"I didn’t come along and divide this country. This country was seriously divided before I got here", sagte US-Präsident Donald Trump im Februar 2017 am Ende einer ausgedehnten Pressekonferenz im Weißen Haus. Wo er Recht hat, hat selbst der Meister des "Postfaktischen" Recht. In der Tat begann die Polarisierung der amerikanischen Politik, die sich im Präsidentschaftswahlkampf 2016 so deutlich zeigte, nicht mit Donald Trump. Sie begann auch nicht mit seinem Vorgänger im Weißen Haus, Barack Obama. Und auch vor der Präsidentschaft George W. Bushs, in dessen Zeit die Spaltung Amerikas längst Oberthema aller politischen Diskurse war, hatte sich im Land bereits deutlich etwas entzweit. Was derzeit in einer Hyperpolarisierung der amerikanischen Gesellschaft zu kulminieren scheint, hat eine Vorgeschichte, die einige Jahrzehnte zurückreicht, in denen strukturelle Entwicklungen und institutionelle Grundbedingungen sich simultan zuspitzten und mit spezifischen Entscheidungen politischer Akteure zusammenspielten, einander beeinflussten und sich gegenseitig zu jener existenziellen Konfrontation hochschaukelten, die heute die US-Politik bestimmt.
Vieles musste passieren, um die USA in den gegenwärtigen Zustand der Hyperpolarisierung zu führen. Zwar ist die tiefe politische Spaltung der amerikanischen Gesellschaft schon für sich genommen und nur aus der unmittelbaren Gegenwart betrachtet drastisch genug. Geradezu spektakulär aber erscheint sie, wenn man sie in Beziehung zu jenem Bild der US-Politik setzt, das lange innerhalb und außerhalb der Vereinigten Staaten verbreitet war. Mit Verblüffung liest man heute die angesichts der gegenwärtigen Zustände beinahe schon surreal wirkende Einschätzung des Politikwissenschaftlers Robert Dahl aus den 1970er Jahren: "Unlike parties in many European countries, both Republicans and Democrats in the United States advocate much the same ideology. (…) To a European accustomed to the sound and fury of clashing ideologies, American party battles seem tame and uninteresting."
Southern Realignment
Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage führt in die 1960er Jahre. Zu Beginn jenes Jahrzehnts kam es in den Vereinigten Staaten zu einer Ballung und Verschärfung bestehender und neuer Problem- und Konfliktlagen. Bei aller Gleichzeitigkeit gab es vermutlich dennoch eine Art historischen Dominostein, der erst fallen musste, um eine Kettenreaktion in Bewegung zu setzen: die Neuausrichtung der Wählerbindungen im amerikanischen Süden, das sogenannte southern realignment.
Bis dahin hatte auf dem Gebiet der alten Konföderation praktisch ein Ein-Parteien-System unter dem Vorzeichen der Dominanz der Demokratischen Partei geherrscht, die dort Garantin der Aufrechterhaltung eines Systems faktischer Rassentrennung war. Landesweit machte das aus den Demokraten eine hoch fragmentierte Allianz mit zwei antagonistischen Machtzentren: dem konservativen Süden und dem liberalen Nordosten. Allerdings waren die Republikaner ähnlich zersplittert. Beide Parteien besaßen jeweils bedeutende liberale und konservative Parteiflügel und waren allein deswegen zu einer weltanschaulich kohärenten Politik kaum in der Lage.
Das änderte sich, als der liberale Parteiflügel der Demokraten sich trotz des Risikos der innerparteilichen Spaltung Anfang der 1960er Jahre dazu durchrang, die Vorhaben der schwarzen Bürgerrechtsbewegung im Süden zu unterstützen und 1964/65 den Civil Rights Act und den Voting Rights Act durchzusetzen, die die katastrophalen Verhältnisse der Rassentrennung zumindest teilweise beseitigten.
Mit diesem Seitenwechsel veränderten sich in der Konsequenz die Wählerbasen beider Parteien: Die Demokraten verloren den konservativen Süden, und gleichzeitig schwanden die ehemaligen liberalen Parteihochburgen der Republikaner im Nordosten des Landes. Kurzum: Während die Unterschiede zwischen den Parteien wuchsen, löste sich der extreme Dualismus im Inneren der Parteien auf, die jetzt viel eindeutiger als "konservativ" und "liberal" auftraten und auch wahrgenommen wurden. Das beseitigte eine spezifisch amerikanische Anomalie und schuf überhaupt erst die Voraussetzungen für einen ideologisch markanteren und schärferen Parteienwettbewerb.
