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Bilder und "historische Wahrheit"

Jens Jäger

/ 13 Minuten zu lesen

Unsere Vorstellungen von der Vergangenheit sind durch Bilder geprägt. Besondere Persönlichkeiten der Geschichte, Ereignisse, Personen, Orte, Landschaften sind als Bilder präsent, teils in der Rolle von Zeitzeugen, teils als spätere Verbildlichungen. Die Unmittelbarkeit von Bildern, ihr scheinbar leicht zu entschlüsselnder Inhalt und die ästhetische Gestaltung machen sie zu eingängigen Informationsangeboten. Bilder öffnen einen spezifischen Zugang zur Vergangenheit.

Gleichzeitig beeinflussen sie die Geschichte. Es war und ist leicht, mit Bildern zu argumentieren und sie nachträglich zu verändern, und noch einfacher scheint dies im digitalen Zeitalter zu sein. Dabei handelt es sich um ein globales Phänomen, das alle politischen Systeme betrifft, denn Bilder sind zweifellos und schon sehr lange wichtige Vermittler von Informationen und Wissen, aber auch von Meinungen, ganz ohne Manipulation oder bewusste Fälschung. Doch wenn ein Bild nicht abstrakt ist oder offensichtlich einem anderen Zweck dienen soll, etwa vor allem ästhetischem Genuss, so gehen wir reflexartig zunächst davon aus, auf die Wahrhaftigkeit des Dargestellten vertrauen zu können.

Warum wird überhaupt von Bildern Glaubwürdigkeit und Wahrheit erwartet? Können Bilder lügen, wie immer wieder behauptet wird? Worin besteht der besondere Erkenntniswert von Bildern? Können sie der Schlüssel zu "historischer Wahrheit" sein?

Bilderglaube – Bilderskepsis

Der Reflex, Bildern glauben zu wollen, rührt daher, dass sie den Betrachterinnen und Betrachtern scheinbar große Freiheit im Urteil ermöglichen und die Künstlerinnen und Künstler die Welt gleichsam nur vermitteln. Bilder scheinen zunächst unmittelbar über die Wirklichkeit zu informieren, vor allem wenn es sich um gegenständliche Darstellungen handelt, die den Seheindruck imitieren oder sich an ihm orientieren. Weil Bilder sich mit der individuellen Erfahrung der Betrachter verknüpfen lassen, kann der Eindruck entstehen, dass die Seherfahrung vor dem Bild sich direkt auf den gezeigten Gegenstand richtet und die Subjektivität der Darstellung in den Hintergrund tritt – umso mehr, je realistischer die Abbildungsweise.

Ab der Renaissance strebte man – zumindest in der europäischen Malerei – danach, durch eine Verfeinerung der Technik Objekte möglichst dicht am menschlichen Seheindruck zu reproduzieren. Die Zentralperspektive rückte den Betrachter in eine privilegierte Position, scheint doch das Sichtbare auf das sehende Individuum ausgerichtet, das so ins Zentrum der Welt gesetzt wird. Dazu gesellte sich die Vorstellung, dass der geniale Künstler die sichtbare Welt wahrhaft – das bedeutet auch das innere Wesen der Dinge oder Geschehnisse umfassend – abbildet. Ein Bild sollte also auch ermöglichen, Abwesendes zu schauen und individuell zu erfahren.

Durch die technischen Revolutionen in der Bilderproduktion und Bilderverbreitung ab dem 19. Jahrhundert wurden Bilder immer schneller und für ein immer breiteres Publikum verfügbar. Die grundsätzliche Auffassung, dass die Welt, wie sie ist, durch Bilder darstellbar ist, hat diese Entwicklungen überdauert. Gleichwohl sind technisch produzierte Bilder ins Zentrum dieser Vorstellung gerückt: Ob analoge oder digitale, bewegte oder unbewegte Bilder, es wird ihnen zugeschrieben, die Wirklichkeit potenziell wahrheitsgemäß abzubilden, während künstlerischen Darstellungen weit mehr Subjektivität zugestanden wird.

