Einleitung
Bis zum nächsten Festival vergingen sechs Jahre. Die Ursachen dafür lagen weniger in einer politischen Verdrossenheit des WBDJ als vielmehr in einer Reihe von Umständen, die sich durch absonderliche Duplizität auszeichnen. Für 1965 waren die IX. Weltfestspiele auf einer Sitzung des Internationalen Vorbereitungskomitees (IVK) vom 8. bis 10. September 1964 in Helsinki nach Algerien vergeben und dort auch vorbereitet worden. Doch einen Monat vor ihrem geplanten Beginn wurde die Regierung Ben Bella, die einen "ordentlichen" Ablauf des Festivals gewährleisen sollte, von Boumedienne gestürzt, der keineswegs die Beachtung sowjetischer Direktiven für den Verlauf der Festspiele garantierte. Aus diesem Grunde wurde das IX. Festival auf einer schnell anberaumten Tagung des Internationalen Vorbereitungskomitees am 8. Und 9. Juli in Tampere/Finnland gegen den Widerspruch der Chinesen verschoben.
Im Januar 1966 wählte das Internationale Vorbereitungskomitee in Wien die Hauptstadt Ghanas, Accra, zum neuen Festspielort. Im September desselben Jahres sollte dort unter dem Regime Kwame N´Krumahs das Festival stattfinden. Auch diesem Entscheid machte der Sturz des Staatschefs kurz nach der Beschlußfassung zunichte. Diesmal blieb dem Internationalen Vorbereitungskomitee nichts anderes übrig, als die Festspiele auch für 1966 abzusagen.
Schließlich verfiel der WBDJ auf den naheliegenden Gedanken, die IX. Weltfestspiele in einem Land abzuhalten, dem keine revolutionäre Land abzuhalten, dem keine revolutionäre Veränderung in der Staatsführung drohte. Im Juni 1966 faßte die WBDJ-Generalversammlung den vorläufigen Entschluß, das Festival nach Havanna oder Sofia zu vergeben. Eine Sitzung des Internationalen Vorbereitungskomitees am 25. Und 27. Januar 1967 in Wien bestimmte dann Sofia zur Festspielstadt – eine Wahl, die angesichts mancher Attacken aus Kuba Ende November 1967 vom IVK noch einmal bestätigt werden musste.
Nach der definitiven Entscheidung für Sofia begannen dort um ein IVK die organisatorischen Vorbereitungen. Das Internationale Vorbereitungskomitee gab von Mai 1968 an die Zeitschrift "Festival" in großer Auflage und mehreren Sprachen heraus, in der die programmatische Ausrichtung der IX. Weltfestspiele – Verurteilung der amerikanischen Aggression in Vietnam – eingeleitet wurde.
Die Vorbereitungen in der Bundesrepublik durch den Arbeitskreis Festival
Die nationalen Vorbereitungskomitees bestanden in vielen Ländern schon seit dem Anlaufen der Vorbereitungen für Algerien; wie Jean Diard, der Vorsitzende der "Ständigen Kommission" des IVK meldete, waren es am Ende insgesamt 91. In der Bundesrepublik hatte sich der Arbeitskreis Festival (AKF) konstituiert. Sein Vorsitzender war der Verleger der Zeitschrift "elan", Karl-Heinz Schröder, ein ehemaliger FDJ-Funktionär, der heute eine leitende Funktion im Apparat des Parteivorstandes der DKP hat. Seit 1965 hatten dem Arbeitskreis Festival bereits folgende Jugend- und Studentenorganisaionen anghört:
Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS)
Sozialdemokratischer Hochschulbund (SHB)
Liberaler Studentenbund Deutschlands (LSD)
Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler (AUSS)
Freisinnige Jugend Hamburg
Arbeitsgemeinschaft politischer Jugendklubs NRW
Deutsche Jugendgemeinschaft
Arbeitsgemeinschaft Dr. Arno Klönne/Frank Werkmeister
Außerdem arbeiteten im AKF: Pfarrer Herbert Mochalski, Otto Botzum, Mitglied der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN), Helmut Schauer, Sekretär des Kuratoriums "Notstand der Demokratie", Werner Weismantel, Sohn des Delegationsleiters der BRD-Gruppe beim Moskauer Festival, Prof. Leo Weismantel, Bruno Freyeisen, Reiner Abele und Peter Grohmann.
In der Vorbereitungsphase für das Sofia-Festival hatte sich der Arbeitskreis Festival noch vergrößert; zu den genannten Organisationen waren die Deutschen Jungdemokraten (DJD), die Humanistische Studentenunion (HSU), die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ), die Internationale der Kriegsdienstgegner/Deutsche Friedensgemeinschaft und die VVN gekommen. Mit dem Status von Beobachter-Delegationen hatten sich dem AKF eine Gruppe des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) und eine Jugendgruppe des Deutschen Gewerkschaftsbundes angeschlossen.
Insgesamt zählte die Delegation des Arbeitskreises Festival 220 Teilnehmer. Ihre Zusammensetzung war heterogen, denn alle Schattierungen der "Linken" waren vertreten: von kritischen Linken, die, insbesondere beeinflußt von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse, der "Frankfurter Schule" also, eine sozialistische Gesellschaft mit konsequenter Demokratisierung aller gesellschaftlicher Bereiche anstrebten, bis zu den Anhängern des Sowjetkommunismus, der von den kritischen Linken als "Staatskapitalismus" interpretiert wird. Zwischen diesen ideologischen Gruppierungen, die etwa in einem Verhältnis von 70 "kritischen" zu 150 "dogmatischen" Sozialisten standen, gab es einige Gemeinsamkeiten, z.B. die Anerkennung der Festival-Losung gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner oder die Forderung nach Anerkennung der Oder/Neiße-Grenze und der DDR. In den gesellschaftspolitischen Vorstellungen dagegen überwogen bei weitem die Gegensätze. Da alle Beschlüsse im AKF einstimmig gefasst werden mussten, konnte der sowjetkommunistisch orientierte Vorsitzende Schröder den Arbeitskreis Festival nicht zu einem marxistisch-leninistischen Propagandainstrument machen; er war vielmehr zur politischen Zurückhaltung gezwungen. Auf diese Weise beschränkte sich der AKF auf organisatorische Vorbereitungen, die nach übereinstimmenden Äußerungen der Beteiligten über fair verliefen: Alle Abmachungen, insbesondere über die Referenten für die Seminare des Festivals, wo die unterschiedlichen Auffassungen hart aufeinanderprallen mussten, wurden schriftlich festgelegt und in Sofia eingehalten.
Als das offizielle Nationale Vorbereitungskomitee der BRD betreute der AKF in organisatorischer Hinsicht eine zweite westdeutsche Delegation, die aber weitgehend autonom blieb: die Reisegruppe des Deutschen Bundesjugendringes (DBJR). Seinem Entschluß, mit einer Delegation nach Sofia zu fahren, waren harte Auseinandersetzungen zwischen den ihm angeschlossenen Jugendverbänden vorausgegangen - bei insgesamt 17 Organisationen unterschiedlicher Zielsetzungen kein Wunder. Zum Prüfstein, der die Verbände nach Teilnahmewilligen und Festivalgegnern schied, wurde eine Erklärung des DBJR vom November 1967 zum Generalthema der Festspiele: "Vietnam".
