Herr Subotić, was heißt für Sie Integration?
Integration heißt für mich, einen Beitrag in einer pluralistischen Gesellschaft zu leisten und dabei gleichzeitig seiner eigenen Kultur treu zu bleiben. Das steht nicht im Widerspruch zueinander. Es ist möglich und auch oft zu beobachten. Das Ziel muss sein, sich selbst als Teil der Gesellschaft zu sehen, durch Arbeit, Sprache, Gebräuche und Traditionen – gleichzeitig aber auch im Einklang zu bleiben mit der Kultur, in der man selbst aufgewachsen ist. Besonders in der heutigen Zeit ist es ja so, dass viele Menschen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Kulturen in einem Land zusammenkommen, das bereits von verschiedenen Kulturen geprägt wurde. Die Vereinigten Staaten gelten allgemein als Sinnbild für so ein Land, zu dem viele Kulturen beigetragen haben.
Ist so etwas auch in Deutschland möglich?
Ich denke schon, dass das möglich ist. Viele Medien leben zwar meist von der Schwarz-Weiß-Malerei, weshalb man nicht immer das Gefühl hat, dass das Zusammenleben richtig funktioniert. Aber an anderen Beispielen, die nicht auf die Titelseiten kommen, sieht man, dass es klappen kann. Es sind meistens die gleichen Geschichten: Irgendeiner sagt sich: "Hey, ich fahre jetzt schon zum 40. Mal an der Flüchtlingsunterkunft vorbei, und ich möchte zeigen, dass Deutschland ein offenes Land ist." Dann entscheidet er sich, Verantwortung zu übernehmen und fängt an, sich mit den Leuten vor Ort auszutauschen. Dieses Angebot zum Austausch ist der erste Schritt, und er ist sehr wichtig.
Hat bei Ihnen dieser Austausch besser geklappt, weil Sie auf dem Land aufgewachsen sind?
Ja, aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es in besonders kleinen Gemeinden, in denen man zwangsläufig miteinander Kontakt hat und die geflüchteten Menschen nicht abseits des Geschehens leben, einfacher ist. In Dortmund sind die Unterkünfte zum Beispiel oft nicht an zentralen Orten. Wenn die Unterkünfte weit weg sind, ist es schwieriger, einen Zugang zu anderen Menschen oder zum Arbeitsmarkt zu finden. Da gibt es zu viele Hindernisse auf staatlicher und institutioneller Ebene. Es scheint immer noch kein konkretes Ziel zu geben, sonst könnte man die Maßnahmen zur besseren Integration ja auch anpassen. Ich glaube, da kämpft man noch immer um die Frage, wie viele Menschen hier überhaupt bleiben können und wie viele abgeschoben werden sollen.
Bei mir ist es glücklicherweise anders gelaufen: Wir lebten in einem Dorf mit 4000 Einwohnern. Es gab drei Kindergärten, die nicht nach der Einkommensstärke der Eltern ausgerichtet waren, sondern nach Wohnort zugeteilt wurden. Im Dorf gab es keine wirklich ärmeren, abgegrenzten Viertel. Somit hatte ich im ersten Schritt schon die Möglichkeit, mich zu integrieren und Freundschaften zu schließen. Die Leute wurden außerdem nicht geografisch getrennt, sondern hatten im Alltag miteinander Kontakt. Wir haben damals dort eingekauft, wo eben auch alle anderen eingekauft haben. Bei den Dorffesten war es dann auch so, dass wir herzlich willkommen waren. Wir konnten Freundschaften schließen.
Was meine Eltern immer noch betonen, ist die Offenheit der Leute. Das war sehr, sehr hilfreich für uns. Auf den ersten Blick scheint es nichts Bedeutendes zu sein, wenn man sich alle paar Monate mal trifft, doch meine Eltern sprechen noch 20 Jahre später darüber. Für die Familie war gerade dieser Austausch besonders wichtig – einerseits zu erfahren, wer die Leute sind, andererseits zu sehen, wie die Leute leben, was "normal" ist. Dadurch konnten sie die deutsche Kultur kennenlernen, und gleichzeitig konnten die anderen Familien auch unsere Kultur kennenlernen. Wir wurden respektiert und haben auch Respekt gezeigt. Dieser persönliche Austausch mit den Leuten, die hier geboren sind oder schon lange hier gelebt haben, war der Schlüssel. Man konnte sich alltägliche Tipps abholen, aber sich auch über Arbeitnehmerrechte erkundigen oder fragen, wo es zusätzliche Arbeit geben könnte.