Das hat teils technische Gründe: Fotografien und Filmaufnahmen erscheinen als Ergebnis eines Aufnahmeprozesses, der keinem menschlichen Einfluss unterliegt. Entsprechend hoch ist die Erwartung, dass sie jenseits von Standpunkten und Eingriffen informieren. Schon bei den Präsentationen der ersten brauchbaren fotografischen Verfahren 1839 wurde die weitgehende Unabhängigkeit dieser Art der Bildproduktion von menschlichen Fähigkeiten als die große Stärke fotografischer Technik gepriesen, die sie zur "objektivsten" Form der Abbildung mache.

An dieser Grundannahme hat sich wenig geändert. Das liegt daran, dass Fotografien meist nicht im Widerspruch zur Alltagserfahrung stehen: Die gezeigten Formen und Details werden sehr häufig als zutreffend empfunden, zwischen Bildobjekt und Realität werden Übereinstimmungen festgestellt. So lassen sich konkrete Personen und Dinge, Gebäude und Landschaften oder auch Zustände und Geschehnisse recht gut identifizieren, die aus eigener Anschauung oder vertrauenswürdigen Quellen bekannt sind. Diese Annahme wird auch auf Fotografien übertragen, die nicht mit persönlicher Erfahrung abgeglichen werden können. Zudem treten Fotografien in Beziehung mit anderen Bildern und Beschreibungen des Objekts. Prinzipiell steht ein ganzes Netzwerk medialer Repräsentation zur Verfügung, um den Realitätsgehalt eines Bildes zu überprüfen.

Kompliziert wird es bei Verknüpfungen mit Wissensbeständen, die sich nicht aus dem Bild selbst ergeben, sondern durch diejenigen hergestellt werden, die das Bild verwenden. Sinngebungen und Deutungen, Werturteile und Interpretationen, Zusammenhänge und Behauptungen können dann kontrovers sein. Hier können die banalen Tatsachen, die ein Bild zeigt, mit den alles andere als banalen Sinngebungen kollidieren. Es werden Spannungen erzeugt, die aus der Verbindung von "wahren" Bildaussagen oder Details und "falschen" Deutungen oder Zuschreibungen entstehen.

Widersprechen Bilder der Alltagserfahrung und dem vorhandenen Wissen, werden sie skeptisch betrachtet. Sind sie wie etwa eine Karikatur bewusst als Meinungsäußerung gestaltet, sind Betrachter darauf eingestellt, eine bestimmte Meinung zu sehen und richten ihre Skepsis daher nicht gegen das Bild an sich, sondern gegen dessen Urheber. Je realistischer ein Bild, desto höher die Erwartung, dass es sein Motiv unabhängig und wahrheitsgemäß wiedergibt, und desto eher tritt es selbst in die Zeugenrolle, mit allen Vorbehalten, die Zeugenaussagen begleiten. Entsprechend trifft der Vorwurf der Lüge vor allem gegenständliche Darstellungen.

Lügende Bilder?

Streng genommen kann ein Bild nicht im herkömmlichen Sinn lügen – es zeigt, was es zeigt. Das bedeutet jedoch nicht, dass Bilder passive Objekte in einem kommunikativen Prozess sind. Bilder können sehr wohl aus sich heraus wirken, Reaktionen hervorrufen und eine ganze Palette von Gefühlen erzeugen, die von nüchterner intellektueller Auseinandersetzung bis hin zu tiefster Abscheu reichen. Eine Lüge bedarf allerdings eines Bewusstseins, ebenso wie der Wille zur Wahrheit nicht aus dem Objekt herrührt, sondern aus der Motivation dessen, der es produziert und verwendet. Wenn also der Vorwurf gegenüber einem gegenständlichen Bild laut wird, es würde lügen, steht dahinter der Wunsch, dass die Bilderzeuger Wirklichkeit vermitteln sollen.

