Der deutsche Staat ist "Steuerstaat". Bund, Länder und Gemeinden finanzieren ihre Aufgaben weitgehend mit Steuern. Das gesamte Steueraufkommen beträgt in Deutschland rund 24 Prozent des BIP in Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Zusammen mit den Beiträgen, die zur Finanzierung der Sozialversicherungen erhoben werden, liegt die Abgabenquote derzeit bei rund 39 Prozent des BIP (Abbildung 1). Von jedem erwirtschafteten Euro der Volkswirtschaft gehen also 39 Cent durch die "öffentliche Hand". Diese finanzieren öffentliche Güter und Dienstleistungen wie Sicherheit, Infrastruktur und Wissenschaft.
Formal sind Steuern Abgaben ohne Gegenleistung. Sie vermitteln keine individuell zurechenbaren Leistungen an die zahlenden Bürgerinnen und Bürger sowie Körperschaften. Von den öffentlichen Gütern und Dienstleistungen profitieren auch jene, die keine Steuern zahlen. Daher gibt es einen starken Anreiz, Steuern zu vermeiden. Und wie jede größere kollektive und gemeinwirtschaftliche Organisation neigt auch die Staatswirtschaft zu Ineffizienz. Dadurch ist der Steuerstaat immer auch ein Fremdkörper in der Marktwirtschaft, eine Kollektivwirtschaft in der Privatwirtschaft, ein Sozialismus im Kapitalismus. Zugleich sind Steuerstaat und Privatwirtschaft wie zwei ungleiche Geschwister eng miteinander verbunden. Denn öffentliche Güter sind Voraussetzung für Wohlstand und Wachstum.
Vor diesem Hintergrund scheiden sich die Geister in der Steuer- und Finanzpolitik entlang der einschlägigen ideologischen Positionen zu Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundsätzlich kann hier zwischen dem neoliberalen Modell des schlanken "Nachtwächterstaates" und dem linksliberalen und sozialdemokratischen Modell des Interventions- und Wohlfahrtsstaates unterschieden werden.
Zentrale Leitbilder des Neoliberalismus sind Freiheit und Marktwirtschaft, betont werden Subsidiarität, Eigenverantwortung und Chancengleichheit. Marktwirtschaft und Kapitalismus werden positiv gesehen und gelten als inhärent stabil. Der Staat soll sich auf ordnungspolitische Rahmensetzungen und die Bereitstellung unerlässlicher öffentlicher Güter beschränken. Kritisch gesehen werden prozessorientierte staatliche Interventionen der Struktur- und Konjunkturpolitik, umfassende Daseinsvorsorge durch öffentliche Leistungen und Regulierungen sowie eine weitreichende Umverteilung zur Herstellung von Ergebnisgleichheit. Der Staat wird meist als zu groß und zu verschwenderisch wahrgenommen, hohe Steuern als Belastung der Wirtschaftskraft gesehen. Die Einkommens- und Vermögenssteuern gelten als gestaltungsanfällig und leistungsfeindlich, vor allem bei hohen Steuersätzen. Bevorzugt werden niedrigere und proportionale "Flatrate-Steuertarife" mit breiter Bemessungsgrundlage oder indirekte Steuern auf Konsum, wie die Mehrwertsteuer.
Das Modell des Interventions- und Wohlfahrtsstaates geht von der Instabilität der kapitalistischen Wirtschaft und deren Tendenz zur Ungleichheit bei den Lebensverhältnissen sowie bei der Einkommens- und Vermögensverteilung aus. Das soll mit aktivem Eingreifen des Staates in die Wirtschaft durch eine keynesianische Steuerung der Konjunktur, eine breite Daseinsvorsorge und soziale Sicherung für die Bürgerinnen und Bürger korrigiert werden. Ausreichende und gerechte Steuern sind zentrale Pfeiler einer solchen Politik. Bevorzugt werden progressive Einkommens- und Vermögenssteuern, das heißt die Durchschnittsbelastung soll bei zunehmender Bemessungsgrundlage steigen, während indirekte Steuern eine Nebenrolle spielen sollen, da sie regressiv wirken, also vor allem die niedrigen Einkommen belasten, die proportional einen besonders großen Teil ihres Geldes ausgeben müssen. Effizienzverluste durch Besteuerung werden vernachlässigt oder in Kauf genommen und Steuervermeidungsmöglichkeiten bekämpft.