Einverstanden mit dem DBJR-Text waren nur zehn der dem Bundesjugendring angeschlossenen Organisationen, von denen acht dann in der DBJR-Reisegruppe für Sofia vertreten waren. Hinzu kamen in dieser deutschen Delegation Vertreter von Landesjugendringen sowie der Jungsozialisten. Insgesamt umfasste die Reisegruppe des DBJR 218 Personen. Ihr Leiter war der DBJR-Vorsitzende Klaus Flegel, gleichzeitig Vorsitzender der "Falken".
Zwischenfälle vor der Eröffnung der Festspiele
Noch vor Eröffnung der IX. Weltfestspiele gab es eine Reihe von Zwischenfällen, die ein bezeichnendes Licht auf die Regiepläne der Veranstalter werfen. Daß Kuba nicht am Festival teilnahm, haben sie allerdings nicht zu verantworten, wohl aber die Abwesenheit der Chinesen. Die im Fahrwasser des Sowjetkommunismus schwimmenden Festivalfunktionäre brüskierten den chinesischen Jugendverband nämlich dadurch, daß sie ihm, der als mitgliedstärkster der Welt auch ein entsprechend großes Kartenkontingent von 5000 Stück erbeten hatte, nur einige Hundert zugestanden. Daraufhin verzichtete China auf die Teilnahme am Festival, ebenso das mit China verbündete Albanien. Damit fielen für die Sowjets und ihre Verbündeten zur erwartende Schwierigkeiten fort.
Streit gab es auch um die Teilnahme einer israelischen Delegation. Auf Druck arabischer Staaten war selbst den kommunistischen Jugendverbänden Israels schon für Algier der geplante Besuch des Festivals abgeschlagen worden. Einige west- und nordeuropäische Jugendverbände, aber auch Tschechoslowaken und Rumänen drängten auf Revision dieses Ausschlusses, die tatsächlich für das Sofia-Festival erfolgte – allerdings mit der Einschränkungen, daß nur die proarabische kommunistische Jugend nach Sofia kommen dürfe. Diese Entscheidung konnten auch arabische Drohungen auf Boykott der Spiele nicht rückgängig machen; die Einladung an die Israelis blieb bestehen.
Von der Festivalregie geplant erscheint wiederum ein Zwischenfall, den die bulgarischen Kommunisten gegenüber der DBJR-Reisegruppe provozierten. Noch vor deren Abflug stellte am 23. Juli 1968 der Exekutivsekretär des Nationalen Vorbereitungskomitees Bulgariens, Peter Mladenoff, anläßlich einer Pressekonferenz die Behauptung auf, daß "der CIA und die Spionagedienste von Westdeutschland bemüht sind, gewisse Organisationen des Deutschen Bundesjugendringes zu benutzen..." Ein Teil der zu rechtsgerichteten Organisationen zählenden Delegierten hat von den Spionagezentren der deutschen Bundesrepublik eine Vorbereitung und spezielle Hinweise darüber erhalten, wie die Kontakte zu den Delegationen der anderen Länder herzustellen sind, um jene gegen die Festival-Ideen und die Bewegung der fortschrittlichen Jugend zu beeinflussen ... Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Kommandos aus deklassierten Elementen neofaschistischer Jugendorganisationen und verräterischen Emigranten sozialistischer Länder rekrutiert worden sind. Mehrere Dutzend der gleichen Teilnehmer am Festival sind in Spezialkursen für den Zweck geschult worden, subversive Aktionen in Sofia zu organisieren. Ihre Schulung wurde von Ausbildern der CIA und der westdeutschen Spionagedienste unter größter Geheimhaltung vorgenommen." Es dürfte nicht Absicht der Bulgaren gewesen sein, der BDJR-Gruppe die Teilnahme am Festival zu vergraulen; dagegen spricht ein beschwichtigendes Telegramm Mladenoffs, als der aufgebrachte DBJR sich bei ihm beschwerte und energisch Beweise für die Behauptung forderte. Wahrscheinlich ist vielmehr, daß die Bulgaren die Öffentlichkeit auf eine – insgeheim sicherlich seit langem geplante – Programmänderung vorbereiten und ihre Notwendigkeit plausibel machen wollten, mit der die westdeutschen Delegierten in Sofia überfahren werden sollten: der dritte Festspieltag war überraschend zum "Tag gegen den Neonazismus in Westdeutschland" erklärt worden. Der BDJR-Gruppe war die Rolle zugedacht, als lebender Beweis für die sowjetkommunistische These von der neofaschistischen Bundesrepublik herzuhalten.
Übel spielte die Festivalleitung im Verein mit der bulgarischen Polizei den Tschechoslowaken mit, die zu Hause gerade den "Prager Frühling" unter Dubcek erlebten. Bereits vor der Eröffnung der Weltfestspiele erfuhren sie, daß ihren Vorstellungen vom "menschlichen Sozialismus" wenig Raum gegeben würde. Die Methoden waren: Behinderungen, Diskriminierungen, Unterdrückungen.
Damit begann es für ein tschechoslowakische Reisegruppe bereits an der bulgarischen Grenze. Über die ersten Zwischenfälle meldete die bulgarische Nachrichtenagentur BTA: "Am 26. Juli trafen an dem Grenzposten (bei Kolotina an der bulgarisch-jugoslawischen Grenze [d. Ver.]) etwa 30 Jugendlichen aus der Tschechoslowakei ein. Den Jugendlichen, die ein verwahrlostes Aussehen hatten, folgte ein Lastwagen mit einer fahrbaren Küche. Es wurde ihnen in höflicher Weise erklärt, daß ihnen nicht gestattet werden könne, in einem solchen Aufzug nach Bulgarien zu kommen. Sie ... legten sich auf den Bürgersteig und die Asphaltstraße und behinderten damit den Verkehr."
Die tschechoslowakische Nachrichtenagentur CTK berichtete über den Sachverhalt wesentlich anders. Danach bildeten die Tschechoslowaken eine Gruppe der Festspieldelegation, die zu Fuß nach Sofia unterwegs war. Sie erfuhren auch keine höfliche Behandlung, sondern wurden "rauh behandelt", "geschlagen" und dann auf die jugoslawische Seite der Grenze abgeschoben. Die jugoslawische Nachrichtenagentur Tanjug wusste Einzelheiten: "Am vergangenen Freitag lehnten es die bulgarischen Grenzbehörden ab, der Gruppe die Einreise nach Bulgarien zu erlauben, obwohl sie ein Schreiben mit sich führte, aus dem hervorging, daß sie ein Teil der offiziellen tschechoslowakischen Delegation ist. Statt Einreisevisa mißhandelten die bulgarischen Grenzposten die tschechoslowakischen Jungen und Mädchen, als es Nacht wurde. "Solange es Tag war, sagten sie nichts, sie warteten die Nacht ab, bis sie kamen, um uns zu schlagen. Das war schrecklich, Wir werden es niemals vergessen," sagte der Leiter der Gruppe, Jury Indra, einem Berichterstatter der Belgrader Zeitung POLITIKA. Indra ist gleichzeitig Sekretär des Stadtjugendkomitees von Pilsen."