Nun besteht aber selten ein Konsens darüber, was "Wirklichkeit" war oder ist, und der gleiche Sachverhalt kann sehr unterschiedlich beurteilt werden. Ebenso können die Wahrnehmungen von Personen und Dingen weit auseinandergehen. Es ist leicht nachvollziehbar, dass es beispielsweise in der religiösen Kunst weniger darum geht, den äußeren Anschein einer Person oder eines Sachverhalts darzustellen, sondern vor allem darum, den Glauben anzuregen, zu bestärken und zu vertiefen. Auch ist der Bezugspunkt nicht die materielle Welt, sondern die Quelle der Offenbarung Gottes. Immer aber geht es um "Wahrheit", die Bilder sinnlich wahrnehmbar machen sollen. Die äußere Erscheinung der Dinge, Personen und Sachverhalte ist dabei eher sekundär.

Das gilt im weitesten Sinn für jede Bildform und zu allen Zeiten – selten geht es allein um das Abgebildete. Daher sind Bilder auch Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzung und damit als historische Quellen bedeutsam. Doch sind Bilder nicht wahrhaftiger oder realitätsgenauer als etwa Texte. Jedes Bild ist ausschnitthaft, stellt nur Teilaspekte der (vergangenen) Wirklichkeit dar und wird durch die Nutzer gezielt in Zusammenhänge eingebettet, die seinen Sinn erzeugen. Die Glaubwürdigkeit von Bildern hängt somit immer davon ab, wer zu welchem Zweck und in welcher Form Bilder erzeugt und nutzt sowie ob das Bild mit dem vorhandenen Wissen im Einklang steht, also plausibel ist und nicht anderen Bildern oder Erkenntnissen widerspricht.

Der Journalist Alain Jaubert hat 1986 zahlreiche Fotografien zusammengestellt, die retuschiert oder deren Erscheinung durch Ausschnittwahl und/oder -vergrößerung verändert wurden. Mal wurden Personen, mal Details aus einer Fotografie entfernt, mal Situationen durch Hineinkopieren von Personen erschaffen, die so vor einer Kamera niemals stattgefunden haben. Dennoch enthalten diese Fotografien Informationen und – wenn man so will – Partikel vergangener Wirklichkeit. Es lässt sich aber weder von einem realistischen Detail auf die Wahrhaftigkeit des ganzen Bildes schließen, noch wird damit die gewünschte Aussage, die meist durch beigefügte Bildlegenden oder Texte gesteuert wird, zu einer unhinterfragbaren Dokumentation.

Das gilt nicht nur für den Gebrauch von Fotografien in Diktaturen, sondern findet sich in allen politischen Regimen und allen gesellschaftlichen Zusammenhängen sowie – meist in milderer Form – selbst in privaten Fotoalben: Fotografien werden bearbeitet, beschnitten, mit anderen Bildern kombiniert und mit Texten versehen, die eine Geschichte erzählen, die nicht zwangsweise mit Aufnahmesituation, -zeitpunkt und -ort des fotografierten Geschehens zu tun haben muss.

Wenngleich gerade Fotografien aufgrund ihrer technischen Entstehungsbedingungen oftmals ein höherer Authentizitätsanspruch zugestanden wird, sind die damit begründeten Aussagen nicht per se glaubwürdiger. Sie werden es erst, wenn über Entstehungsbedingungen und Bearbeitung sowie Verwendung Klarheit besteht. Auch ihre "Wahrhaftigkeit" entsteht aus dem Zusammenspiel zwischen der Glaubwürdigkeit von Fotograf, Verbreiter und Technik.

Bilder als Historische Quellen

Bilder sind also niemals wahrer oder unwahrer als andere historische Quellen. Das Wort "Baum" etwa mag in einem Text korrekt geschrieben sein, das sagt aber noch nicht, warum es verwendet wurde. Ebenso im Bild: Dort mag ein bestimmter Baum in seiner äußeren Erscheinung richtig wiedergegeben sein, das sagt aber nichts darüber aus, warum und in welchem Zusammenhang er abgebildet wurde. Bilder können nicht der Königsweg zu so etwas wie "historischer Wahrheit" sein. Alle Bildformen reduzieren die Komplexität des Geschehens zunächst auf visuelle Aspekte, und auch diese werden zusätzlich vereinfacht, je nach Technik.