Ihre große wirtschaftliche und ideologische Bedeutung machen Steuern zu einem brisanten politischen Thema. Zugleich ist das deutsche Steuersystem sehr komplex, und es ranken sich viele Mythen darum. Institutionelle, statistische und ökonomische Zusammenhänge zu Steuern und Wirtschaft sind wenig bekannt. Viele Steuerzahlerinnen und Steuerzahler überschätzen ihre Einkommenssteuerbelastung, verwechseln sie mit den Sozialbeiträgen oder vernachlässigen den Unterschied zwischen Grenz- und Durchschnittssteuersätzen. Die indirekten Steuern werden dagegen kaum wahrgenommen, da sie in die Preise überwälzt werden. Wichtig zum Verständnis des Steuersystems ist auch seine Entwicklung. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Beitrag die wesentlichen steuerpolitischen Entwicklungstrends und Reformdiskussionen der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland dargestellt.
Steuerbelastung konstant bei steigenden Sozialbeiträgen
Das deutsche Steuersystem, wie wir es heute kennen, wird bald 100 Jahre alt. Angesichts der desaströsen Finanzlage nach dem Ersten Weltkrieg wurde von Mitte 1919 bis zum Frühjahr 1920 in einem beispiellosen Kraftakt die nach dem damaligen Reichsfinanzminister Matthias Erzberger benannte "Erzbergersche Finanz- und Steuerreform" umgesetzt. Diese prägt das deutsche Steuer- und Finanzsystem bis heute. Alle wesentlichen Steuern wurden auf das Reich übertragen und größtenteils deutlich erhöht, die Einkommens- und Körperschaftssteuer wurden modernisiert und ab 1923 eine Vermögenssteuer eingeführt. Mit der Abgabenordnung wurde ein eigenes Steuerverwaltungsrecht geschaffen, die Finanzverwaltung beim Reich zentralisiert und die Finanzgerichtsbarkeit eingeführt.
Nach Inflation und Währungsstabilisierung erhöhte sich die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung Mitte der 1920er Jahre auf 15 Prozent des BIP. Gegenüber den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war das eine Verdopplung. Es entwickelte sich eine intensive Diskussion über die Tragfähigkeit der hohen Steuerbelastungen für Wirtschaft und Bevölkerung. Wirtschaftsverbände sowie liberale und liberalkonservative Politiker verlangten Entlastungen, während Gewerkschaften, Sozialverbände, Sozialkonservative, Sozialdemokraten und Linksliberale den Wohlfahrtsstaat ausbauen wollten. Diese Dichotomie prägt die steuer- und sozialpolitischen Diskurse seither, angepasst an die jeweiligen Verhältnisse und Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft.
Im historischen Längsschnitt fällt auf, dass die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung bereits kurz vor dem Zweiten Weltkrieg heutige Dimensionen erreichte und seitdem recht konstant verlief – sie schwankte in einer Bandbreite von 21 bis 25 Prozent (Abbildung 1). In den vergangenen Jahren ist sie zwar wieder gestiegen, 2016 lag sie bei knapp 24 Prozent, aber auch Ende der 1990er oder Mitte der 1970er Jahre war sie ähnlich hoch. Die "Rekordsteuereinnahmen", die regelmäßig gemeldet werden, hängen weniger mit einer höher werdenden Steuerbelastung zusammen als mit nominal steigenden Einkommen. Zwar wirken sich steuerpolitische Entscheidungen wie Steuererhöhungen und -senkungen unmittelbar auf die Steuerquote aus, diese schwankt aber auch mit der Konjunktur. So führten Rezessionen wie Mitte der 1970er, Anfang der 2000er Jahre oder 2008/09 zu einem deutlichen Rückgang der Einkommens- und Unternehmenssteuern.