Den Tschechoslowaken blieb nicht anderes übrig, als nach einigen Tagen umzukehren, da selbst eine Intervention des tschechoslowakischen Außenministers die Bulgaren nicht umstimmen konnte. Die tschechoslowakische Delegation erklärte vor Journalisten, offizielle Gründe hätten die bulgarischen Behörden für ihr brüskierenden Verhalten nicht gegeben. Einen Tag später hielten bulgarische Grenzposten eine tschechoslowakischen Lastwagen fest, der für die CSSR-Delegation Medikamente, Einlaßkarten und Abzeichen sowie Exemplare des reformkommunistischen Aktionsprogrammes der KPC geladen hatte. Der Chauffeur wurde abgeführt und die Ladung beschlagnahmt. Ernst nach drei Tagen konnte der LKW seine Fahrt nach Sofia fortsetzen.
In der Nacht vor der Eröffnung der Spiele wurde ferner das Podium, das sich die Tschechoslowaken für ihre kulturellen Veranstaltungen gebaut hatten, von einem Lastwagen angefahren und schwer beschädigt. Darauf umstellte bulgarische Miliz den kleinen Park, in dem das Podest stand, und bulgarische Arbeiter bauten das Podium ab (dpa 29.7.1968). Kai Hermann notierte ironisch in der "Zeit" vom 2.8.1968, daß die "unbekannten Täter", von denen die Bulgaren bedauernd sprachen, Armee-Uniformen getragen hätten. Zu weiteren Schikanen gehörte die Unterbringung der tschechoslowakischen Delegation in einem Studentenheim 12 km außerhalb Sofias, um Kontakte zu erschweren, die Behinderung ihrer Telefonate nach Prag und Preßburg während der für die Zukunft der Tschechoslowakei entscheidenden Konferenz von China, die Vermittlung ihres Telexverkehrs über Moskau und schließlich ein Vorfall, den Hermann Schueler im "Vorwärts" vom 15.8.1968 festgehalten hat: "... in einer tschechoslowakischen Gruppe fand sich ein Unbekannter mit auf der Windjacke aufgemaltem Hakenkreuz, der das Ziel urplötzlich auftauchender Fotografen war."
Trotz aller Repressionen machten die tschechoslowakischen Delegierten inoffizell deutlich, man werde den Dogmatikern nicht den Gefallen tun und abreisen – eine richtige Maßnahme, wie sich bald herausstellen sollte. Denn schon bei der Eröffnung sowie im Verlauf des Festivals erhielten die Tschechoslowaken Schützenhilfe aus vielen Delegationen, sodaß schließlich von einem Festival zwei politischer Lager gesprochen werden mußte. Neben den Anhängern des Sowjetkommunismus, insbesondere aus der UdSSR, der DDR und Bulgarien, gab es die kritischen Sozialisten aus vielen west- und nordeuropäischen Staaten, aus Jugoslawien, der Tschechoslowakei und auch aus Rumänien.
Die Eröffnung der IX. Weltfestspiele
Der Eröffnungstag, Sonntag, der 28. Juli 1968, gab über die heterogenen Gruppierungen sichtbaren Aufschluß. So trugen westdeutsche Teilnehmer die Bilder von Leo Trotzki und Mao Tse-tung, den Repräsentanten einer kritischen Einstellung zum Sowjetkommunismus; die Tschechoslowaken führten ihren Zug mit Porträts von Dubcek und Svoboda an. Beide Gruppen gerieten ins Handgemenge mit orthodoxen "Jugendfreunden" aus den Ostblockstaaten, die von ihren westdeutschen Politbrüdern aus der SDAJ ebenso unterstützt wurden wie von der bulgarischen Polizei und Geheimpolizei.
Im Stadion folgten die nächsten Zwischenfälle des ersten Tages. Die Porträts der tschechoslowakischen Politiker wurden gerade noch vom bulgarischen KP-Chef in der Stadion-Loge akzeptiert – noch war Dubcek nicht geächtet. Die Rufe jedoch, die aus der tschechoslowakischen Delegation nach oben gellten, ließen ihn verärgert nach hinten verschwinden: "Unsere Demokratie ist unsere Sache", hieß es, und "Sofia, erwache!" Regelwidrig verhielten sich auch die linken Ketzer aus dem AKF. Vorsichtshalber hatten die Bulgaren die amerikanische Botschaft vollständig abgeriegelt – die anti- amerikanische Generallosung des Festivals sollte keinesfalls zu unüberschaubaren Aktionen gegen die USA verleiten. Gewünscht war vielmehr der Protest, der sich auf Verbales beschränkte. Selbst amerikanische Deserteure aus Vietnam, die hier aus der Ecke der Verfemten in ein Forum allgemeiner Zustimmung traten, nannten die Vietnam-Apelle der Veranstalter "leere Worte".
Um diesem Doppelspiel ein Ende zu machen und das Festival wirklich in eine Kampfgemeinschaft für Vietnam und gegen die Amerikaner umzufunktionieren, rief die kritische Fraktion des SDS im Stadion per Spruchband für den nächsten Tag zu einer Massendemonstration vor der amerikanischen Botschaft auf. Dazu wurden erklärende Flugblätter verteilt, in denen es hieß "Solidarität mit der vietnamesischen Revolution bedeutet heute nicht alleine materielle Hilfe oder bloß moralischen Protest. Angesichts des Betruges der Pariser Verhandlungen und der verschärften US-Aggressionen muß das Festival, um nicht unglaubwürdig zu werden, demonstrativ ein Zeichen seiner kämpferischen Solidarität setzen ... Das Festival darf nicht bei bloß verbalen Protesten stehenbleiben. Montag, 29. Juli 1968, 16 Uhr Demonstration vor der US-Botschaft."
"Kritische" contra "orthodoxe" Linke
Was sich dort abspielte, schilderte der Korrespondent der "Zeit", Kai Hermann: "Und dann hallte es ... wie Donnerschall über die Prachtstraße der Hauptstadt, den Boulevard Ruski: 'Druschba, Druschba' – Freundschaft, Freundschaft. Man traf sich unweit der amerikanischen Botschaft. Studenten aus der Bundesrepublik saßen schon auf dem Pflaster, Protest gegen die USA demonstrierend. 'Vietnam – Vietnam' skandierten Bulgaren und Deutsche gemeinsam. Kräftige Arbeiterhände umfaßten Studenten – etwas zu hart für eine brüderliche Umarmung. Arbeiterfüße traten zu – im Takt der Druschba – Druschba. Die Studenten umklammerten sich, wie sie es gegen die deutsche Polizei geübt hatten. Doch dann waren auch deutsche Arbeiterkinder auf der Szene, den 'Intelligenzlern einmal die Schnauze zu polieren', Geheimpolizei gab sich zu erkennen. Die Rangelei wurde unübersichtlich."