Selbst darüber, was überhaupt als "Bild" Gegenstand historischer Analyse sein soll, wird gestritten. Gehören bewegte Bilder, Skulpturen, Reliefs und Architektur dazu? Sind auch Träume, Fantasien und Metaphern Bilder? Muss ein Bild ein materielles Trägermedium besitzen, wie etwa Papier, Leinwand oder Pappe? Pragmatische Bildbegriffe, wie sie häufig ausdrücklich oder unterschwellig verwendet werden, orientieren sich an alltäglich bekannten Bildformen: So setzen zum Beispiel Gemälde, Zeichnung, Grafik, Fotografie, Plakat, Postkarte einen materiellen Bildträger voraus, der auch selbst als Objekt untersucht werden könnte.

Etwas abstrakter muss für ein Bild als geschichtswissenschaftliches Untersuchungsobjekt gelten, dass es wahrnehmbar für das menschliche Auge, künstlich im Sinne eines erfolgten menschlichen Eingriffs (wie gering er auch sei) sowie relativ dauerhaft im Sinne intersubjektiver Wiederholbarkeit der Wahrnehmung ist. Das schließt Bilder ein, die mithilfe technischer Apparate wie ein Projektor oder ein Bildschirm gezeigt werden, die also nicht fest mit einem materiellen Träger verbunden sind.

All diese Bilder ermöglichen historische Erkenntnis. Diese ergibt sich aber nicht nur aus dem Bild selbst, sondern auch aus den Sehgewohnheiten einer Epoche und einer Kultur – also aus dem, was üblicherweise in einer Gesellschaft in Bildern "gesehen" werden kann, darf und sollte. Der Weg zu historischer Erkenntnis aus und mit Bildern führt daher über zwei Ansatzpunkte: zum einen über das Bild selbst und seinen Inhalt sowie zum anderen über die Geschichte seiner Wahrnehmung und Interpretation.

Aber auch das führt nicht eher als Texte zu "historischer Wahrheit". Denn "historische Wahrheit" ist selbst ein problematischer Begriff, da sich der Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis notwendigerweise einer Überprüfung entzieht – Vergangenheit ist unzugänglich. Dennoch "können Aussagen über die Geschichte wahr beziehungsweise objektiv sein, sofern sie frei von inneren Widersprüchen sind, keinen Naturgesetzen zuwiderlaufen und es Überreste der vergangenen Wirklichkeit gibt, die bestimmte Thesen und Ansichten über das Gewesene zulassen", stellt der Historiker Stefan Jordan fest.

Bildquellen besitzen ihre Stärke darin, dass sie visuell erfahrbare Teilbereiche vergangenen Geschehens vermitteln, die auf andere Weise nicht überliefert wurden. Sie geben Auskunft über die Regeln dessen, was in einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit auf welche Weise gezeigt werden durfte.

So mag eine Fotografie Lenin bei einer Rede zeigen (Abbildung). Die Aufnahme entstand nachweislich am 5. Mai 1920, als Lenin in Moskau zu sowjetischen Truppen sprach. Der offiziell beauftragte Fotograf Grigori Petrowitsch Goldstein (1870–1941) machte mehrere Aufnahmen, von denen einige in verschiedenen Versionen abgedruckt wurden. Die Haltung und Geste Lenins, wie sie auf der linken Bildseite festgehalten wurde, hat sich zu einer Ikone sowjetischer Leninverehrung entwickelt. Der Bildbefund entspricht dem Wissen über das Aussehen Lenins; auch ist die Gesamtsituation korrekt beschrieben: eine Rede an einem bestimmten Tag an einem überprüfbaren Ort. Auch gibt es Informationen zu Kleidung und Körperhaltung, die gewiss nicht Anlass waren, in diesem Moment zu fotografieren.

Abbildung: Lenin spricht zu Rotarmisten, Moskau 05.05.1920 (© Staatliches Historisches Museum Moskau)

Dies alles bleibt erhalten, auch wenn bei späteren Veröffentlichungen des Bildes die ebenfalls abgebildeten Leo Trotzki und Leo Kamenev, nachdem sie 1927 in Ungnade gefallen waren, wegretuschiert und kleinere Details verändert wurden. Aus zeitgenössischer Sicht des Regimes war das ein legitimer, ja geradezu notwendiger Akt: Lenin galt es, zu verehren, doch nicht jene Mitstreiter der Revolution, die nunmehr als Verräter galten, aber im ikonischen Bild durch die Nähe zum Revolutionshelden ebenfalls geehrt worden wären. Zweifellos war dies eine Bildmanipulation, und sie zeigt, wie wichtig dieses Bild genommen wurde und auch noch wird.