Deutlich gestiegen sind im säkularen Trend die Sozialbeiträge. Ab Mitte der 1950er Jahre wurde die Rentenversicherung ausgebaut, später im Zuge des medizinisch-technischen Fortschritts die Krankenversicherung. Ab Mitte der 1970er Jahre erschwerten schwächeres Wachstum und hohe Arbeitslosigkeit die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme, daher wurden die Beiträge erhöht und Leistungen gekürzt. Nach 1990 wurden die Transfers in die ostdeutschen Bundesländer zu einem erheblichen Teil über die Sozialversicherungen abgewickelt und durch weiter steigende Beiträge finanziert. Seit Ende der 1990er Jahre konnten die Belastungen durch die deutliche Aufstockung der staatlichen Zuschüsse an die Sozialversicherung leicht zurückgeführt werden. Dies wurde über Einnahmen aus Mehrwertsteuererhöhungen und der ökologischen Steuerreform finanziert. Ferner reduzierte die günstige Arbeitsmarktentwicklung der jüngeren Zeit den Druck auf die Sozialkassen.
Steuerstrukturverschiebungen
Innerhalb des Steueraufkommens haben sich die Gewichte zwischen den einzelnen Steuerarten sowie zwischen den direkten und indirekten Steuern im Laufe der Jahrzehnte beträchtlich verschoben (Abbildung 2). Bis in die 1980er Jahre ging in der alten Bundesrepublik die Bedeutung der indirekten Besteuerung durch die Entlastungen bei den Gütersteuern und Produktionsabgaben deutlich zurück. Diese wurden nur zum Teil durch höhere Mehrwert- und Energiesteuern kompensiert. Seit den 1990er Jahren ist der Anteil der direkten Steuern wieder rückläufig, da die unternehmens- und vermögensbezogenen Steuern an Bedeutung verloren haben. Erst in den vergangenen Jahren gibt es hier wieder eine leichte Umkehr.
Die Umsatzsteuer, die seit Ende der 1960er Jahre als Mehrwertsteuer erhoben wird, war seit jeher neben der Einkommenssteuer das zweite Standbein des deutschen Steuerstaates und hat seit den 1990er Jahren deutlich zugelegt. Unter den speziellen Verbrauchssteuern dominieren seit der Massenmotorisierung die Energiesteuern, die ebenfalls ab den 1990er Jahren bis 2003 schrittweise erhöht wurden, seitdem aber wieder an Gewicht verlieren. Dagegen haben die Tabak- und Alkoholsteuern, die übrigen Gütersteuern und die sonstigen Produktionsabgaben, die in den 1950er Jahren noch einen beträchtlichen Teil des Steueraufkommens bestritten, im Laufe der Jahrzehnte deutlich an Bedeutung verloren. Unter diesen Steuern haben die Grundsteuer, die Grunderwerbssteuer und die Kfz-Steuer ein größeres Aufkommen, daneben gibt es noch diverse kleinere Verbrauchs- und Aufwandssteuern oder Sonderabgaben.
Direkte Steuern auf Einkommen oder Vermögen, die in Deutschland progressiv gestaltet sind, haben bis in die 1970er Jahre erheblich an Stärke gewonnen, darunter insbesondere die Lohnsteuer. Da bis Mitte der 1970er Jahre Freibeträge und Steuertarif nur wenig zurückgenommen wurden, wuchsen durch die hohen nominalen Einkommenszuwächse immer mehr Normalverdiener in die Lohn- und Einkommenssteuer hinein oder stiegen in der Steuerprogression auf. Seit Mitte der 1990er Jahre ist der Anteil der Lohnsteuer wieder etwas zurückgegangen.
Das schwindende Gewicht der direkten Steuern insgesamt ist auf die übrige Einkommenssteuer, die Körperschaftssteuer und die Gewerbesteuer zurückzuführen, die im Wesentlichen den Anteil der Unternehmens- und Vermögenseinkommen am Steueraufkommen repräsentieren. Deren Bedeutung ist bis Mitte der 2000er Jahre kontinuierlich gesunken. Globalisierung, Standortwettbewerb und Steuerflucht belasteten die Besteuerungsgrundlagen und führten zu schrittweisen Steuerentlastungen durch Senkung der Einkommenssteuer-Spitzensätze, der Unternehmenssteuern und der Abgeltungssteuer auf Kapitaleinkommen sowie durch die Abschaffung der Vermögens- und Gewerbekapitalsteuer. Ferner wurde das Aufkommen zeitweise durch Steuervergünstigungen stark belastet, die im Zuge der Investitionsförderung in den ostdeutschen Bundesländern gewährt wurden. Auch sonstige direkte Steuern und Abgaben wie vor allem die vermögensbezogenen Steuern (Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer) haben im Laufe der Jahrzehnte an Gewicht verloren.