Was im Augenblick der Massenschlägerei unübersichtlich war, konnte später genau rekonstruiert werden. Das Handgemenge spielte sich zwischen Dogmatikern und Antidogmatikern ab, zwischen den kritischen Linken des AKF, voran der SDS um seinen Vorsitzenden K. D. Wolff, und den sowjetischen Jugendverbänden, voran die SDAJ und die stalinistische Gruppe des SDS. Den letzteren stand bulgarische Polizei in Zivil zur Seite. K.D. Wolff, der illusionslos nach Sofia gefahren und auf Konflikte – auch tätliche – mit den Dogmatikern eingestellt war, konnte dennoch angesichts solcher Methoden seine Enttäuschung über die Deformation des Sozialismus nicht verbergen; er sagte den Schlägern seine Meinung: "Ihr seid ja schöne Schweine, gebt euch als Arbeiter aus und seid Geheimpolizisten."
Was weiter geschah, berichtet Helmut Herles von der FAZ: "Schließlich retteten sich die Genossen Studenten mit Wolff auf eine Mauer im Georgi-Dimitroff-Mausoleum. Im Nu strömten die Menschen zusammen, Neugierige, Sympathisierende, Gegner. Sie fanden auch Freunde unter jungen Jugoslawen, Tschechen, einigen Bulgaren und Delegierten aus der 'Dritten Welt'". Wolff fehlte zunächst die 'Flüstertüte'. Als er sich schließlich mit dieser Waffe der Protestler ausgerüstet hatte, von einem persischen Studenten, den die deutschen Studenten vor dem Zugriff eines bulgarischen Geheimpolizisten schützten, ins Russische übersetzt, schließlich sogar von einer Bulgarin ins Bulgarische gedolmetscht, als Wolff also in Fahrt kam, deckte er von seinem Mauersitz aus Spannungen und Behinderungen der studentischen Ultralinken während des Festivals auf ... Er bezichtigte indirekt Moskau der Komplizenschaft mit Washington und vermisste die kämpferische Solidarität mit Vietnam auf dem Festival. Er wehrte sich gegen die Überwemmung mit Folkloristik, Sport und buntem Flitter und die Verdeckung der politischen Fronten. Er sagte, das Festival sollte links beschnitten werden ... Auf einmal ertönt bulgarischer Gesang. Von der Straße her nähert sich eine Marschkolonne, ein Wald von weiß-grün-roten Nationalflaggen. langsam rücken sie wie ein friderizianisches Linienbataillon gegen die Mauer des Mausoleums vor. Die Studenten ziehen sich zurück. Die malerische Fahne der Revolution, die die jungen Jugoslawen mitgebracht hatten, die Zeichen des linken Maoismus und Trotzkismus verschwinden von der Mauer des Nationalheiligtums. Das Mausoleum ist wieder in Orthodoxer kommunistischer Hand."
Von da an tummelten sich die Geheimpolizisten ständig in der Nähe des deutschen Quartiers. Die Eingänge wurden besetzt, die Gäste der Westdeutschen kontrolliert, Polizei drang in die Zimmer ein und durchwühlte Gepäck. "stern"-Reportern wurde sogar der Wagen entwendet, weil die Bulgaren Filme suchten. Nachdem sie das Material vernichtet hatten, lieferten sie das Auto – gegen eine Gebühr von 35 Mark – wieder aus.
Mit den Maßnahmen gegen die unabhängige Linke befanden sich die Orthodoxen jedoch keineswegs in Übereinstimmung mit der Festivalmehrheit. Von besonderem Interesse ist, daß ein Tadel gegen den SDS wegen seiner Demonstration vor der amerikanischen Botschaft auf italienische Initiative hin in der Ständigen Kommission des IVK aus dem Protokoll gestrichen werden mußte. Ebenso aufschlußreich ist die Blockierung des Versuchs von SDAJ und der orthodoxen SDS-Gruppe, K.D. Wolff über den AKF in die Bundesrepublik abzuschieben. Hier verhinderten die kritischen Linken, insbesondere der LSD, die Ausführung des schon inoffiziell gefassten Beschlusses, der Einstimmigkeit erforderte – ein Beweis für die richtige Taktik der Linken, gemeinsam mit den Orthodoxen in den AKF einzutreten. Durch ihre Teilnahme verhinderten sie ferner, daß der AKF als Verbündeter der FDJ gegen die BRD auftreten konnte. Solidarisierungen zwischen AKF-Führung und der FDJ gab es daher öffentlich nur bei besonderen Vorfällen (wie gegen K.D. Wolff), sonst nur außerhalb der Öffentlichkeit.
Am 1. August ereignete sich ein weiterer, von der verunsicherten bulgarischen Bürokratie provozierten Zwischenfall, als eine Gruppe kritischer Linker aus dem AKF der chinesischen Botschaft einen Besuch abstattete. Dort ließ man sie zu einem allerdings sehr kurzen Gespräch freundlich ein. Beim Verlassen der Botschaft wurden sie von Fernsehjournalisten der amerikanischen NBC gefilmt. Beides nun galt in den Augen der Orthodoxen als Häresie. Der Besuch bei den von den Sowjetkommunisten geächteten Chinesen ging eindeutig gegen den festivaloffiziellen Kurs, und die filmische Dokumentation dieser Unbotmäßigkeit zur Ausstrahlung in die Welt drohte die Uneinigkeit des Festivals zu verbreiten. So sahen sich die Fernsehleute plötzlich von "Zivilisten" umringt und in eine Schlägerei um die Kameras verwickelt, Augenzeugen beobachteten, daß die Bulgaren einem Reporter die Kamera entreißen konnten. Als ein gleichfalls am Ort filmendes Kamerateam des Norddeutschen Rundfunks den amerikanischen Kollegen zu Hilfe kommen wollte, drohte es gleichfalls in die Prügelei verwickelt zu werden und konnte sich soeben noch ins Pressezentrum retten.
Wie es einigen Studenten bei einem anderen Besuch der chinesischen Botschaft erging, berichtete ein Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" am 3.8.1968: "So wurden zum Beispiel zwei Studenten, Klaus Fritsche und Hans-Jochaim Maes, die beide dem Liberalen Studentenbund Deutschlands angehören, nach einem Informationsgespräch in der chinesischen Botschaft von zwei Zivilisten aufgefordert, ihnen zu folgen. Als die beiden Deutschen sich weigerten, wurden sie nach Angaben des LSD im Polizeigriff abgeführt. Auf der Polizeistation, wo sie einen Italiener trafen, der ebenfalls in der Botschaft gewesen war, wurde ihnen das Informationsmaterial, vor allem Schriften zur Diskussion über die 'Generallinie' und Mao-Plaketten, abgenommen. Nach einem Verhör wurde ihnen erklärt, sie könnten sich in Sofia überall informieren, ausgenommen in der chinesischen Botschaft. Falls sie es doch täten, würden sie ausgewiesen."