Wie kann der Staat helfen, dass Integration gelingt?
Ich denke, momentan dreht sich sehr viel darum, Flüchtlingsströme zu begrenzen. Ob dies das richtige Ziel ist, weiß ich nicht. Ich finde es sehr schade, da es um die Menschenwürde geht und diese gewährleistet werden muss. Deswegen ist es wichtig, dass auch die Zivilgesellschaft Verantwortung übernimmt, weil gerade erst dann die einzelnen Kommunen folgen können – was ja auch letztlich bei meiner Familie der Schlüssel zum Erfolg war. Man braucht auch nicht die ganze Kommune, die einen unterstützt. Es reicht ja schon, wenn zwei bis drei Freundschaften als Bindeglied zur Gesellschaft dienen können. Man freundet sich mit einer Familie an, und wenn diese mal noch eine andere einlädt, hat man schon die zweite Familie zum Austausch und damit bereits viel Potenzial, um sich zu integrieren. Deshalb sehe ich die Verantwortung beim Einzelnen und auf einer dezentralen Ebene. Ich denke, diese Ebene ist für erfolgreiche Integration das A und O.
Welche Rolle hat Fußball bei Ihrer Integration gespielt?
Da muss ich den Sportverein meines Vaters betonen. Mein Vater war Fußballer in Bosnien, musste den Sport aber aufgeben, um in Deutschland auf dem Bau zu arbeiten. Doch am Wochenende hat er für die Vereine in unserem Dorf gespielt und war total überqualifiziert. Ich übertreibe mal, aber es war so, als würde Anthony Modeste jetzt in der Kreisliga spielen. Die Reaktion des Sportvereins war: "Super, du hilfst uns – dann helfen wir dir!" Da gibt es viele Möglichkeiten zueinanderzufinden, und das ist bei uns auch gut gelungen. Ich denke, dass das Vereinsleben allgemein ein sehr wichtiges Element bei der Integration sein kann. Die Leute können durch das Vereinswesen Teil der Gemeinschaft werden. Ich bin begeistert von manchen Beispielen, die es gibt.
Weniger begeistert bin ich von diesen Programmen, zu denen man hingeht, zwei Tage oder eine Woche mitmacht, und dann war es das. Das ist nur Show. Ich finde es wichtig, dass die Teilnahme langfristig ist und man immer wieder die Gelegenheit bekommt, mitzumachen. Diese Möglichkeiten müssen nicht nur im Sport geboten werden, sondern auch in anderen kulturellen Bereichen, wie Kunst, Gesang, Tanz etc. All diese Tätigkeiten beruhen auf einer internationalen Sprache, die altersunabhängig ist.
Für Ihre Eltern war die Situation besonders, weil die Abschiebung drohte. Haben Sie damals vom Aufenthaltsstatus ihrer Familie gewusst und die Sorgen mitbekommen?
Mit meinen damals sieben Jahren habe ich das natürlich nicht verstanden. Unsere Eltern hätten uns das auch erklären können, aber sie haben uns von allem ferngehalten, was mit dem Krieg zu tun hatte. Wir wussten zwar davon, aber über die Gründe des Konflikts haben wir nicht gesprochen. Das war auch gut so. Mein damaliger bester Freund war zum Beispiel Bosnier. Es war schwer für beide, für Bosnier und Serben, sich selbst und seinen Leuten treu zu bleiben. Da gab es natürlich Berührungsängste, die von den Kindern ferngehalten werden sollten. Für uns Kinder war wichtig, dass wir uns irgendwie verstehen und gemeinsame Hobbies haben. Deshalb bin ich auch überzeugt, dass meine Eltern das Richtige gemacht haben. Es gab Freundschaften, die sonst nicht zustande gekommen wären.
Trotz gelungener Integration ist Ihre Familie 1999 in die USA ausgewandert. Wie kam es dazu, und wie war es, dort anzukommen?
In Deutschland wurde die Duldung nicht mehr verlängert. Entweder wären wir abgeschoben worden oder hätten woanders hingehen müssen. Es gab damals die Möglichkeit, sich bei der amerikanischen Botschaft für ein Programm zu bewerben. Man konnte dabei nicht nur die Green Card, sondern auch die amerikanische Staatsbürgerschaft erlangen.
