Menschenrechtsvereinbarungen als die wichtigsten Rechtsquellen (an die der EuGH formal jedoch nicht gebunden ist) sind in ihrer Gesamtheit und Einzelbetrachtung problematisch, insbesondere da unklar ist, was durch einen kreativen Eklektizismus zukünftig zum gemeineuropäischen Grundrecht erklärt und inhaltlich konkretisiert wird. Das Ganze ist um so heikler, als der Grundrechtsstandard der Gemeinschaft eine Rückwirkung auf die Konkretisierung des Gemeinschaftsrechts im staatlichen Bereich hat; in der Konsequenz unterliegen die mitgliedstaatlichen Rechtssysteme nun faktischen Anpassungszwängen, die ihr System fundamentaler Rechte gegebenenfalls transformieren. Ein weiteres Resultat eines "gemeineuropäischen Grundrechtsstandards" ist die Fragmentierung der innerstaatlichen Rechtssysteme und somit eine Abnahme an Rechtssicherheit: Rein innerstaatliche Sachverhalte unterliegen potentiell anderen Grundrechtsanfordungen als "europäische" Sachverhalte.
Die Aufnahme von Grund- und Menschenrechten war jedoch nicht nur dazu geeignet, das Vorrang-Prinzip zu verteidigen und gleichzeitig die Legitimität der EG als "Rechtsgemeinschaft" hervorzuheben, sondern diente auch dazu, die Integration voranzutreiben und die Rechtsprechung auf Bereiche auszuweiten, die vormals im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten lagen. Galten die Grundrechte ursprünglich nur als Prüfmaßstab für Rechtssetzungsakte der Gemeinschaftsinstitutionen, richten sie sich nun auch an die mitgliedstaatliche Gesetzgebung. Dies geschah durch eine andere Akzentuierung: Die Ablösung der Frage "Was liegt innerhalb der Rechtssetzungskompetenz der Mitgliedstaaten?" durch die Frage "Was liegt im Bereich der Gemeinschaft?" deutet einen zwar subtilen, aber nichtsdestotrotz einschneidenden Wandel der Kompetenzzuschreibung an
Die Rolle nationaler Gerichte
Die Vorrangigkeit europäischen Rechts wirft die Frage auf, welche Rolle die nationalen Gerichte bei der Anwendung und Durchsetzung von europäischem Recht spielen, d. h., das europäische Rechtssystem steht vor der Aufgabe, ein System zentraler oder dezentraler Durchsetzung zu etablieren. Im Vorabentscheidungsverfahren sind diese beiden Elemente miteinander verknüpft bzw. stehen nebeneinander. Verschiedene Gründe legen die Vermutung nahe, dass das Vorabentscheidungsverfahren gegenüber einer zentralen Rechtsdurchsetzung durch den EuGH zunächst wenig effizient ist: Nur die letztinstanzlichen Gerichte haben eine Vorlageverpflichtung; ein Recht auf Vorlage ist nicht institutionalisiert; der EuGH ist auf die Kooperationsbereitschaft nationaler Gerichte angewiesen, und nur Fragen der (unklaren) Auslegung und Geltung müssen vorgelegt werden. Dennoch ist das Vorabentscheidungsverfahren ein wirksames Instrument der einheitlichen Interpretation von Europarecht mit Präzedenzwirkung. Der EuGH geht grundsätzlich von einem Kooperationsverhältnis mit den nationalen Gerichten aus: Die nationalen Gerichte haben demzufolge den Auftrag, eine mit dem EGV unvereinbare Vorschrift nicht anzuwenden
Vorgaben für die Umsetzung
Nationale Verwaltungsvorschriften (insbesondere das Verwaltungs- und Prozessrecht) können potentiell zu Implementationsunterschieden und somit zur indirekten Kollision mit europäischem Recht führen. "Der EuGH sah sich daher veranlasst, auch für die Umsetzung Prinzipien zu entwickeln, die das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationaler Rechtsordnung grundsätzlich präzisieren und denen daher konstituierende Bedeutung zukommt."
strahlte die Rechtsprechung auch auf den Rechtsschutz bei der Umsetzung von Richtlinien aus. So verpflichtete der EuGH die nationalen Gerichte, den Rechtsschutz, der sich aus europäischem Recht ergibt, entsprechend nationalen Prozessrechtsnormen zu gewährleisten. Herausragende Bedeutung nimmt hier die Elaboration verbindlicher Maßstäbe zum vorläufigen Rechtsschutz ein, der nicht durch nationale Rechtsvorschriften behindert werden darf
Abschließend kann festgestellt werden, dass, indem der EuGH seine Kompetenzen selbst auslegt, von einem bestimmten Vorverständnis ausgeht und frei über seine Auslegungsmethoden entscheidet, er seine Judikatur prinzipiell über jede Rechtssphäre ausdehnen kann. Er hat das europäische Institutionensystem unter dem Zielparadigma eines "transnationalen, effizienten Wirtschaftssystems" maßgeblich geformt und entwickelt und die Verschmelzung der Rechtssysteme unter der Hegemonie des europäischen Rechts vorangetrieben. Als Hüter der Gemeinschaft und Förderer der Integration mit dem Anspruch, ein kohärentes Rechtssystem und umfassendes Rechtsschutzsystem zu erarbeiten, war er federführend bei der Gestaltung, Organisation und Strukturierung des europäischen "Mehrebenensystems". Ähnlich nationalen Verfassungsgerichten versetzt ihn dies in die Position eines zentralen - an der politischen Steuerung beteiligten - Akteurs, dessen Tätigkeit sich in der Grauzone zwischen Rechtsanwendung und Rechtssetzung befindet.