Steuerpolitik zwischen punktueller Justierung und Grundsatzdiskussion
Anfang 1953 urteilten die wissenschaftlichen Beiräte bei den Bundesministerien für Finanzen und für Wirtschaft: "Seit Langem besteht in den Kreisen von Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung Einigkeit darüber, dass das Steuersystem der Bundesrepublik im Ganzen wie in seinen Einzelheiten einer grundlegenden Reform bedarf." Seitdem hat es dazu regelmäßig größere Anläufe gegeben. Bis heute ist die Erzbergersche Finanz- und Steuerreform aber die einzige umfassende Reform des deutschen Steuersystems geblieben.
Während der Wiederaufbaujahre der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubten hohe Wachstumsraten einen pragmatischen Interventionismus und Klientelismus. Das Steuersystem stand damals nicht im Vordergrund. Die hohen Steuersätze der Kriegs- und Besatzungszeit wurden sukzessive gesenkt, zahlreiche Steuervergünstigungen förderten Investitionen. Auch im Zuge der größeren Finanzreformen Ende der 1960er Jahre wurde das Steuersystem weitgehend ausgeblendet. Immerhin gelang Ende der 1960er Jahre eine grundlegende Reform der Umsatzsteuer mit dem Übergang zum europäischen Mehrwertsteuersystem, die noch immer Bestand hat. Unter der sozialliberalen Regierung ab 1969 wurde zwar eine große Steuerreform angekündigt, letztlich aber nur einzelne, überwiegend verteilungspolitisch motivierte Maßnahmen umgesetzt. Angesichts der seit den späten 1970er Jahren immer offenkundiger werdenden Probleme des Interventions- und Wohlfahrtsstaates der Nachkriegszeit griff nach dem Regierungswechsel 1982 die schwarz-gelbe Koalition die angebotsökonomischen wirtschaftspolitischen Leitbilder auf. Die direkten Steuern wurden moderat gesenkt, aber wiederum keine größeren Steuerreformen durchgeführt. In den 1990er Jahren wurden dann zur Finanzierung der deutschen Einheit die indirekten Steuern und die Sozialbeiträge erhöht sowie der Solidaritätszuschlag eingeführt.
Eine intensive Diskussion über grundlegende Reformen der Unternehmens- und Einkommensbesteuerung entwickelte sich ab Mitte der 1990er Jahre und wirkt bis heute nach. Wachstumsschwäche, steigende Arbeitslosigkeit, nicht zuletzt aber auch die Diskussion um den Wirtschaftsstandort Deutschland vor dem Hintergrund einer sich internationalisierenden Wirtschaft hatten die Aufnahmebereitschaft von Öffentlichkeit und politischen Entscheidungsträgern für neoliberale Strukturreformen geschärft. Für die direkte Besteuerung wurden weitgehende Reformmodelle entwickelt, die eine deutliche Senkung der Steuersätze und die Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen vorsahen. Ferner wurden die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft und die Vermögenssteuer nicht mehr erhoben.
Die rot-grüne Regierungskoalition ab 1998 griff dann die Steuerreformpläne pragmatisch auf und setzte eigene Akzente. Die Einkommenssteuer-Spitzensätze wurden gesenkt, Steuervergünstigungen gestrichen und die Körperschaftssteuer grundlegend reformiert, um sie mit der Internationalisierung der Investitionsströme und Finanzmärkte besser kompatibel zu machen. Die ökologische Steuerreform sollte umwelt- und klimapolitische Lenkungsimpulse mit anstehenden Reformen des Steuer- und Abgabensystems verbinden, blieb allerdings aus Rücksicht auf die energieintensive Wirtschaft und die ärmeren Haushalte hinter den Erwartungen zurück. Die Reformen der Gemeindebesteuerung und Kommunalfinanzen blieben im komplexen Interessengeflecht aus Kommunen, Ländern, Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und anderen Akteuren stecken.