"Westernisierung" des US-Konservativismus
In der Republikanischen Partei erstarkte etwa zeitgleich eine radikal-libertäre Strömung, die jede Ausweitung staatlicher Lenkungsfunktionen für einen Verrat an amerikanischen Prinzipien hielt. Diese politische Strömung hatte sich bereits in den Jahren des New Deal formiert, in dessen Zuge die US-Regierung unter Präsident Franklin D. Roosevelt ab 1933 mit einer Reihe von Wirtschafts- und Sozialreformen wie der Einführung von Sozialversicherungen und der Regulierung der Finanzmärkte auf die Weltwirtschaftskrise reagiert hatte. Waren sie zunächst noch politisch marginalisiert geblieben, erhielten die Anhänger dieser Bewegung nun Auftrieb und kündigten den Konsens der Nachkriegszeit auf, der insbesondere in den 1950er Jahren die Innenpolitik der USA bestimmt hatte.
Die Sprache des libertär-konservativen Flügels der Republikaner war schrill und bisweilen hysterisch, die historischen Analogien zumindest aus europäischer Sicht verwegen: Vom Wohlfahrtsstaat zum Sozialismus war es nie weit für die Verfechter des small government. Diese Analogie hält sich im Übrigen bis in die Gegenwart, in der die Aktivisten der Tea Party die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung unter US-Präsident Barack Obama als Versuch interpretieren, dem Sozialismus oder anderen totalitären Politikmodellen den Weg zu ebnen.
Der Held dieser Spielart des amerikanischen Konservativismus war der Senator von Arizona, Barry Goldwater. Er stand während seiner Amtszeit von den 1950er bis in die 1980er Jahre nicht nur für den Kampf gegen big government, sondern verkörperte auch die "Westernisierung" der Republikanischen Partei und den Mythos der frontier, jener in der amerikanischen Geschichte stetig nach Westen verschobenen Besiedlungsgrenze, entlang derer westliche Zivilisation auf ungezähmte Wildnis gestoßen war, sodass zum Überleben Eigenschaften wie Tapferkeit, Eigeninitiative und Härte gegenüber sich selbst und der Umwelt notwendig waren. So verschmolz der Kampf gegen big government mit dem rauen Individualismus des amerikanischen Westens und koppelte sich überdies die konservative Ideologie auch an Mythen der amerikanischen Populärkultur an.
1964 trat Goldwater als Kandidat der Republikaner für die Präsidentschaft an – und verlor deutlich gegen den amtierenden Präsidenten, Lyndon B. Johnson. In seiner krachenden Niederlage lag jedoch bereits der Keim späterer Triumphe. Denn zum einen lagen fünf der sechs Bundesstaaten, die er gewann, im Süden der USA, und das signalisierte bereits die einsetzende Neuordnung der dortigen Mehrheitsverhältnisse. Zum anderen aber punktete der Senator auch in einigen der am schnellsten wachsenden Regionen im Westen und Südwesten der USA: Dort, in den wohlhabenden Vorstädten, in denen viele glaubten, sie seien die alleinigen Schmiede ihres Glücks, fand seine Botschaft von niedrigeren Steuern und dem Widerstand gegen "Washingtoner Bürokraten" enthusiastische Anhänger. Insofern stand Goldwater nicht nur für die habituelle, mentale Westernisierung der Partei, sondern warfen mit seinem Erfolg auch künftige republikanische Wählerpotenziale bereits ihre Schatten voraus.
Populismus von rechts, Identitätspolitik von links
Allein als Partei von small government und durch die schrittweise Einverleibung des amerikanischen Südens wäre die Republikanische Partei kaum zu der strukturellen Mehrheitsposition im Land gekommen, über die sie schon sehr bald verfügen sollte: Dafür mussten sich die politischen, sozialen und kulturellen Achsen der amerikanischen Gesellschaft erst bedeutend verschieben.
Vom New Deal bis in die 1960er Jahre war die Konfliktstruktur des Landes primär sozioökonomisch geprägt gewesen, es ging also um Fragen der richtigen (gerechten, effizienten) Wirtschaftsordnung und der Verteilung von Wohlstand. Klassenzugehörigkeiten entschieden stärker als zuvor oder danach in der amerikanischen Geschichte über das Wahlverhalten – sehr zum Vorteil der Demokratischen Partei. Mitte der 1960er Jahre weitete sich der Raum des Politischen in gewisser Weise aus und kamen neue Themen mit enormem politischen Spaltungspotenzial auf die politische Agenda.
