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Europas Größenwahn | Europäische Union | bpb.de

Europäische Union Editorial Europas Größenwahn Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Eine Charta der Grundrechte für die Europäische Union Der Europäische Gerichtshof: Ein europäisches "Verfassungsgericht"? Die Europäisierung des deutschen Föderalismus

Europas Größenwahn

Wilhelm Hankel

/ 6 Minuten zu lesen

Welche gravierende Schwachstellen existieren im europäischen Integrationsprozess? Wo liegen die Gefahren, die sich aus einer Erweiterung der Europäischen Union ergeben?

Einleitung

Nicht der Rinderwahn bedroht Europa, sondern der Größenwahn. Mit der auf dem Nizza-Gipfel beschlossenen Erweiterung schreibt sich die EU selber ihr Menetekel an die Wand. Mit ihrer Ausweitung bis an die Grenzen Russlands kann sie nur eines erreichen: ihre Selbstauflösung und -zerstörung. Inzwischen ist aus der Sechsergemeinschaft eine der Fünfzehn geworden mit demnächst Zwölfen unter einem gemeinsamen Währungsdach, und die Kandidaten für eine EU der 28 stehen bereits fest. Doch damit nicht genug: Auch die nächsten acht nach den nächsten dreizehn sind bereits fest im Visier der Europaplaner: nämlich die vier neuen Balkanstaaten und zwecks Vermeidung drohender regionaler Konflikte noch Mazedonien, Montenegro, Moldawien sowie die Ukraine. Es fehlen dann nur noch die neuen Kaukasusrepubliken und Russland selbst!

Das führt zur nächsten Paradoxie der "größenwahnsinnigen" EU-Erweiterungsdebatte. Gerade der harte Kern der EU und eigentliche Magnet ist ihr weichster: die Europäische Währungsunion (EWU). Sie gerät durch die Aufblähung der EU als erste in die Krise, deren Vorboten schon da sind. Die Gründe sind voraus zu berechnen: Fehlt es an der Kongruenz von Währungs- und Staatsraum (gerade sie ist das Wesen einer Währungsunion), müssen die beteiligten Staaten auf alle Alleingänge in der Konjunktur- und Strukturpolitik verzichten und ihre innere Finanz- und Haushaltspolitik, wie im Vertrag vorgesehen, zum Erfüllungsgehilfen der von der Europäischen Zentralbank (EZB) festgelegten Geldpolitik machen. Sie bleiben zwar souverän, aber diese Souveränität wird ihnen von der EZB und ihren Währungsbestimmungen wieder genommen.

Was geschieht, wenn sich die EWU-Staaten diese Politik der EZB aus zwingenden inneren Gründen nicht leisten können? Dann muss die EZB hinnehmen, dass einzelne Mitgliedstaaten, wenn auch vertragswidrig, ihre internen Probleme - wie Strukturschwäche, Massenarbeitslosigkeit oder Funktionsschwäche ihrer Sozialsysteme - in eigener Regie lösen: sei es inflatorisch über neue Staatsschulden und Haushaltsdefizite oder dirigistisch über verbotene Eingriffe in den bislang freien Zahlungs- und Kapitalverkehr.

Denn die alte, ökonomisch wie politisch weise "Neutralisierung" dieser nationalen Einflüsse auf das Währungsgeschehen, nämlich die über freie und flexible Wechselkurse, findet nicht mehr statt, seit aus anpassungsfähigen Währungs"preisen" amtlich-zementierte und unveränderbare Umtauschrelationen geworden sind. Wer aber Ventile verstopft, muss mit dem Platzen des Kessels rechnen. Das europäische Einheitsgeld mit seinen verstopften Wechselkursventilen lässt den Innendruck steigen. Es verführt die europäischen Problemländer dazu, einen Teil dieser Probleme auf die Schultern der Partner abzuwälzen. Die Folgen sind bereits erkennbar. Statt der eigenen Währung wertet dann der Euro ab. Man "europäisiert" die nationalen Währungsrisiken. Dies ist der Grund dafür, dass der Euro schon heute nicht auf die Beine kommen will. Kluge Anleger legen ihre Lebensersparnisse deswegen nicht in Euro, sondern in fremden, für sicherer gehaltenen Währungen an: US-Dollar, Schweizer Franken oder anderen.