Natürlich ist das retuschierte Bild keine Aufnahme, die das Kriterium erfüllt, dass alles, was im Augenblick des Fotografierens auf der lichtempfindlichen Schicht eine Reaktion ausgelöst hat, auch auf dem Abzug zu sehen sein muss – das gilt für die erste Abbildung, soweit das ermittelbar ist, ohne dass dies der entscheidende historische Aussagewert wäre. Das zweite Bild erfüllt diese Anforderung nur in Teilen und ist dadurch eine besonders aufschlussreiche Quelle, weil es Hinweise auf Weltsicht und Absicht derjenigen gibt, die das Bild veränderten – und genau das bedarf einer entsprechenden kritischen Analyse.

Fazit

Grundsätzlich ist also nie zu erwarten, dass sich vergangene Realität in all ihrer Komplexität auf direkte Weise in Bildern wiederfände. Das Abgebildete zeigt immer nur eine von vielen möglichen Sichtweisen und ist stets durch Technik und Entscheidungen des Fotografierenden eingeschränkt. Auch die Möglichkeiten, Bilder zu bearbeiten, hat es immer gegeben; das ist kein Phänomen der Gegenwart. Entscheidender ist, warum ein Bild entstand und in welcher Form es in einem Kommunikationsprozess eine Rolle spielte, sowie die Frage nach den Zusammenhängen, die bewusst oder unbewusst hergestellt wurden. Das bedarf keiner Manipulation oder Inszenierung im Bild.

Zudem gelingt Kommunikation mit Bildern auch nicht besser als mit dem gesprochenen oder geschriebenen Wort. Bilder können, wie beschrieben, durchaus Reaktionen hervorrufen, die der Absicht des Bilderproduzenten und -verbreiters überhaupt nicht entsprechen. Kurz: Geschichtliche Ereignisse lassen sich über Bilder weder realitätsgenauer darstellen noch sind sie weniger komplex. So kann eine visuelle Darstellung Ereignisse symbolisch verdichten oder zu einer Ikone werden, an die Vorstellungen zu einem Geschehen anknüpfen. Aber das macht sie nicht zu einer wahrhaftigeren, sondern zu einer höchst interessanten Quelle.

Bilder zeigen keine zuverlässigere oder "wahrere" Geschichte, sie sind notwendiger Teil historischer Erzählung und können Vorstellungen korrigieren, ergänzen und teils auch überhaupt erst ins historische Bewusstsein bringen. Ebenso konkretisieren sie historische Zustände und liefern Wissen, das in anderen Quellen nur schwerlich oder überhaupt nicht zu finden ist. Gleichzeitig sind sie integraler Bestandteil im historischen Prozess, da sie fast immer zu kommunikativen Zwecken verwendet werden, um zu informieren, zu kritisieren, Standpunkte zu belegen, Meinungen zu festigen oder zu erschüttern. Mal wenden sie sich an den Intellekt der Betrachter, mal an die Emotionen, und oft vermögen sie auch beides anzusprechen.

Da gegenständliche Bilder Geschehen einerseits verdichten, andererseits aber auch sehr viel "Wirklichkeit" ausblenden, vermischen sie einen dokumentarischen Eindruck mit symbolischer Wirkung. Sie bringen ein gesamtes Ereignis in individuelle und zuweilen kollektive Erinnerung und überlagern sie. Daher sind sie für das historische Erzählen bedeutsam und werden entsprechend eingesetzt.

Die Deutungen hängen stark vom Kontext ab, in denen die Bilder dem Betrachter begegnen. Die Zusammenhänge sind bereits zeitgenössisch verschieden und ändern sich im Verlauf der Zeit. Für die einen ist Lenin eine positive Figur, die Tatsache der Russischen Revolution ein Glücksfall der Geschichte. Für andere ist Lenin eine negative Erscheinung und die Russische Revolution eine Katastrophe. Diese Standortgebundenheit der Betrachter lässt sich nicht auflösen, selbst wenn für alle Streitenden ein Bild als korrekte Darstellung eines Sachverhalts gilt – so hat bei dem Beispiel nie jemand die Tatsache bezweifelt, dass tatsächlich Lenin abgebildet und die Hauptfigur ist.