Zum Champion einer zunehmend verängstigten und verunsicherten weißen Mittelklasse wurde 1968 der Republikaner Richard Nixon. Beinahe 50 Jahre vor Donald Trump schwang er sich zum Anführer einer "schweigenden Mehrheit" empor, zum Verteidiger der "vergessenen Amerikaner", der non-shouters und non-demonstrators.
Beinahe alles, was diesen Populismus später stark machen sollte, spielte Nixon bereits durch: den Antiintellektualismus, die Medien als ultimatives Feindbild,
Die Demokraten spielten das Spiel in gewisser Weise mit. Seit Anfang der 1970er Jahre setzten sie vermehrt auf Themen der "Identitätspolitik" und wurden zu der Partei, die bisher unberücksichtigte Identitäten vertrat: von Frauen, von ethnischen und von sexuellen Minderheiten. Themen der sozialen Gerechtigkeit verschwanden deswegen nicht von der Agenda der Partei, in ihrer öffentlichen Wahrnehmung überlagerten identitätspolitische Fragen die alten Verteilungsfragen jedoch deutlich. Das erschloss den Demokraten zwar durchaus neue Wählerpotenziale, aber die Entfremdung von der weißen Arbeiterklasse, die seit 2016 und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten endgültig vollzogen scheint, hatte ihren Ursprung eben auch in jenen Jahren, als die Frage, "wer" man war, wichtiger wurde als die Frage, "wie viel" man besaß.
Politisierung des Religiösen
Was in den Identitätsdebatten der 1960er Jahre erstaunlicherweise noch keine große Rolle spielte, war das Thema Religion. Auch die Kirchen standen zunächst weiterhin an der Seitenlinie. Jerry Falwell, der spätere Initiator und Anführer der 1979 gegründeten Organisation der christlichen Rechten, Moral Majority, bekannte sich noch 1965 zur Abwendung von allem Weltlichen und lehnte es ab, sich für den Kampf gegen den Kommunismus oder die Bürgerrechtsbewegung vor den Karren einer Partei spannen zu lassen: "Preachers are not called upon to be politicians, but to be soul winners."
Erst mit einiger Verspätung kam es zu einer Abwehrreaktion vor allem des konservativen Protestantismus, der oft unter dem Label des Evangelikalismus firmiert. Aufgeschreckt vor allem durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes 1973, Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich zu legalisieren (Roe vs. Wade), politisierten sich Amerikas konservative Christen. Insbesondere Ronald Reagan war es, der 1980 als Präsidentschaftskandidat die evangelikalen Christen für die Republikaner gewann – und sie langfristig an die Partei band.
In dieser Zeit verblassten die Konfessionsunterschiede, die zuvor das Wahlverhalten bestimmt hatten: Katholiken hatten traditionell demokratisch gewählt, Protestanten stärker republikanisch. Nun begannen die konservativen Elemente in beiden Konfessionen, republikanisch zu wählen, während liberale Protestanten und Katholiken sowie das zunächst – anders als in Europa – nur langsam, aber stetig wachsende Segment religiös ungebundener Wählerinnen und Wähler sehr viel stärker zu den Demokraten neigten.
So wurden die 1980er und 1990er Jahre die Jahre des culture war, in denen Themen wie Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe, Pornografie, aber auch diffusere Fragen nationaler Identität verhandelt wurden – auf konservativer Seite begleitet von einer tendenziell apokalyptischen und doch stets undeutlich bleibenden Begleitmusik, die vom "Niedergang" der Vereinigten Staaten handelte. Den Begriff des culture war hat der Soziologe James Davison Hunter geprägt, demzufolge sich in den USA zwei Lager gegenüberstanden und -stehen, deren Wertvorstellungen schlichtweg inkompatibel und kaum noch miteinander zu versöhnen sind: auf der einen Seite das "orthodoxe" Amerika, wo man an einer transzendenten Autorität, an überlieferten Normen und Werten sowie an eindeutigen moralischen Unterscheidungen zwischen Gut und Böse festhält, auf der anderen Seite das "progressive" Amerika, wo man an die Emanzipation von überkommenen Werten, an gesellschaftlichen Fortschritt und die Relativität moralischer Grundsätze glaubt.