Europa verliert auf diese Weise das Kapital, das es für seine Vertiefung wie für seine Erweiterung so dringend braucht. Es finanziert Investitionen, Arbeitsplätze und Produktivitätssprünge bei der Konkurrenz im Ausland statt bei sich selber - ein Aderlass, den es sich nicht mehr allzu lange leisten kann. So wächst mit jeder neuen Erweiterungsrunde die Kapitalflucht- und Abwertungsgefahr, denn mit dem Beitritt immer neuer und schwächerer Partner schlagen deren Probleme auf den gemeinsamen Euro-Wechselkurs durch, nimmt dessen Abwertungspotenzial zu.

Das Ende der EWU ist programmiert. Offen ist nur, wer es wann einleitet: die alten Kernländer, weil sie nicht mehr bereit sind, für die Erweiterungskosten der Neuen zu zahlen oder die von dorther importierte Arbeitslosigkeit hinzunehmen, oder die enttäuschten Beitrittsländer, weil ihnen beides verweigert wird: der Zutritt zur EWU zu ihren Bedingungen und die für sie notwendige Entlastung in Sachen Strukturausgleich und über den "Export" ihrer hohen Arbeitslosigkeit. Gibt es keine vernünftigere Alternative zur Erweiterung der EU als das Abwarten ihres Endes mit Schrecken?

Es gibt sie, und es gab sie schon immer. Europa ist nicht die Neue Welt, und diese kann auch nicht ihr Vorbild sein. In Europa leben die alten Kulturen und Sprachen fort. Europas Staaten und Demokratien sind aus nationalen Revolutionen und Befreiungskämpfen hervorgegangen, deren Traditionen in den Verfassungen und ihren rechts- und sozialstaatlichen Strukturen fortleben. Sie lassen sich weder abschaffen noch "vergemeinschaften".

Völker brauchen wie Menschen ihr Zuhause. Für diese gilt nach innen die "Hausordnung" (Verfassung, Rechtsstaat), nach außen die "Gemeindeordnung": das zwischenstaatliche Völkerrecht. Handel und Wandel, Märkte und Währung sind weder Staatsersatz noch Staatssymbole, noch Bausteine für eine Supermacht namens EU, sondern privat geschaffener und geleisteter "Service". Deswegen endet jede Europapolitik, die versucht, die politische Integration durch die wirtschaftliche zu ersetzen, früher oder später in der Sackgasse.

Wenn Globalisierung und europäische Integration politisch dieselbe brisante Wirkung zeitigen, weil die neue Markt"herrschaft" die Rechts-, Sozial- und Sicherungssysteme der Staaten für ihre Bürger vor Ort aushebelt und zur Wirkungslosigkeit verdammt, dann manövriert sich die EU mit ihrer forcierten Grenzerweiterung von selber ins Aus: Weil sie sich selber eben nicht an die Stelle der alten Nationalstaaten setzen kann und darf - Letzteres hat der Gipfel von Nizza gerade eben wieder bestätigt -, ist sie weder in der Lage, das in Europa Erreichte zu erhalten noch das bislang national Erreichte auf der höheren, gesamteuropäischen Ebene zu gewährleisten. Das gilt für das gemeinsame Geld, den Euro, und das gilt für den bislang nur national gesicherten Sozialstaat. Der Euro wird mit jedem neuen Beitritt eines Schwachwährungslandes schwächer statt stärker - zumal mit jedem neuen Beitritt die Chancen einer politischen Union, die ihn letztlich (über gemeinsame Finanz- und Strukturpolitik) stützen könnte, dahinschwinden.