Frank von Auer, der Bundesvorsitzende des LSD, forderte darauf das IVK auf, sich vom Verhalten der Polizei zu distanzieren. Er trifft mit seiner Vermutung ins Schwarze, wenn er zwischen den bulgarischen Maßnahmen und der Haltung des IVK Zusammenhänge sieht und daraus beider Absichten folgert: "Sollte dem nicht stattgegeben werden, müssten wir heuer feststellen, daß nicht nur die umfassende Diskussion über die Generallinie, sondern schon die Informationen über diese Frage mit allen Mitteln der Bürokratie verhindert werden sollen." Der administrative Zorn auf die westdeutschen Störenfriede, die Sofias sorgsam geplante Festivalregie mit spontanen Aktionen aus dem Konzept brachten, richtete sich zwei Tage später speziell gegen K.D. Wolff. In ihm sahen die Veranstalter mit einem gewissen Recht den Initiator mancher Unruhen, obendrein pflegte er in einer ironischen Anrede sein Auditorium mit: "Liebe Freunde, Genossen und lieber anwesender Geheimdienst" zu begrüßen, womit er zwar die Lacher auf seiner Seite, die Bulgaren aber im Nerv getroffen hatte. Als er in einem Seminar über "Die Rolle der Persönlichkeit in der Gesellschaft" das Wort ergriff, um wieder einmal gegen die abgekartete Diskussionsregie mit abgesprochenen Rednern und Wortmeldungen zu protestieren, sahen die Veranstalter wohl eine Gelegenheit zur Abrechnung gekommen. Ein Bulgare ging zum Rednerpult und beschuldigte Wolff, Unwahrheiten über das Festival zu verbreiten, um der kapitalistischen Presse Munition gegen die sozialistischen Länder zu liefern. Und dann startete er einen bösen Vergleich mit Goebbels, indem er bemerkte: "Schon einmal, vor dreißig Jahren, hat ein Mann eine Lüge dreißig Mal gebracht und daraus die Wahrheit gemacht." Auf diese Provokation wollte Wolff verständlicherweise sofort antworten. Doch beim Gang nach vorn packten ihn die harten Fäuste der Geheimpolizei: geschlagen und getreten wurde Wolff aus dem Saal geschleppt.
Diese brutale Aktion löste einen starken Solidarismuseffekt im Auditorium aus. Jugoslawen, Tschechoslowaken, Delegierte aus der BRD, Großbritannien, Italien, Schweden, Dänemark, Belgien und den Niederlanden protestierten einhellig und verlangten die Entschuldigung der Bulgaren. Als diese ausblieb, verließen sie geschlossen die Veranstaltung. Die Tschechoslowaken gaben am Abend ein Flugblatt für Wolff heraus, und die Jugoslawen erwogen ihren Abreise. Sie blieben schließlich, ließen aber über Radio Belgrad folgende harte Kritik an den bulgarischen "Gastgebern" verbreiten: "Die Liste der Unkorrektheiten und der undemokratischen Haltung der Gastgeber wird von Tag zu Tag länger. Der gestrige Zwischenfall (3.8.1968) auf der Beratung über die Rolle der Persönlichkeiten in der Gesellschaft hat noch einmal bewiesen, daß den Gastgebern nicht sehr daran liegt, demokratisch und konstruktiv zu diskutieren. Als der Führer des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, Karl Wolff, die groben Beleidigungen ... zurückweisen wollte, ist er ... brutal verprügelt worden."
K.D. Wolffs Proteste gegen die Manipulationen hatten ihren guten Grund. Die feste Absicht, das Festival in die Bahnen der Orthodoxie zu zwingen, veranlaßte die Bulgaren zur Reglementierung aller Diskussionen. Das begann jeweils mit einer gezielten Kartenausgabe für die Seminare. Gruppen, aus deren Reihen Widerspruch zur offiziellen sowjetkommunistischen Parteinahme erwartet wurde, erhielten nur wenige Eintrittskarten. Schon am dritten Tag der Weltfestspiele, dem 30. Juli, beklagte der Delegationsleiter der Bundesjugendringgruppe, Klaus Flegel, auf einer abendlich angesetzten Pressekonferenz die einseitige Kontingentierung. Er nannte es einen "Witz", dass für die 220 Mann starke DBJR-Delegation jeweils nur 6 Karten zur Verfügung gestellt wurden. Offensichtlich sollte dem DBJR bei den vorprogrammierten Angriffen insbesondere der FDJ auf die Bundesrepublik die Gelegenheit zu Richtigstellungen und Gegendarstellungen genommen werden. Noch schlechter erging es bei der Kartenvergabe den Tschechoslowaken, deren Reformgedanken auf dem Festival einfach totgeschwiegen werden sollten. Durch die gezielte Kartenvergabe entstanden dann so absurde Situationen wie beim "Treffen der jungen Gläubigen"; wo die Diskussion zum Thema "Die Pflicht der jungen Gläubigen bei der Schaffung einer neuen gerechten Gesellschaft in der gegenwärtigen Welt" in einem nur halbgefüllten Raum begann, während sich vor dem Eingang zahlreiche Katholiken und Protestanten, unter ihnen auch Deutsche aus der BRD, drängten. Die bulgarischen Saalordner blieben stur bei ihrer Weisung, nur Karteninhaber einzulassen, bis sich die Ausgeschlossenen auf die Kampfmethoden der kritischen Linken besannen und kurzerhand ein Sit-in zur Durchsetzung ihrer Teilnahme veranstalteten, das auf das volle Verständnis des Tagungsleiters Martin Niemöller stieß. Als der ehemalige Kirchenpräsident mit der Niederlegung seiner Funktion drohte, gaben die Bulgaren schließlich nach.
Angesichts solcher Manipulationen des Festival-Establishments organisierten die Linken, so gut es ging, eigene Veranstaltungen in der Sofioter Universität – eine Art "Gegenfestival". Aber auch dabei mußten K.D. Wolff und andere feststellen, daß sie in Sofia nichts mehr ohne Kontrolle unternehmen konnten. Geheimpolizei, oft in jugendlicher Tarnung, und Komsomolzen waren immer dabei. Zeitweilig versuchten sie sogar, die offenen Diskussionen in ihrem Sinne umzufunktionieren. Manfred Rexin von den "Falken", Mitglied der DBJR-Delegation, berichtete in der Berliner Zeitung "Der Abend" vom 10.8. über einen besonders krassen Fall der Einmischung: "Ein Versuch sowjetischer Komsomolzen, bei einem solchen Teach-in kurzerhand die Führung an sich zu reißen, das Präsidium zu übernehmen und nach einer wohlvorbereiteten Rednerliste das Wort zu erteilen, scheiterte nach turbulenten Rangeleien. Was links, rechts oder zentristisch, was revolutionär und reformistisch sei, das werde, so sagte SDS-Vorsitzender Wolff mit schneidender Schärfe, nicht von den Sowjets, sondern von der Geschichte entschieden. Die Führer der KpdSU hätten sich da bekanntlich schon öfter geirrt... Kommunisten aus Bulgarien, Polen und der DDR vernahmen dergleichen voller Staunen. Jugoslawen, Rumänen und Tschechoslowaken nickten verständnisvoll."