Es war also eine komplexe Melange von Konfliktfeldern, die sich seit den 1960er Jahren verdichteten und gegenseitig bestärkten, sodass sich letztendlich zwei Lager gegenüberstanden, die auf praktisch allen Politikfeldern diametral entgegengesetzte Positionen einnahmen. Der Aufstieg Donald Trumps bis zu seinem Sieg bei den republikanischen Vorwahlen 2016 schien, ungeachtet der verbalen Eskalation, für einen Augenblick die Möglichkeit zu eröffnen, dass sich die verhärteten ideologischen Frontlinien zwischen den Parteien an einigen Stellen auch abschleifen könnten: Zwar setzte Trump in der Einwanderungspolitik auf eine nationalistische Karte, aber weder sang er ein Loblied auf freie Märkte noch fiel er – von manchem Lippenbekenntnis abgesehen – als besonders grimmiger Verteidiger eines christlichen Amerikas auf. Und in der Frage des Freihandels brach er gar vollständig mit der bisherigen Orthodoxie seiner Partei. Doch wenn nicht alles täuscht, dann hat sich wenige Monate nach Beginn seiner Präsidentschaft an der grundsätzlichen politischen Tektonik des Landes nicht viel verändert und stehen sich die Parteien weiterhin entlang jener Frontlinie gegenüber, die sich seit den 1960er Jahren immer tiefer in die politische Landschaft der Vereinigten Staaten eingegraben hat.
Getrennte Welten
Amerikas tiefe Spaltung lässt sich also primär als historisch gewachsenes Phänomen interpretieren. Aber um die die fiebrige Intensität dieses Konflikts zu verstehen, der sich von inhaltlichen politischen Fragen längst gelöst hat und bisweilen eher an eine Fehde zwischen zwei Stämmen erinnert, die den ursprünglichen Konflikt längst vergessen und den Hass auf die Gegenseite zum Selbstzweck erhoben haben, braucht es eine weitere Erklärungsebene. Diese weist auch über den Fall der USA hinaus und hält einige allgemeine Schlüsse darüber bereit, wie und unter welchen Bedingungen moderne Gesellschaften sich ideologisch spalten können.
Seit Trumps Wahlsieg ist bekanntermaßen viel vom "postfaktischen Zeitalter" die Rede. Nicht zu Unrecht halten viele das Schlagwort für einen unglücklichen Begriff, der wenig erklärt. Schließlich wird in der Politik und nicht nur dort seit jeher gelogen und getäuscht. Ebenso ist es ein alter Hut, dass Menschen die Welt mit verschiedenen Augen sehen – je nach sozialem Standort, Lebenserfahrungen, bevorzugten Informationsquellen und sozialem Umfeld. Dennoch ist es mehr als nur die schamlose Dreistigkeit eines pathologisch lügenden US-Präsidenten, die dem Begriff Konjunktur verschafft hat. Damit man mit einem solchen Verhalten zumindest bei einem Teil der Bevölkerung durchkommt, muss der Boden auf bestimmte Weise bereitet sein.
Auch dieses Pflügen begann schon lange vor Donald Trump. Über die vergangenen Jahrzehnte haben sich die USA nicht nur politisch in ein konservatives und ein liberales Lager aufgeteilt, sondern auch gesellschaftlich in zwei entsprechende Lebenswelten, in denen ganz unterschiedliche Wahrnehmungen von Realität produziert werden – sogenannte Echokammern.
Eine wichtige Rolle spielte dabei die amerikanische Medienlandschaft: Der Aufstieg des konservativen Nachrichtensenders Fox News und seines liberalen Pendants MSNBC hat das Auseinanderklaffen konträrer Realitätswelten besonders deutlich gemacht, ebenso wie die explosionsartige Zunahme eindeutig parteiischer Formate im Internet, wo gerade eine "zweite Welle" noch aggressiverer Medienformate wie die rechtsnationalistische Nachrichtenseite "Breitbart News" offenkundig an Boden gewinnt. Ein weiterer Faktor war, dass die Anhänger beider Parteien sich auch außerhalb der medialen Welt auseinanderlebten. Denn wirklich wirkungsmächtig werden auch medial vermittelte Weltbilder erst, wenn sie den Nexus zur physischen und sozialen Lebenswelt finden:
Die Zahl der Counties – in etwa vergleichbar mit deutschen Landkreisen –, die von einer der beiden Parteien mit einem Vorsprung von 20 Prozent oder mehr gehalten werden, hatte sich bereits 2008 im Vergleich zu den 1970er Jahren annährend verdoppelt. Bei der Wahl 2016 waren es sogar acht von zehn Counties, in denen kein spannender Wettbewerb mehr gegeben und politische Monokulturen entstanden waren.
