Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik sind zentral für die politische Debatte – ganz besonders in Wahlkampfzeiten. Das hängt wesentlich mit der Schlüsselfunktion von Arbeit für die moderne Gesellschaft zusammen, da "Einkommens-, Teilhabe- und Lebenschancen direkt oder durch Vermittlung privater und öffentlicher Haushalte an die Erwerbsarbeit gekoppelt sind".
Die staatlichen Maßnahmen folgen dabei ganz unterschiedlichen Leitvorstellungen und Funktionszusammenhängen: Einerseits können sie als soziale Grundrechte oder Bürgerrechte konzipiert werden, woraus sich dann ein Recht auf Arbeit oder zumindest auf eine monetäre Kompensation, die ein menschenwürdiges Leben erlaubt, ableiten lässt. Andererseits gibt es auch eine ökonomische (keynesianische) Begründung für ein Eingreifen des Staates, das dann vor allem der Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung dient und in der Krise nachfragestimulierend wirkt, eben durch das Arbeitslosengeld und den privaten Konsum. Im Hinblick auf Parteien und Wahlen ist in diesem Zusammenhang lange von einer politischen Wahloption ausgegangen worden, in der die sozialdemokratischen Parteien eher für die Bewältigung von Arbeitslosigkeit stehen, während die bürgerlichen Parteien eher die Geldwertstabilität präferieren, was den Interessen großer Teile ihrer jeweiligen Wählerschaft entspricht. Dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) wird der Satz zugeschrieben, dass ihm fünf Prozent Inflation lieber wären als fünf Prozent Arbeitslosigkeit. Mittlerweile ist dieser ökonomische trade-off ebenso umstritten wie die parteipolitischen Positionen und Zuordnungen.
Die aktuellen Diskussionen entzünden sich freilich weniger am Ausmaß der Arbeitslosigkeit, da hierzulande die Zahlen recht niedrig sind, sondern eher an den konkreten Maßnahmen und Reformen seit der Jahrtausendwende, deren Wirkung und Legitimität umstritten sind. Das gilt besonders für die sogenannten Hartz-Reformen. Dabei steht die Höhe und die Dauer von Leistungen – und damit indirekt der Zwang zu Arbeit – im Mittelpunkt. Freilich steckt hinter diesen häufig normativ geführten Debatten ein ökonomisches Dilemma: Auf der einen Seite ist der Druck, schnell wieder in (irgendeine) Arbeit zurückzukehren, insofern richtig, weil mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit die Chancen auf einen Wiedereinstieg erheblich sinken.
Als Arbeitsmarktpolitik werden – so eine gängige Definition – diejenigen politischen Interventionen und Regulierungen bezeichnet, die den Austausch von Angebot und Nachfrage an Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt stimulieren sollen. Dabei wird üblicherweise zwischen passiver und aktiver Arbeitsmarktpolitik unterschieden.
Geschichte der Arbeitsmarktpolitik: Von Weimar bis heute
Das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927 bildet den Grundstein der Arbeitsförderung in Deutschland. Damit wurde auf die dramatischen Erfahrungen aus der Massenarbeitslosigkeit infolge des Ersten Weltkriegs, der Novemberrevolution und der Hyperinflation reagiert und Arbeitslosigkeit als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und entsprechend kollektiv zu bewältigendes Risiko wahrgenommen. Die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung bildete einen weiteren Zweig der Sozialversicherungen, finanzierte sich vor allem über Beiträge und war eine selbstverwaltete Körperschaft, also mit Beteiligung von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Sie war also weder – wie in anderen Ländern – eine rein staatliche, steuerfinanzierte Behörde mit Ansprüchen aller Bürger noch eine gewerkschaftliche Selbsthilfeeinrichtung.
Nach der Wiederaufbauphase und dem Wirtschaftsboom verschlechterte sich die Entwicklung. Zu Beginn der 1950er Jahre waren über zwei Millionen Menschen arbeitslos – was einer Quote von rund zwölf Prozent entspricht. Der Aufbau der Bundesanstalt für Arbeit (ab 1952) knüpfte an die Instrumente und Institutionen der Weimarer Republik an. Mit dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969 kam es nach weiteren Wachstumseinbrüchen zu einer Ausweitung, die für die Folgezeit das Instrumentarium der Arbeitsmarktpolitik beziehungsweise Arbeitsförderung prägt. Neben der generellen Reformstimmung dieser Jahre trat eine keynesianische Komponente in der Begründung der Arbeitsmarktpolitik hinzu, wonach durch die (passiven) Lohnersatzleistungen eine Nachfragestabilisierung erfolgte. Zugleich gewannen Qualifizierungsmaßnahmen an Bedeutung, um den sich abzeichnenden Herausforderungen Rechnung zu tragen. Allerdings zeigten die "ökonomischen Veränderungen der 1970er Jahre (…) der Arbeitsmarktpolitik bald ihre Grenzen auf. Die Hoffnung, Vollbeschäftigung durch staatliches Handeln herstellen und sichern zu können, blieb letztlich eine Illusion".