Vor dem Hintergrund der anhaltenden Wachstumsschwäche und der Arbeitsmarkt- und Sozialreformen rückte ab 2003 eine noch grundsätzlichere Reformdiskussion zur Einkommens- und Unternehmensbesteuerung sowie zur radikalen Steuervereinfachung prominent auf die Agenda. Die Vorschläge kamen aus dem bürgerlich-liberalen Lager und zielten darauf, durch eine Bereinigung der Besteuerungsgrundlagen und eine Senkung der Steuersätze das Steuersystem zu vereinfachen, standortfreundlicher zu machen und Anreize für mehr Wachstum und Beschäftigung zu setzen. Führende Repräsentanten der bürgerlichen Parteien griffen die Themen auf und veranlassten die Parteigremien zu entsprechenden Beschlüssen. Die Diskussion eröffnete der damalige Finanz- und Wirtschaftsexperte der CDU, Friedrich Merz, mit seiner vielzitierten Forderung, eine Steuererklärung solle künftig auf einen Bierdeckel passen. Besondere Aufmerksamkeit erregte auch der Heidelberger Rechtswissenschaftler und ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof, der mit einer Forschungsgruppe ein grundlegendes Steuerreformkonzept entwickelt hatte.
Letztlich konnten sich diese Vorschläge nicht durchsetzen. Zum einen wurde deutlich, dass kräftige Senkungen der Steuersätze mit beträchtlichen Steuerausfällen verbunden gewesen wären. Die Verbreiterungen der Bemessungsgrundlagen stießen auf starken Widerstand einflussreicher Lobbyisten. Ferner entlasteten die meisten Vorschläge vor allem die hohen Einkommen. Dies bot Angriffspunkte, um diese Pläne als fiskalisch unsolide und sozial unausgewogen zu brandmarken. Die möglichen Wachstumsimpulse und Wohlfahrtseffekte von Steuervereinfachung und wirtschaftlich neutralerer Besteuerung wurden von der Fachwelt eher zurückhaltend eingeschätzt.
Nach der Bildung der Großen Koalition 2005 ebbte die Diskussion um die große Steuerreform ab. Mit einer deutlichen Mehrwertsteuererhöhung wurden die öffentlichen Haushalte saniert und die Sozialbeiträge stabilisiert. Wichtige Elemente der Reformdiskussion wurden mit der Unternehmenssteuerreform 2008 pragmatisch umgesetzt. Die Steuersätze wurden auf ein im internationalen Standortwettbewerb verträgliches Niveau von etwa 30 Prozent gesenkt, im Gegenzug die Bemessungsgrundlagen verbreitert und Steuergestaltungsmöglichkeiten reduziert. Die komplexen Strukturen aus Gewerbesteuer, Körperschaftssteuer und Einkommenssteuer wurden angesichts der schwierigen politischen und föderalen Gemengelage nicht neu geordnet, sondern entsprechend den unmittelbaren Anforderungen aufeinander abgestimmt. Die Kompromisse erwiesen sich bis heute als durchaus tragfähig, zumal auch auf internationaler Ebene die Steuerflucht- und Steuergestaltungsmöglichkeiten zunehmend bekämpft wurden und sich die sonstigen Standortbedingungen in Deutschland deutlich verbesserten. Einfacher und transparenter ist das Steuerrecht dadurch aber nicht geworden.
Während die Steuerpolitik in den 2000er Jahren ein bürgerlich-liberales Thema war, wurde sie seit der Finanzkrise von den Parteien und gesellschaftlichen Organisationen des linksliberalen und linken politischen Spektrums unter Verteilungsgesichtspunkten aufgegriffen und in die öffentlichen Debatten getragen. Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung und der Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der 2000er Jahre hatten die Einkommens- und Vermögensungleichheit spürbar zugenommen und die Umverteilungswirkung des Steuersystems abgenommen. Trotz guter Entwicklung von Gesamtwirtschaft und Beschäftigung wurde darin eine Gerechtigkeitslücke ausgemacht. Mit höheren Spitzensteuersätzen, einer Vermögenssteuer und einer höheren Erbschaftssteuer sollten die Wohlhabenden und Reichen im Lande wieder stärker belastet werden. Im Bundestagswahlkampf 2013 spielten diese Themen eine prominente Rolle.
