"Wahrheit" (griechisch aletheia, lateinisch veritas) ist seit jeher ein zentrales Thema der europäischen Philosophie. Kaum einem anderen hat sie sich so beständig gewidmet. Denn das mit "Wahrheit" letztlich Gemeinte ist von vitalem menschlichen und keineswegs nur von akademischem Interesse.
Wahrheit als Verlässlichkeit
Beginnen wir deshalb unsere Abhandlung mit einer philosophischen Reflexion dieses vertrauten Sprachgebrauchs von "wahr" im Sinne von "verlässlich", wie er beispielsweise vorliegt, wenn wir von "wahrer Freundschaft" oder "wahrer Liebe" sprechen. Diese Redewendungen verweisen darauf, dass wir Verlässlichkeit offensichtlich in Bezugsverhältnissen suchen, die uns über alle physischen, kulturellen und persönlichen Unterschiede hinweg gleichsam hineintragen in die raum- und zeitlose Ordnungs- und Geltungsdimension der Vernunft – nüchterner formuliert: in Bezugsverhältnissen, die es ohne Vernunftgebrauch nicht gibt und die uns von sich aus mit der Forderung konfrontieren, der Gebrauch der Vernunft möge selbst durch Vernunft bestimmt sein.
Nennen wir nicht etwa "wahre Freundschaft" in Erfüllung dieser Forderung ein "Verbunden-Sein und Eines-Sein" zwischen zwei Menschen, um es mit Aristoteles auszudrücken,
Die uns ebenfalls vertraute Redewendung "in Wahrheit" führt unsere Reflexion einen Schritt weiter. Denn durch sie gerät in den Blick, dass wir uns auch und gerade dann, wenn wir gegenüber einer anderen Person behaupten, ein Dritter sei ein "wahrer" oder "falscher" Freund, in Bezugsverhältnissen bewegen, die uns in die Ordnungs- und Geltungsdimension der Vernunft hineintragen: Zu sagen, ein Freund sei ein "wahrer" oder "falscher", kann in Bezug darauf, was tatsächlich vorliegt – im Unterschied zu dem, was man meint oder glaubt –, selbst wahr oder falsch sein.
Weil das "menschliche Lebensinteresse am Verläßlichen"
Doch das, worauf sich die Erkenntnis bezieht, ist keineswegs immer schon etwas vom Menschen Gemachtes, das sich wie ein Rechtsverhältnis durchschauen ließe, und kann zugleich nicht ohne Weiteres auf ein höheres Vernunftwesen zurückgeführt werden, etwa auf einen Gott. Historisch stand die Philosophie daher stets vor der Aufgabe, zu erklären, wie und später auch ob überhaupt die Erkenntnisrelation nach Art der declaratio (Kundmachung, Offenbarung) verstanden werden kann. Wie auch immer die Antwort unter jeweils gegebenen Bedingungen ausfiel: Philosophisch war und ist "Wahrheit" vor allem die Ordnungs- und Geltungsdimension der Theorie, deren Kreis die Philosophie aufgrund der für sie charakteristischen Reflexionshaltung selbst so schließt, dass offensichtlich wird: Der Wahrheit lässt sich theoretisch nicht entkommen. Das hat Friedrich Nietzsche dokumentiert, als er erklärte, Wahrheit sei "die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte",
Damit geht allerdings auch einher, dass es eine exakte Definition von Wahrheit und also eine abschließende Antwort auf die Frage, was Wahrheit ist, für uns nicht gibt. Allerdings hat die philosophische Tradition unserer Mühe, der Wahrheit diskursiv die für eine Definition nötigen Grenzen zu setzen, intuitiv dennoch etwas abgewonnen: dass es bei Wahrheit gerade um Offenheit geht – unter Geltungsaspekten: Offenbarkeit oder Unverborgenheit
Der folgende Streifzug durch die Geschichte der Philosophie ist auf die theoretische Wahrheit beschränkt. Er geht von der Vorstellung einer Kommunikationssituation aus, in der sich jemand mit jemand anderem ernsthaft über etwas in der objektiven Welt verständigt und der Zuhörer dem Sprechenden zweierlei unterstellt: erstens, dass dieser ihm nichts verhehlt, sondern "über das, was er weiß, so Auskunft gibt, daß [ihm] über die berichtete Sache (…) nichts verborgen bleibt";
Antike
Nie hat die Philosophie die Wahrheit systematisch nur auf der Seite des Wissens verortet. Immer sah sie die Wahrheit auch – und anfänglich sogar primär – auf der Seite der Wirklichkeit, nach der sich die Erkenntnis richten muss. Wahrheit war zuerst die Wirklichkeit selbst, und zwar "unter dem Aspekt ihrer Erkennbarkeit",