Ein ganzes Land hat sich auf diese Art und Weise entlang ideologischer Spaltungslinien sortiert. In Amerikas Kirchen beten Demokraten und Republikaner heute in verschiedenen Gemeinden.
So haben sich die Lebenswelten des liberalen und konservativen Amerika immer stärker auseinanderentwickelt, womit sich auch die Berührungspunkte zwischen Demokraten und Republikanern reduziert haben. Bereits Mitte der 1990er Jahre zeigten vergleichende Untersuchungen, dass US-Amerikaner weniger mit Mitbürgern mit anderen politischen Orientierungen sprachen als die Bürgerinnen und Bürger anderer Länder, ihre personalen Netzwerke also weitaus homogener sind.
Das ist deshalb relevant, weil eine Vielzahl sozialwissenschaftlicher Studien eindeutig den Schluss nahelegen, dass soziale Gruppen, die ideologisch homogen sind und in denen der Dissens fehlt, sich in Richtung ihres ideologischen Poles bewegen: Das ist die Logik der Echokammer, in die keine fremden Stimmen mehr eindringen, die bereits existierenden jedoch um ein Vielfaches verstärkt werden.
Im vergleichend-historischen Maßstab ist dieser politische Segmentierungsprozess in der Tat höchst erstaunlich. Als in den 1950er und 1960er Jahren zahlreiche Sozialwissenschaftler zu verstehen versuchten, warum die angelsächsischen im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Demokratien so stabil schienen, war eine der zentralen Erklärungen, dass insbesondere die USA bei aller ethnischen Fragmentierung eben nicht jene geschlossenen politisierten Subkulturen kannten, die sich in Europa um die politischen Parteien gebildet hatten.
Heute aber scheinen sich die Lebenswelten des konservativen und liberalen Amerika weit auseinanderentwickelt zu haben. Natürlich waren die USA historisch stets in mannigfaltiger Weise segmentiert: regional, ethnisch, konfessionell, sozial, kulturell.
Paradoxe Individualisierung
Amerikas Polarisierung ist daher nicht allein an politischen Gegensätzen zu messen – und vielleicht nicht einmal primär. Tatsächlich gab es in den 2000er Jahren eine durchaus einflussreiche Strömung innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft, die die politische Polarisierung als Mythos abtat.
Mittlerweile aber scheint sehr viel klarer, dass sich Polarisierung eben nicht allein an Sachpositionen messen lässt, sondern sie auch ein stark affektives Element besitzt. Demokraten und Republikaner können sich buchstäblich nicht ausstehen, weil ihnen die Lebensweisen der jeweils anderen Seite fremd und zuwider sind und sie als Konsequenz homogener und einseitiger Informationsflüsse diese Gegenseite auch für radikaler halten, als sie tatsächlich ist.
Ein wichtiger Unterschied freilich besteht zwischen Amerikas Echokammern und den subkulturell extrem segmentierten Gesellschaften Europas, deren soziokulturelle Milieus vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Takt und Rhythmus dieser Gesellschaften bestimmten. Denn während Letzteren stets ein Element des Zwanges beiwohnte und die Zugehörigkeit intergenerationell vererbt wurde, sind Erstere Orte der selbst gewählten Ghettoisierung. Sie handeln von einem Paradox: Je mehr Entscheidungsmöglichkeiten Menschen haben, desto mehr entscheiden sie sich für ein Leben in Eindeutigkeit und optieren dafür, bloß nicht zu sehr mit abweichenden Werthaltungen konfrontiert zu werden. Niemand wird dazu gezwungen, immer nur MSNBC oder Fox News zu schauen. Im Gegenteil: Niemals zuvor in der Geschichte waren in Bezug auf alternative Informationsquellen die Wahlmöglichkeiten so groß; und selten wurde davon so wenig Gebrauch gemacht. Tatsächlich sind es – auf beiden Seiten der Barrikade – gerade die wohlhabenderen und besser gebildeten Segmente der amerikanischen Gesellschaft, also jene, die auch in stärkerem Maße überhaupt die Möglichkeit und die Ressourcen haben, nach Lebensstilkriterien zu entscheiden, die besonders eifrige Kombattanten in Amerikas Kulturkriegen sind.
Es handelt sich um einen Prozess, der sich als "paradoxe Individualisierung" bezeichnen lässt, da die gewonnenen Freiheiten zum Rückzug in die Echokammer eingesetzt werden: Man wählt, nicht ständig die Wahl haben zu müssen.