Ein weiterer großer Einschnitt in die Arbeitsmarktpolitik war nach 1989 die Herstellung der Deutschen Einheit; hier wurde durch den schnellen "Institutionentransfer"
Mit der ersten rot-grünen Koalition wurde ab 1998 mit dem JobAktiv-Gesetz
Hartz I und II (2003): In den Agenturen für Arbeit wurden Personal-Service-Agenturen eingerichtet, viele Auflagen der Leiharbeit gestrichen und neue Instrumente eingeführt: etwa Mini- und Midi-Jobs, das heißt geringfügige Beschäftigung ohne oder mit verringerten Sozialversicherungsbeiträgen und "Ich-AGs", also eine finanzielle Unterstützung für Arbeitslose, die sich selbstständig machen wollen.
Hartz III (2004): Die Bundesanstalt wurde zur Bundesagentur für Arbeit mit einer dreigliedrigen Struktur aus Zentrale, Regionaldirektionen und örtlichen Agenturen sowie Jobcentern. Fallmanager sollen sich intensiver um die Langzeitarbeitslosen kümmern.
Hartz IV (2005): Die bisher getrennte Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden zum neuen Arbeitslosengeld II zusammengelegt. Anstelle der Kommunen wurden die Arbeitsagenturen und damit der Bund zuständig. Das Hartz IV genannte Arbeitslosengeld II greift nach einem Jahr; der Regelsatz ist deutlich niedriger als das lohnbezogene Arbeitslosengeld I. Um den Übergang in Arbeit zu flexibilisieren, können Hartz-IV-Empfänger ihren Regelsatz um einen Euro Arbeitslohn pro Stunde aufstocken.
Vor allem die als "Hartz IV" bekannt gewordenen Maßnahmen haben zu öffentlichen Diskussionen und Widerstand der Betroffenen geführt. Besonders kritisiert werden der drohende Verlust des Lebensstandards bei längerer Arbeitslosigkeit durch das neue, nicht mehr lohnbezogene Arbeitslosengeld II sowie der Mangel an Fördern im Verhältnis zum durchgesetzten Fordern. Nicht wenige Probleme bei der Umsetzung resultierten daraus, dass sowohl Ziele und Instrumente als auch Organisation und Kompetenzverteilung (Agentur statt Anstalt, Ende der kommunalen Zuständigkeit, neue Jobcenter) gleichzeitig geändert wurden. Zudem wurde die Reform nicht gut kommuniziert: Positive Elemente wie die Öffnung der arbeitsmarkpolitischen Maßnahmen und Leistungen für bislang nicht versicherte, aber arbeitsfähige und arbeitsuchende Menschen wie Schüler und Studierende nach ihrem Abschluss oder aber die finanzielle Entlastung der Kommunen wurden kaum wahrgenommen. Zu erwähnen ist ferner die bemerkenswert starke Evidenzbasierung der Arbeitsmarktpolitik in dieser Phase; damit verband sich eine Evaluation von Programmen und Maßnahmen aus mikroökomischen und psychologischen Perspektiven. Viele Instrumente wurden dabei als relativ unwirksam beschrieben, der Reformdruck also wissenschaftlich untermauert.
Mit dem Regierungsantritt von Angela Merkel 2005 kehrte eine gewisse Ruhe in die Arbeitsmarktpolitik ein. Diverse Maßnahmen und Instrumente aus der Reformphase wurden evaluiert und nachgesteuert. Im Zuge der Wirtschaftskrise nach 2008 betrieb die Regierung eine quasi keynesianische Beschäftigungspolitik: Durch Maßnahmen wie zwei Konjunkturpakete, kürzere Arbeitszeiten, die Einführung von Kurzarbeit und den Aufbau von positiven Arbeitszeitkonten kam es zu einer Erholung und seit 2010 sogar zu Arbeitsplatzrekorden, was bis heute anhält.
Drei wichtige Neuerungen in der Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahre sind noch zu erwähnen. Sie betreffen zum einen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beziehungsweise die Unterstützung von Frauen am Arbeitsmarkt (etwa Änderungen des Teilzeit- und Mutterschutzrechts) sowie die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von brutto 8,50 Euro pro Stunde (zum 1. Januar 2015). Dies betrifft knapp vier Millionen Menschen in Deutschland und gilt als Versuch, Prekariat und working poor
Historisch gewachsene Eigenheiten des deutschen Systems
Auch das "geschichtliche So-und-nicht-anders-Gewordensein" (Max Weber) beeinflusst die aktuelle Arbeitsmarktpolitik und sorgt für einige deutsche Eigenheiten der Arbeitsmarktpolitik. Denn zum einen weist diese eine bemerkenswerte Kontinuität auf (nach dem Motto history matters), und zum anderen macht die spezifische Architektur des Systems einen Unterschied (institutions matter).