Allerdings hatte bereits Aristoteles (384–322 v. Chr.) nach entscheidenden Vorbereitungen durch Platon (ca. 428–348 v. Chr.) die Wahrheit auf eine reflektiertere Weise bestimmt. Aristoteles setzte beim Sprachgebrauch an. Seine Untersuchung der Verwendung der Ausdrücke "ist" und "ist nicht" in Aussagesätzen ergab, dass "ist" ein "Verbunden-Sein und Eines-Sein" bedeute und dementsprechend "ist nicht" ein "Nicht-Verbunden- und Mehrheit-Sein",
So sollten Aussagesätze dann wahr sein, wenn sie wiedergeben, was man denkt, und man nicht "anders denkt, als die Dinge sich verhalten". Mithin sagt nach Aristoteles derjenige die Wahrheit, der vom Getrennten urteilt, es sei getrennt, von dem Zusammengesetzten, es sei zusammengesetzt",
In diesem Sinne war Aristoteles’ Konzeption eine Konzeption der Wahrheit und nicht der Falschheit, die das Fundament für die spätere Korrespondenz- oder Adäquationstheorie der Wahrheit legte. Für deren Entwicklung erwies sich zweierlei als wichtig: zum einen, dass man nach Aristoteles auch noch bei den Dingen selbst in Rücksicht darauf, was bei ihnen "durch Zusammensetzung und Trennung" vorliegt, vom Wahren und Falschen – vom "seienden Wahren oder Falschen" – sprechen konnte;
Die Kopplung von Aussagen mit der Wirklichkeit via "seelische Ersterfahrungen" war selbst systematisch wie eine Korrespondenzrelation gedacht, allerdings auf die herabgestufte Weise eines unmittelbaren Angrenzens-an oder Berührens. Das Berühren sollte für jene zwei Wissensebenen kennzeichnend sein, die in Aristoteles’ Systematik in der Vertikale die Extreme zu der Ebene des Verstandes bildeten: Zum einen die prälogische Ebene der Sinneswahrnehmung (aisthesis), in deren System das Tasten, mithin das Fühlen, den Mittelpunkt bildete. Zum anderen die hyperlogische Ebene der Vernunft (nous), deren Berühren für Aristoteles ein einfaches "Sagen" war, das der eidetischen Wirklichkeitsstruktur, dem Intelligiblen, galt. In beiden Fällen ist es laut Aristoteles so, dass das Wahre ein "Berühren" und damit "Wissen", das Falsche aber ein "Nicht-Berühren" und damit ein "Nicht-Wissen" ist.
Mittelalter
Aufgrund eines Gottesverständnisses, das von der Idee der Vernunft bestimmt war, hat Aristoteles’ Konzeption der Wahrheit im Europa des 13. Jahrhunderts große Wirkung zeitigen können. Es war Thomas von Aquin (1225–1274), der die aristotelische Wahrheitskonzeption wirkmächtig zur Korrespondenztheorie ausgestaltete. Er nahm das Ganze des Bezugsverhältnisses von Wissen und Wirklichkeit gleichsam "von oben" in den Blick, nämlich nach der theologischen Maßgabe, dass alle Dinge, die "vom praktischen menschlichen Verstand unabhängig" und also Naturdinge sind, "ihr Sein dem Entwurf des göttlichen Verstandes verdanken"
In dieser Konzeption kamen auch Bestimmungen der ersten definitionalen Theorie der Wahrheit des Theologen und Philosophen Anselm von Canterbury (1033–1109) zum Tragen, der die Maßgeblichkeit der eingelösten Wahrheit – "etwas ist deshalb wahr, weil es ist oder tut, was es sein bzw. tun soll"
Dabei sollte der Mensch die Wahrheit theoretisch über zwei Stufen erreichen: über ein einfaches (prärationales) Erfassen, in dem die erkennende "Seele" in den als Grundlage notwendigen "Zustand einer (…) Ähnlichkeit zum erfaßten Ding" gerät, sowie anschließend über das Urteilen, also den "Akt des Zusammensetzens oder Trennens erfasster Inhalte", mit dem der Verstand eine Eigenleistung vollzieht, die ihn vom Ding unterscheidet, um sodann entweder die "Angleichung an das Ding" zu erreichen, "die als ‚Wahrheit‘ bezeichnet wird" – veritas est adaequatio rei et intellectus – "oder aber die ‚Ungleichheit‘, die mit ‚Unwahrheit‘ gemeint ist"; Maßstab war hier aber immer "das Sein des Dings, über das geurteilt wird".
Bereits im 14. Jahrhundert wurde die Korrespondenztheorie der Wahrheit zum Problem. Denn ein verändertes Gottesverständnis, das – paradigmatisch im Nominalismus Wilhelm von Ockhams (1288–1347) – von der Idee der Allmacht Gottes bestimmt war, bedeutete das Ende des Ordnungsgedankens. Die Natur galt nun als "spontane, voraussetzungslose Setzung, die in einem absoluten Willen gründet": Alles wahrhaft Existente war "radikal individuell", das heißt "von Gott als absolut Neues aus dem Nichts erschaffen" und in seiner individuellen Tat-Sächlichkeit (Faktizität) anzuerkennen.