Die DBRJ-Gruppe beim Festival
Im Gegensatz zur unabhängigen Linken spielte die Delegation des DBJR auf dem Sofia-Festival eine mehr passive und teilweise defensive Rolle. Ihre Zusammensetzung war zu heterogen, als daß ein geschlossenes politisches Auftreten möglich gewesen wäre. Vergleichsweise zu der in ideologischen Auseinandersetzungen und im Umgang mit der Polizei erfahrenen Gruppe um K.D. Wolff nahm sich die DBJR-Delegation zuweilen fast linkisch aus. Sie verursachte zwei Zwischenfälle, die bei besserer Voraussicht vermeidbar gewesen wären. Zunächst legte sie bei einer Pressekonferenz eine Broschüre mit dem Titel "Die junge Generation in der Bundesrepublik Deutschland" aus, in der es zur Nachkriegsentwicklung unter anderem heißt: "Die neugebildeten Jugendverbände fühlten sich in dieser gemeinsamen Abwehrstellung gegen jeden totalitären Machtanspruch verbunden und schlossen sich 1949 zum Deutschen Bundesjugendring zusammen, nach dem vergeblich unternommenen Versuch, einen gesamtdeutschen Jugendring zu bilden. Jenseits des Eisernen Vorhangs, im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands, hatte sich abermals eine Staatsjugend gebildet, diesmal unter kommunistischer Führung. Die FDJ (Freie Deutsche Jugend) erhielt, wie die Hitler-Jugend, das Staatsmonopol." Neben diesem Vergleich der FDJ mit der Hitler-Jugend nannte die Broschüre die DDR "Mitteldeutschland" und lobte die Bundeswehr als Garant für Freiheit und Demokratie.
Diese Broschürenaktion des DBJR war für die Ostblockjugend, insbesondere die FDJ, eine hochwillkommene Chance. Während sie gegen die kritische Linke politisch völlig versagte und ihre Ohnmacht in Prügeln ausdrückte, konnte sie jetzt überlegen ihr altes propagandistisches Repertoire abspielen. So wurde dieses eher beiläufige Ereignis zu einem großen Zwischenfall aufgebauscht. Die FDJ verfaßte eine "Erklärung", in der es u.a. hieß:
Es wird ein schwerwiegender Angriff auf die FDJ... geführt, indem behauptet wird, die FDJ habe den gleichen Charakter und Status wie die Hitler-Jugend des faschistischen Deutschlands. Es ist eine Unglaublichkeit, daß die antifaschistischen Jugendorganisationen des deutschen Staates, der den Nazismus mit der Wurzel ausgerottet hat und das Vermächtnis des antifaschistischen Widerstandskampfes verwirklicht, böswillig diskrediert wird...
...Wer im Bonner Revanchistenjargon die DDR 'Mitteldeutschland' nennt, gibt zu erkennen, dass er in Übereinstimmung mit den Revanchistenzielen des westdeutschen Militarismus Gebiete der Volksrepublik Polen und der UdSSR als 'Ostdeutschland' ansieht und Kurs auf die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 nimmt...
In dieser Veröffentlichung wird die westdeutsche Bundeswehr in Wort und Bild verherrlicht und als eine Schule der Freiheit und Demokratie hingestellt. Man vergegenwärtige sich: Eine Armee unter dem Kommando von Hitler-Generalen... aus der sich eingestandenermaßen ein erheblicher teil der Wähler der neonazistischen Partei in Westdeutschland rekrutiert – eine solche Armee wird der Jugend der Welt als Vorbild hingestellt..."
Die Diskussion um die Broschüre hatte ihren Höhepunkt nicht einmal erreicht, als die DBJR-Delegation in eine Falle tappte, die ihr mit dem überraschend eingesetzten "Tag gegen den Neonazismus in Westdeutschland" gestellt war. Die Hauptveranstaltung fand am 30. Juli in der Sofioter Radrennbahn statt. Hier waren Reden vorgesehen, die eine völlig überzogene Darstellung von der "Gefahr des Neonazismus in der BRD" erwarten ließen – so sollten u.a. der FDJ-Chef Günther Jahn und aus der Bundesrepublik ein Vertreter der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" sprechen; dem DBJR dagegen wurde kein Redner zugestanden, obwohl er sich sehr darum bemühte. Somit war von vornherein klar, dass die DBJR-Gruppe gegenüber den zu erwartenden undifferenzierten Angriffen gute Nerven brauchen würde. Gerade diese aber brachte die DBJR-Gruppe nicht mit ins Velodrom. Richtig war, dass DBJR-Geschäftsführer Weber und Manfred Rexin (Falken) an Ort und Stelle noch einmal das Wort für einen Redner aus ihren Reihen zur Gegendarstellung forderten – was abgewiesen wurde; falsch war es dann jedoch, aus der Radrennbahn protestierend auszuziehen, zum Unglück auch noch gerade, als die Mutter eines von Deutschen ermordeten jungen russischen Partisanen zu sprechen begann. Noch einmal konnte damit die Delegation des DBJR für die ihr von der FDJ zugedachte Rolle in Anspruch genommen werden, als Beweis für den in der Bundesrepublik angeblich grassierenden, neofaschistischen Bazillus zu dienen. Denn für die kommunistischen Propagandisten war es logisch: Wer eine Veranstaltung über die Gefahren des Neonazismus in der BRD verläßt, ist selbst faschistisch. So erklärte "Neues Deutschland" in schattierungsloser Schwarz-Weiß-Malerei am 1. August 1968: "Wenn jemand hier in Sofia gezweifelt hätte, ob auch schon westdeutsche Jugendliche vom Neonazismus angesteckt sein können – die Bundesjugendring-Provokation überzeugte sie."
Die DBJR-Delegation "rettete" also für die orthodoxen Kommunisten noch einen Rest alten Festivalstils mit der Konfrontation eines einig scheinenden kommunistischen Lagers gegen den "kapitalistisch-faschistischen" Westen. Später allerdings hatte der DBJR mit einer anderen Aktion großen Erfolg. Er verteilte die von Rexin verfaßte, im Velodrom verhinderte Rede und trug sie im Arbeitskreis Neonazismus vor. Dort erhielt sie größten Beifall, sogar von unvoreingenommenen Ostblockdelegierten.