Ob Seattle, Seoul oder Nizza: Die Menschen gehen auf die Straße und fühlen sich von ihren Europa beschwörenden Regierungen im Stich gelassen. Die EU gerät in dieselbe Rolle wie IWF und Weltbank. Sie wird als Sündenbock für die mit dem Integrations- und Erweiterungsprozess verbundenen Folgeschäden verantwortlich gemacht, für das dramatisch wachsende Struktur- und Reichtumsgefälle des erweiterten Europa, für Betriebsstilllegungen und steigende Arbeitslosigkeit in den Notstandsregionen, für Arbeitsplatzverluste und sich aufladende soziale Spannungen in den bislang noch reichen Einwanderungsländern. Der EU wird man zudem in Deutschland anlasten, dass sie mit ihrer aufs Kommerzielle verengten Auslegung (und Förderung) des Gemeinsamen Marktes, in der selbst öffentliche und gemeinwohlorientierte Banksysteme wie die Sparkassen als Fremdkörper behandelt werden, weder der alten noch neuen Sozialen Marktwirtschaft allzu viel Chancen belässt.

Die Schlussfolgerung aus alledem ist nicht neu: Wirtschaft und Währung gedeihen keineswegs am besten in staatsfreien (deregulierten) Räumen. Sie benötigen ein Mindestmaß an Rechtssicherheit und verlässlichem Regelwerk und an politischer Mitsprache und Orientierung. Ihr Wettbewerb am Markt muss zudem gegen die Willkür der Mächtigen in Wirtschaft wie Staat wirksam geschützt werden. Diesen für jede, zumal aber für eine Soziale Marktwirtschaft unverzichtbaren Ordnungsrahmen bietet einzig und allein der Staat - und in einem Europa der vielen Völker und Kulturen eben nur eine Vielheit solcher Staaten mit demokratischer Verfassung und Tradition.

Das aber verlangt ein anderes Europa als das sich jetzt etablierende: ein föderales der für ihre innere Beschäftigungs-, Sozial- und Strukturpolitik voll verantwortlichen Staaten und auf der Ebene der Gemeinschaft eines der völkerrechtlichen Allianzen: der verbindlichen Handels- und Währungsabkommen, der offenen, aber an das Recht gebundenen Märkte, der freien, nationale Konjunktur- und Strukturunterschiede ausgleichenden Wechselkurse.

Es wäre dies jenes Europa der "funktionalen Integration", wie es einst Ludwig Erhard vorschwebte. Es hätte weder Probleme mit dem Spannungsverhältnis von Integration und Bürgerstaat noch mit dem Strukturgefälle seiner Staaten und Regionen. Seine auf gemeinsame Prinzipien festgelegte Völkerfamilie könnte beliebig viele Mitglieder aufnehmen. Sie würde sich weder übernehmen noch wechselseitig stören, denn jedes Mitglied löste seine Probleme selbst und jeder Beitrittskandidat bestimmte autonom, ob und wann er dem Club beitritt und wieviel Integration für ihn gut ist.

Mit der bedingungslosen Öffnung ihrer Märkte für die Neuen, dem Abbau ihrer skandalösen Agrar- und anderer Protektionismen sowie einer selektiven Entwicklungshilfe zur Beseitigung der strukturellen Engpässe in den Beitrittsländern würde die EU nicht nur dem Alten Kontinent auf die Sprünge helfen, sondern auch sich selbst: Auch in den alten EU-Ländern könnte man endlich jene Reformen anpacken, die sie fit machen für eine neue EU und ein neues Jahrhundert.

Dr. rer. pol., geb. 1929; lehrt seit 1971 Währungs- und Entwicklungspolitik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/M.

Anschrift: Berghausenerstr. 190, 53639 Königswinter.
E-Mail: WHankel@aol.com

Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: (zus. mit Wilhelm Nölling, Karl Albrecht Schachtschneider und Joachim Starbatty) Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muss, Reinbek 1998.