In der Konsequenz wurde "wahr" zu einem Prädikat, das sich nur noch auf einen Satz oder eine Aussage beziehen kann.
Neuzeit und Gegenwart
Noch beziehungsweise gerade heute besteht in der Philosophie weitgehend Übereinstimmung darin, "wahr" nur auf Aussagen anzuwenden, also auf Sätze im deklarativ-theoretischen Kontext des Behauptens oder Charakterisierens. Doch was wäre deren Bezugsobjekt? Denn wenn religiöser Glaube und Theologie nicht mehr bestimmend sind, kann selbst von Faktizität nicht mehr ohne Weiteres die Rede sein, jedenfalls nicht in Bezug auf all das, was nicht vom Menschen gemacht ist. Das philosophische Wahrheitsverständnis war also radikal zu überdenken.
Dieser Prozess setzte in der Neuzeit ein und wurde vor allem durch das Scheitern des groß angelegten Versuchs Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) beschleunigt, unter Bedingungen neuzeitlich konstituierter Subjektivität die vornominalistische Wahrheitstheorie mit ihren theologischen und ontologischen Implikationen zu erneuern. Dieses Scheitern zeigte sich unter anderem darin, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der angelsächsischen Spielart des Hegelianismus die sogenannte Kohärenztheorie der Wahrheit entstand. Jenseits von unklaren ontologischen Voraussetzungen sollte die Wahrheit nun in der Übereinstimmung der Aussagen untereinander liegen und eine Aussage dann wahr sein, wenn sie sich "in die Gesamtheit der vorhandenen und bereits miteinander in Einklang gebrachten Aussagen" eingliedern lässt.
Die Kohärenztheorie wird heute neben der Korrespondenztheorie als die zweite große Wahrheitstheorie betrachtet, ist aber streng genommen die Theorie eines Wahrheitskriteriums, das uns erlaubt, zu beurteilen, wann ein Anspruch auf Wahrheit – die nach wie vor als Übereinstimmung aufgefasst wird – als gerechtfertigt gelten kann.
Da die Kohärenztheorie die Beziehung zur Wirklichkeit unthematisiert lässt, ist das Wahrheitsverständnis insofern jetzt selbst "postfaktisch", wie im deutschen Sprachraum der Ausdruck post-truth wiedergegeben wird.
"Postfaktisch"?
Die Kohärenztheorie ist für die kybernetisch orientierte Systemtheorie des 20. Jahrhunderts und die systemtheoretisch orientierte Medientheorie von großer Bedeutung. Dass durch diesen Theorietypus eine Einstellung befördert werden kann, auf die das Schlagwort "postfaktisch" passt, und der Weg frei ist für "alternative Fakten", soll abschließend kritisch von Überlegungen des Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998) her verdeutlicht werden.
"Was wir über die Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Was wir über die Stratosphäre wissen, gleicht dem, was Plato über Atlantis weiß: Man hat davon gehört." Massenmedien sind demnach "eines der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft", die ihre "gesteigerte Leistungsfähigkeit" jeweils "der Ausdifferenzierung, der operativen Schließung und der autopoietischen Autonomie (…) verdank[en]". Deshalb werde man zwar "alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen". Denn zwar würde man sich "im klassischen Wahrheitsdiskurs, aber auch im Allgemeinverständnis von Wahrheit, (…) dafür interessieren, ob das, was die Medien berichten, stimmt oder nicht stimmt. Oder ob es halb stimmt und halb nicht stimmt, weil es ‚manipuliert‘ wird. Aber wie soll man das feststellen?"
Doch die Frage lautet: Kann man am Allgemeinverständnis von Wahrheit und am daran anschließenden klassischen Wahrheitsdiskurs so einfach vorbeigehen? Diesem zufolge können wir zwar nie sicher sein, wirklich "wahres" Wissen zu besitzen, sind zugleich aber in dem Maße fähig, zu prüfen, ob überhaupt Wissen auf den Weg gebracht ist, in dem das Sinnbild des Wissens das "Sehen" ist, das ein Dabei(gewesen)sein verlangt.
Auf Verlässlichkeit aber sind wir angewiesen. Daher ist eine post-truth era und sind "alternative Fakten" für uns keine ernsthafte Option. Philosophisch gälte es daher, gerade den klassischen Wahrheitsdiskurs und mit ihm das Bewusstsein lebendig zu halten, dass es letztlich auf Wissen im Sinne der Erkenntnis ankommt und dass die Aussagen, in denen sie sich darstellt, durch die Wirklichkeit und nicht willkürlich durch uns "wahr gemacht" werden.