Ansonsten aber stand das Sofia-Festival eindeutig im Zeichen der kritischen westdeutschen Linken als der aktivsten Kraft, der Tschechoslowaken und der Jugoslawen. Die im AKF versammelten linken Delegierten sprachen einhellig dem SDS die Rolle der wichtigsten Gruppe zu und nannten ihn "das eigentliche revolutionäre Element" des Festivals. Die französische Nachrichtenagentur AEP sah in ihm den "Hecht im Karpfenteich von Sofia", und der "Wiesbadener Kurier" vom 7. August führte u.a. aus: "... Man mag die rebellierenden Studenten, die aufsässigen Jugendlichen mit Recht für Utopisten und ein höchst unbequemes Element der Unordnung und Unruhe halten – sie bewiesen aber in Sofia Mut und trugen diese Unruhe in aufreizender Weise auch in die kommunistische Welt. Und man wird auch den 220 jungen Menschen, die als offizielle Gruppe des Bundesjugendringes nach Sofia reisten, das bescheinigen müssen: Sie haben über der Kritik an unserer Staats- und Gesellschaftsordnung nicht vergessen, dass sie Bürger dieses unseres Staates sind und dass auch unsere Demokratie keineswegs nur Schwächen hat ...".
Kritische Bilanz von Sofia
Welche unmittelbaren Konsequenzen ergaben sich aus dem Auftreten der kritischen Linken in Sofia? Zunächst muß die qualitative Veränderung des Festivalablaufs registriert werden. Der "Wiesbadener Kurier" stellte diesen Tatbestand am 7.8.1968 mit den Worten fest: "Das kommunistische Etablissement lernt das Fürchten. Die Veranstalter werden an den IX. Weltjugendfestspiele mit sehr gemischten Gefühlen zurückdenken. Die Teilnehmer waren nicht mehr gesonnen, nach roten Noten ein schönes Unisono weltweiter kommunistischer Eintracht und Brüderlichkeit zu singen. Aus der Hauptstadt Bulgariens, in der gestern dieses Festival zu Ende ging, drangen schrille Disharmonien herüber."
Auch der SPD-Pressedienst vom 7. August 1968 geht in seiner "Bilanz einer Begegnung zwischen Ost und West" auf dieses neue Phänomen ein: "Das Jugendfestival in Sofia hat seinen Veranstaltern keine Freude bereitet. Es sollte wieder einmal, wie schon so oft, eine machtvolle Demonstration der Freundschaft der Jugend in aller Welt sein. Früher war das meist geglückt, von einigen kleinen Pannen abgesehen. Man schwor sich in Massendemonstrationen ewige Freundschaft, ließ den Frieden hochleben und tanzte sich durch die Delegationen der Nationen hindurch, kannte aber nur einen Feind – den Kapitalismus und die Reaktion. Man hatte auch immer genügend 'Vertreter der westlichen Jugend' zur Hand, die eifrig beteuerten, bei ihnen zu Hause sei das Chaos, und der Militarismus sowie der Faschismus lauerten darauf, die in jeder Beziehung friedliche Sowjetunion oder das Sozialistische Lager überfallen zu können. Diesmal war alles anders. Die Delegationen aus dem 'Sozialistischen Lager' gerieten sich in die Haare, Linke und Rechte beschimpften sich, und sogar beim Tanzen kam es zu heftigen Diskussionen, ob es ein 'Reformist' mit einer 'fortschrittlichen' Delegierten die Runde drehen dürfe oder nicht."
Interessant sind auch die Kommentare von Beobachtern über die Wirkung von Aktionen der kritischen Linken auf die Jugend der orthodoxen Länder. So notierte Helmut Herles in der FAZ vom 8. August unter der Überschrift "Ansteckender Pluralismus auf dem Festival" in seinem Abschlußbericht aus Sofia: "Einige FDJ-Delegierte lächelten über die Vielfalt der westdeutschen Teilnehmer. Einige schauten überheblich von ihrem Monolith herab, doch kritische FDJ-Delegierte gaben privatim zu, daß dieser Pluralismus Stoff für Diskussionen im eigenen Lager sei. Diese Vielfalt in der westdeutschen Argumentation war in Sofia ein Politikum. Sie wirkte ansteckend. Die FDJ hatte demgegenüber nur Schwarzmalerei offiziell anzubieten." Die "Süddeutsche Zeitung" kommentierte am 6. August 1968: "Der Block der orthodoxen Kommunisten erhielt auch in Sofia neue, tiefe Sprünge", und "Die Zeit" schrieb: "Die Risse in der Einheitsfront nach Moskauer Muster waren noch nie so deutlich geworden wie bei dem Treffen der Jungen, die sich an taktische Rücksichten und Ratschläge ihrer Väter nicht mehr halten mochten."
Die folgende Bilanz zog Kai Hermann am 9. August in der "Zeit": "Das alles war zuviel für die organisierenden Sowjetorthodoxen, die in Erwartung einiger Schwierigkeiten alles so trefflich geplant hatten. Wo die stereotypen Deklarationen der Einheit im Kampf gegen Neonazismus, Neokolonialismus und Imperialismus nicht mehr verschlugen, ließen sie den Staatssicherheitsdienst und seine Hilfstruppen toben... Dreistigkeit der Polizei, eine Mischung aus Stalinismus und Balkanismus, war Ausdruck des ohnmächtigen Zorns, in den Sowjets und Sowejt-Anhänger während des Festivals gerieten. In der politischen Friedhofsstille Bulgariens klang der starke Chor, der nach offener Diskussion rief, besonders schrill. Der respektlose Ungehorsam der Studenten schockte das bravste der kommunistisch regierten Länder besonders heftig." Auch Tschechoslowaken und Jugoslawen meldeten furchtlos ihre Kritik an der offiziellen Gängelung der Festspiele an. Die jugoslawische Nachrichtenagentur Tanjug berichtete schon am 5. August von einer "Protesterklärung der jugoslawischen Delegation", in der alle Übelstände nacheinander aufgereiht waren: "Undemokratische Atmosphäre – prozedurale Manipulationen, kalkulierte Verbreitung falscher Informationen – übertriebene Sicherheitsmaßnahmen und im voraus gesicherter dominierender Einfluß bestimmter Organisationen." In der Erklärung heißt es wörtlich: "Wir sind mit der Überzeugung hierhergekommen, daß die 9. Festspiele die ganze Fülle und Verschiedenartigkeiten der Ideen und Formen, die die junge Generation zusammen mit anderen fortschrittlichen Kräften im Kampf um die Realisierung der Ideale von Freundschaft zwischen den Völkern, Freiheit, Frieden und Fortschritt anwendet, zum Ausdruck bringen würden. Dem Vorsitzenden des jugoslawischen Jugendverbandes, Janez Kocijancic, wurde es unmöglich gemacht, auf der Hauptkundgebung der Festspiele das Wort zu ergreifen."