Die unabwendbaren und notwendigen Diskussionen über Bilder und das, was sie (vermeintlich) zeigen und zu beweisen vermögen, können tiefe Einblicke in die Prozesse geben, aus denen sich das entwickelt, was landläufig als "Geschichte" gilt, und zu dieser gehören Bilder, ohne die historische Erkenntnis blind bliebe und begrenzter wäre als notwendig.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. etwa Andreas Schreitmüller, Alle Bilder lügen. Foto – Film – Fernsehen – Fälschung, Konstanz 2005; Hans Walter Hütter/Petra Rösgen, Bilder, die lügen, Bonn 1998; Frank Miener, Bilder, die lügen. Fotos in den Printmedien im digitalen Zeitalter. Eine Betrachtung der Risiken und Sicherung für Redaktionen, Norderstedt 2004.

  2. Vgl. Hans Belting, Zu einer Ikonologie der Kulturen. Die Perspektive als Bilderfrage, in: Gottfried Boehm/Horst Bredekamp (Hrsg.), Ikonologie der Gegenwart, München 2009, S. 9–20.

  3. Nachzulesen in jeder einführenden Geschichte der Fotografie, ausführlich bei Peter Geimer, Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2009.

  4. Vgl. Karl Kardinal Lehmann, Das Bild zwischen Glauben und Sehen, in: Boehm/Bredekamp (Anm. 2), S. 83–98.

  5. Siehe Alain Jaubert, Le Commissariat aux archives: les photos qui falsifient l’histoire, Paris 1986 (deutsche Ausgabe: Fotos, die lügen. Politik mit gefälschten Bildern, Frankfurt/M. 1989). Vgl. auch David King, The Commissar Vanishes: The Falsification of Photographs and Art in Stalin’s Russia, London 1997.

  6. Vgl. Christine Brocks, Bildquellen der Neuzeit. Paderborn 2012, S. 13–19; Gerhard Paul, Das Jahrhundert der Bilder. Die visuelle Geschichte und der Bildkanon des kulturellen Gedächtnisses, in: ders. (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder, Bd. 1: 1900–1949, Bonn 2009, S. 14–39. Grundlegende Überlegungen finden sich bei Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994.

  7. Vgl. Brocks (Anm. 6); Michael Maurer, Bilder, in: ders. (Hrsg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 4: Quellen, Stuttgart 2002, S. 402–426; Rolf Reichardt, Bild- und Mediengeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hrsg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 219–230; Irmgard Wilharm, Einleitung. Geschichte, Bilder und die Bilder im Kopf, in: dies. (Hrsg.), Geschichte in Bildern. Von der Miniatur zum Film als historische Quelle, Pfaffenweiler 1995, S. 7–24.

  8. Ausführlicher bei Jens Jäger, Überlegungen zu einer historiografischen Bildanalyse, in: Historische Zeitschrift 304/2017 (i.E.).

  9. Stefan Jordan, Vetorecht der Quellen, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010. Externer Link: http://docupedia.de/zg/Vetorecht_der_Quellen.

  10. Klaus Waschik, Wo ist Trotzki? Sowjetische Bildpolitik als Erinnerungskontrolle in den 1930er Jahren, in: Paul (Anm. 6), S. 252–259.

  11. Diese Tilgung aus dem öffentlichen Andenken ist seit der Antike als damnatio memoriae bekannt. Für ausführliche Informationen zu dem Bild und seiner Veröffentlichungsgeschichte vgl. Klaus Waschik, Virtual Reality. Sowjetische Bild- und Zensurpolitik als Erinnerungskontrolle in den 1930er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1/2010, S. 30–54, Externer Link: http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2010/id=4745.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Jens Jäger für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Heisenberg-Stipendiat und Professor für Mittlere und Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität zu Köln. E-Mail Link: jens.jaeger@uni-köln.de