In den USA lief es dann anders als in Deutschland: Wir lebten nicht in einer kleinen Gemeinde, sondern in einer Stadt, in der wir anfangs in einem eher gefährlicheren Viertel wohnten. Wir waren Teil eines Programms von einer Nichtregierungsorganisation. Man hat uns die Wohnung gestellt, bei Behördengängen geholfen, Sprachkurse angeboten und meinen Eltern Jobs organisiert. Bei der Ankunft sind wir vom Flughafen zu einer Wohnung gefahren worden, in der bereits alle Möbel standen. Somit war der Einstieg ins Leben recht einfach. Wenn man das mit der heutigen Situation der Flüchtlinge hier vergleicht, ist das ein Unterschied wie Tag und Nacht. Viele dürfen gar nicht arbeiten, was komplett kontraproduktiv ist. Man spricht von Integration, aber hält sie von den Arbeitsplätzen fern.
Wie war der Kontakt zu den Menschen in den USA?
Auch wenn es ein schwieriges Viertel in einer Großstadt war, trafen wir wieder auf viele offene Menschen, vor allem beim Sport. Wir waren eine sehr sportzentrierte Familie. Da mein Vater seinen Traum, Profisportler zu werden, aufgegeben hatte, sollten meine Schwester und ich Sport machen, was uns aber auch gefallen hat. So haben wir einen Einstieg gefunden, der über das Viertel hinausging. Wir haben neue Freundschaften geschlossen mit Leuten, die Interesse an anderen Kulturen hatten, und auch wir wollten die amerikanische Kultur kennenlernen. In Salt Lake City war es die mormonische Kultur. Wir wussten zu dem Zeitpunkt noch nicht, was das überhaupt sein soll. Dann haben wir uns mit einer Familie angefreundet, was für uns auch wieder enorm wichtig war. Die intensiven Sprachkurse und die Jobgarantie haben uns den Einstieg in die Gesellschaft erleichtert. Auf der Arbeit merkt man dann, wofür man die Sprache überhaupt lernt. Wenn man aber die Sprache praktisch gar nicht sprechen muss, ist die Motivation viel geringer.
Sie wurden beim Fußballspielen in einem Park in Florida von einem Trainer "entdeckt". Was wäre passiert, wenn Sie an dem Tag nicht dort gespielt hätten?
Irgendetwas hätte ich schon gemacht. Meine Schwester hat ein wunderbares Studium abgeschlossen, das hätte ich auch geschafft. Darüber mache ich mir eigentlich gar keine Gedanken.
Wir waren für unsere Situation sehr privilegiert. Wir haben aber als Familie auch verstanden, dass es Drecksjobs gibt: Zum Beispiel haben wir alle gemeinsam Häuser und Wohnungen geputzt, denn irgendwo musste das Geld ja herkommen. Meine Eltern haben Toiletten geputzt, damit wir Kinder zu einer bestimmten Schule gehen konnten. Dadurch habe ich gelernt, schwierige Situationen nicht einfach hinzunehmen, sondern etwas an ihnen zu ändern und sich im Leben durchzusetzen. Diese Einstellung habe ich verinnerlicht. Wenn man die Sprache spricht, soziale Kontakte knüpft und etwas Geld hat, dann kann man es auch schaffen. Ich glaube, wenn diese Fundamente fehlen, dann ist es extrem schwer, und deshalb bemühe ich mich, anderen Zugewanderten die Chance zu geben, hier anzukommen. Ich sehe mich dabei selbst in der Pflicht und der Verantwortung, wobei es natürlich auch einfach Spaß macht, junge Menschen auf ihrem Weg zu begleiten.
Ist es für Sie aufgrund Ihrer Prominenz eventuell einfacher, zu helfen? Wie kann man als Nicht-Prominenter Zugewanderten bei der Integration helfen?
Eigentlich kann jeder helfen. Ich denke, jeder kann einen Haushaltsplan erstellen oder Flüchtlinge bei Behördengängen begleiten. Es soll ja auch nicht darum gehen, den Leuten immer irgendetwas beizubringen, sondern einfach auch mal zu sagen: "Ich erzähle dir, wer ich bin, und dann erzählst du mir, wer du bist." Es ist ein wichtiges Fundament, das jeder bauen kann. Was die Menschen nämlich wollen, ist ein normales Leben, so wie jeder andere Mensch auch. Dieses normale Leben kann man darüber erreichen, dass man verschiedene soziale Kontakte knüpft und wertgeschätzt wird. Die Wertschätzung erfährt man auch darüber, dass man in einer prekären Situation Mitgefühl und Empathie bekommt.
Das Interview führten Lorenz Abu Ayyash und Johannes Piepenbrink am 10. Mai 2017 in Köln.