Die Bilanz von Sofia
Von der Vielfalt sozialistischer Kritik am Sowjetkommunismus, von Zwischenfällen und Protesten war in der Berichterstattung des Ostblocks und insbesondere der DDR nur am Rande die Rede; dabei wurden die Tatsachen auf den Kopf gestellt! Bezeichnend dafür ist die absurde Unterstellung einer Zusammenarbeit der kritischen Linken mit der bürgerlichen Presse, die "Neues Deutschland" und das FDJ-Organ "Junge Welt" am 31. Juli verbreiteten. Im SED-Zentralorgan hieß es dazu: "Es gibt aber auch einige sich wild gebärdende Gruppen, die mit ihren sogenannten Soldaritätsaktionen die Einheit des Festivals zu untergraben suchen. Dazu zählt eine kleine extreme Gruppe um den Vorsitzenden des westdeutschen SDS, Karl-Dietrich Wolff, der der reaktionären Presse mit seinem unverschämten Auftreten Gelegenheit gibt, Schauermärchen über das Festival zu verbreiten ... Wolff und andere sich als echte Revolitionäre gebärdende Kräfte treten in Westdeutschland gegen den Springer-Konzern auf. Hier in Sofia liefern sie Springer Munition für dessen Hetztiraden gegen die Jugend der Welt, die sich mit Vietnam solidarisiert. Das erweckt den Anschein, daß solche Aktionen von langer Hand vorbereitet sind."
Polemischer noch wird die "Junge Welt", der man die Ratlosigkeit angesichts eines der FDJ unbekannten Aufbegehrens gegen das Etablissement deutlich anmerkt. Für die kommunistische Staatsjugend können spontane Aktionen mangels eigener Spontaneität immer nur von oben und von langer Hand gesteuerte Provokationen sein. So erklärte sich das FDJ-Organ die Vorkommnisse: "Bestätigung ... war die Tatsache, daß sich in unmittelbarer Nähe der Aktion des SDS-Vorstandes auffallend viele Berichterstatter kapitalistischer Publikationsorgane, besonders aus Westdeutschland aufhielten, die offenbar ermuntert worden waren, mit den Extremisten Hand in Hand zu arbeiten. Das läßt vermuten, daß diese Kreise gerade der Presse, die den SDS ständig verleumdet und seine echten kämpferischen Aktionen im Bonner Staat und in West-Berlin zügellos beschimpfen, Sensationen liefern wollten, Munition, die zur Diffamierung des Festivals und des Gastgeberlandes Bulgarien abgeschossen werden soll."
Sachlich ebenso falsch und allein vom Wunsch diktiert, es möchte so sein, ist die Berichterstattung der Ost-Publikationen über die Auswirkungen der linken Aktivitäten. Das FDJ-Organ "Junge Welt" behauptet: "Es ist nur zu verständlich, daß ... die Aktion des SDS-Vorstandes keine Resonanz bei den anderen Festivaldelegationen und bei den Einwohnern der bulgarischen Hauptstadt fand. Ihre Sympathie und begeisterte Zustimmung erhielten die Mädchen und Jungen – unter ihnen viele FDJler - , die sich an gleicher Stelle versammelt hatten. Von ihnen war bekannt, daß sie nicht mit ultralinken Phrasen und provokatorischem Auftreten, sondern mit Taten Vietnams Kampf eine wirkliche und wirksame Unterstützung geben. Die Provokation des SDS-Vorstandes gegen das Festival und gegen das Gastgeberland stieß auf einhellige Ablehnung in der Öffentlichkeit."
"Neues Deutschland" verbreitete ebenfalls die Falschmeldung: "Wolff findet aber in Sofia nur sehr geringen Anhang", um ähnlich wie das FDJ-Organ "um so größere Herzlichkeit" für die eigene FDJ zu entdecken. Selbst an die sonst so diskriminierten Tschechoslowaken drängt sich die FDJ beinahe werbend. Die DDR-Nachrichtenagentur ADN meldete am 1. August von einem "Freundschaftstreffen" zwischen den Delegationen und betonte "die harmonische Begegnung", die "freundschaftlichen Gespräche" und den "gemeinsamen Tanz".
Die Abschlußberichte im Ostblock verschweigen die Zwischenfälle schließlich vollends. Mit der gequälten Euphorie eines befohlenen Jubels, der die Vorkommnisse gewaltsam zudecken soll, berichtete ADN von einem Festival, das es in Sofia tatsächlich nicht gegeben hat. Als wäre alles unverändert wie in den Jahren zuvor gewesen, ist nur von "Einheit und Geschlossenheit im Kampf gegen Imperialismus und Krieg" (ADN 7.8.1968) die Rede. Sodann heißt es in der Meldung: "Noch einmal erlebte Sofia wahre Begeisterungsstürme, als die Abgesandten der demokratischen Weltjugend Arm in Arm, gleich einer großen bunten Völkerfamilie in das Stadion zogen. Auf dieser ... festlichen Abschlußveranstaltung ... verabschiedeten sich die Festivalteilnehmer in der Gewißheit, neue Kraft und neuen Optimismus geschöpft zu haben."
Auch der Erste Sekretär des ZK der bulgarischen KP und Vorsitzende des Ministerrates der Volksrepublik Bulgarien, Todor Schiwkoff, streifte und verfälschte dabei in einer Rede am 8. August die Aktionen und Wirkungen der Linken, um die Behauptung eines Jubelfestivals alten Stils aufzustellen: "Unfähig, auch dieses Mal wieder ihre Taktik der Boykottierung der Festspiele anzuwenden, hat die internationale Reaktion versucht, sich die außerordentlich große Unterschiedlichkeit der Teilnehmer zunutze zu machen und nicht nur die IX. Festspiele zu untergraben, sondern auch den Festspielgedanken allgemein in Mißkredit zu bringen und die Weltjugendbewegung in ihrem Innern zu treffen, nämlich den Glauben der Jugend an ihre Möglichkeiten, ihre eigene gemeinsame Front gegenüber ihren Feinden zu errichten, ins Wanken zu bringen. Die IX. Weltfestspiele der Jugend und Studenten haben die Pläne in der internationalen Reaktion mit einem Donnerschlag zunichte gemacht. Die ungeheuren Kredite, die zur Verbreitung gemeiner Verleumdungen und Beschimpfungen sowie für die Ausbildung ideologischer und aktiv tätiger Provokateure zur Verfügung gestellt wurden, haben nichts genützt. Von seiner grandiosen Eröffnung bis zu seinem großartigen Abschluß ist das Festival von Sofia ein Fest der Freundschaft unter der Jugend der ganzen Welt, eine mächtige Unterstützung des heroischen vietnamesischen Volkes gegenüber den amerikanischen Aggressoren, ein Eid der Kampfsolidarität mit den für ihre Freiheit und Unabhängigkeit, für Frieden und soziale Gerechtigkeit, gegen Versklavung und Ausbeutung, gegen internationales Banditentum kämpfenden Völkern gewesen. Nicht Begeisterung, sondern Furcht vor dem nächsten Tag hat all die finsteren Kräfte, die 'das Scheitern' der IX. Festspiele wünschten, organisierten und finanzierten, nach Sofia geführt, denn es besteht kein Zweifel, daß die Jugendlichen, die an den Festspielen teilnahmen, das Klima der Sofioter Festspiele in ihre Heimatländer bringen werden. Ihr Appell für Solidarität, Frieden und Freundschaft wird dazu führen, daß sich Millionen neuer Kämpfer erheben, und der Kampf der Völker wird in eine neue und entschlossenere Phase eintreten.