Während der anschließenden Legislaturperiode wurde die Steuerpolitik jedoch wieder weitgehend ausgeblendet. Dank der guten Konjunktur und weiter steigender Beschäftigungszahlen stiegen die Steuereinnahmen kräftig, und die öffentlichen Haushalte erzielten Überschüsse. Dadurch hat sich in der breiten Öffentlichkeit ein Bedarf nach Steuerentlastungen aufgebaut. Im derzeit anstehenden Bundestagswahlkampf geht es vor allem um Entlastungen der mittleren Einkommen.
Allerdings führen schon kleine Entlastungen der unteren und mittleren Einkommen schnell zu erheblichen Steuerausfällen in Größenordnungen von einem Prozent des BIP und mehr. Um diese zumindest teilweise zu finanzieren, müssten die Spitzensteuersätze deutlich angehoben oder sonstige Reichensteuern erhöht werden, zum Beispiel die Erbschaftssteuer oder andere Vermögenssteuern. Das stößt auf starken Widerstand aus der Wirtschaft und den bürgerlichen Parteien und ist auch innerhalb von SPD und Grünen umstritten. Auf der Ausgabenseite sind keine größeren Einsparpotenziale abzusehen – eher wird bei Infrastruktur oder im Bildungsbereich größerer Nachholbedarf ausgemacht. Längerfristig dürften Wissensgesellschaft und Industrie 4.0, demografischer und sozialräumlicher Wandel, Zuwanderung sowie Energiewende und Klimaschutz neue Herausforderungen für Staat und öffentliche Finanzen bedeuten. Daher werden die Steuer- und Abgabenbelastungen der Mittelschichten nicht wesentlich sinken – ganz gleich, wer demnächst regiert.
Fazit
Seit über 100 Jahren konkurrieren neoliberale, linksliberale, sozialkonservative und sozialdemokratische Vorstellungen zu Staat und Steuern miteinander, befruchten sich aber auch gegenseitig. In den vergangenen Jahrzehnten hatte der Neoliberalismus großen Einfluss auf die Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik – in Deutschland bemerkenswerterweise unter der rot-grünen Bundesregierung von 1998 bis 2005. Spätestens seitdem im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 die Schwächen des internationalisierten und finanzmarktgetriebenen Kapitalismus offenkundig wurden, finden Konzepte eines modernisierten Interventions- und Wohlfahrtsstaates wieder mehr Gehör, können sich bisher aber nicht klar durchsetzen.
Die steuerpolitischen Diskurse verlaufen nicht immer gradlinig. Das konsensorientierte deutsche Politikmodell tut sein Übriges dazu. Durch die Mitbestimmung des Bundesrates, in dem häufig konträre Mehrheitsverhältnisse zur Regierungskoalition im Bundestag herrschen, gibt es in der Steuerpolitik seit jeher den Zwang, sehr große Koalitionen zu bilden. Reformen brauchen einen langen Vorlauf oder scheitern wiederholt – man denke etwa an die verschiedenen Anläufe zur Reform der Gemeindebesteuerung oder an die mehrfach vor dem Bundesverfassungsgericht gescheiterten Erbschaftssteuerreformen. Häufig scheint zu gelten: "Alte Steuern sind gute Steuern." Dafür werden Schnellschüsse vermieden und bei Reformen viele mitgenommen.
Ein ideales Steuersystem, das die miteinander konkurrierenden steuerpolitischen Vorstellungen und Ziele zusammenbringt, kann in der Praxis ohnehin nicht am Reißbrett entwickelt werden. Die Steuerpolitik muss vom Bestehenden ausgehen und verschiedene Interessen berücksichtigen. Hier ist zu unterscheiden zwischen tax design und tax reform, beziehungsweise zwischen dem "idealen" und dem "realen", historisch gewachsenen Steuersystem. Letztlich gilt es, Kompromisse zu finden zwischen Effizienz und Gerechtigkeit und dabei dringende Reformanforderungen und legitime Bestandsinteressen auszugleichen. Die Ergebnisse sind für Experten und Ideologen natürlich nicht befriedigend. Denn Kompromisse sind nach Henry Kissinger, dem Altmeister der Realpolitik, dann brauchbar, dauerhaft und gerecht, wenn damit alle gleich unzufrieden sind.