So sorgt sowohl der Entstehungshintergrund der deutschen Arbeitslosenversicherung wie auch ihr System der Transferzahlungen dafür, dass aktivierende oder makroökonomische Maßnahmen nicht besonders attraktiv und politische Handlungen stattdessen monetär oder kausal geprägt sind. Der Finanzierungsmodus, wonach sowohl die passive als auch die aktive Arbeitsmarktpolitik vor allem aus Pflichtbeiträgen der Beschäftigten und der Arbeitgeber aufgebracht werden, unterstützt diesen Bias zugunsten der Lohnersatzleistungen in schwierigen konjunkturellen Situationen beziehungsweise bei hoher Arbeitslosigkeit, da dann die passiven Ausgaben steigen, während die Einnahmen sinken, was den Handlungsspielraum für aktive Arbeitsmarktpolitik einschränkt.
Das entspricht zugleich den Interessen der beteiligten Akteure: "Letztlich betrachten alle großen politischen Kräfte, die Sozialdemokraten, die Gewerkschaften sowieso, aber auch die Christdemokraten und selbst die Arbeitgeberverbände, die Einschränkung der aktiven Arbeitsmarktpolitik als das kleinere Übel, das einer Kürzung der Lohnersatzleistungen oder einer Beitragserhöhung allemal vorzuziehen sei. Wenn es hart auf hart kommt, so wird der Besitzstand der Arbeitslosenversicherung geschützt, während man den ‚Luxus‘ einer aktiven Arbeitsmarktpolitik in der Krise gerne über Bord wirft."
Ferner ist das System durch den Sozialversicherungskontext stark verrechtlicht und bürokratisiert, was durch die schiere Größe – die BA hat knapp 100000 Mitarbeiter – verstärkt wird. So hat zum Beispiel das Instrument der Jobrotation,
Internationaler Vergleich
Das wird umso deutlicher, wenn man sich in den internationalen Vergleich begibt. So existieren nach Gøsta Esping-Andersen "drei Welten" des Wohlfahrtsstaates (die liberale, konservative und sozialdemokratische), die unterschiedliche Formen und Ausmaße von sozialer Sicherung und Vollbeschäftigung annehmen.
Der konservative Wohlfahrtsstaat interveniert zwar stärker, allerdings eher temporär und vielfach aus staatspolitischen Gründen. Er ist ferner lohnarbeits- und sozialversicherungszentriert mit der Folge, dass soziale Rechte stark an den Erwerbsstatus und an ein Normalarbeitsverhältnis gebunden sind. Er korreliert mit dem Male-breadwinner-Modell (lange niedrige Frauenerwerbsquote; Hausfrauen mitversichert und steuerlich begünstigt). Das Maß an Dekommodifizierung und Ungleichheit ist im mittleren Bereich und Sicherheit das Leitbild der Sozialpolitik.
Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat ist universalistisch ausgerichtet: Ansprüche basieren auf sozialen Bürgerrechten; es wird Gleichheit auf hohem Niveau angestrebt. Ferner sind hier die Bemühungen um eine Vollbeschäftigung am intensivsten und es wird eine relativ aktive Arbeitsmarktpolitik verfolgt. Damit ist das Maß an Dekommodifizierung relativ hoch. Die Finanzierung erfolgt weitgehend aus dem Staatshaushalt beziehungsweise über Steuern; zugleich nimmt der öffentliche Dienst einen sehr großen Umfang an und hat somit nicht nur sozialpolitisch, sondern auch arbeitsmarktpolitisch eine Schlüsselfunktion (als Arbeitgeber-Staat).
Deutschland entspricht dem konservativen Wohlfahrtsstaats-Typus; seine relevanten Merkmale sind:
Sozialversicherungen nach dem Beitragsprinzip (Äquivalenz von Beitrag und Leistung) und korporatistische Leitung,
unterschiedliche Systeme für Arbeiter, Angestellte, Beamte, Selbstständige (also eine Vermischung von Sozialpolitik und Konservierung der Sozialstruktur),
relativ hohe Ausgaben bei geringer Umverteilung (wegen der Orientierung an Sicherheit, Status und Mittelschichten) und relativ wenig Soziale Dienste.
Entlang der Wohlfahrtsstaattypen lassen sich drei Regime-Typen der Arbeitsmarktpolitik identifizieren (Tabelle). Sie sind idealtypisch bis zur Jahrtausendwende gültig; danach treten durch Reformen vor allem in Deutschland weitreichende Veränderungen ein. Die Bundesrepublik ist inzwischen Mischform aus allen drei Typen: Die starke Rolle der Sozialversicherung bleibt, wird aber ergänzt durch aktivierende Maßnahmen (Förderung der stärkeren Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren) und durch mehr Marktdruck (Rekommodifizierung).