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Kleine Geschichte des politischen Faktenchecks in den Vereinigten Staaten

Lucas Graves

/ 15 Minuten zu lesen

In den vergangenen zehn Jahren ist vor allem in den Vereinigten Staaten, aber zunehmend auch in aller Welt, mit dem Faktencheck eine neue Medieninstitution entstanden. Immer mehr Organisationen spezialisieren sich darauf, Behauptungen von Politikerinnen und Politikern auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, sei es als unabhängige Website, als fester Bestandteil einer Zeitung oder im Rahmen von Nachrichtensendungen. Derzeit gibt es weltweit über Hundert Faktencheck-Websites, die fast alle nach 2010 online gegangen sind, und während des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2016 griff so gut wie jeder Nachrichtenanbieter auf politische Faktenchecks zurück. Wie ist diese rasche Verbreitung zu erklären?

Das neue Genre geht eindeutig über das hinaus, was der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Kevin Barnhurst anschaulich als new long journalism bezeichnet hat – den umfassend dokumentierten Wandel über das vergangene halbe Jahrhundert hin zu einer stärker interpretierenden, analytischen und kritischen Berichterstattung insbesondere bei politischen Themen. Expertinnen und Experten verstehen diese noch stärkere Hinwendung zum Analytischen überwiegend als einen Kulturwandel im Journalismus, der ein verändertes gesellschaftliches Klima, aber auch das Streben der Reporterinnen und Reporter nach beruflichem Status und Autorität widerspiegelt. Gestützt wird diese Annahme davon, wie Journalistinnen und Journalisten über das Faktenchecken berichten, sowie von ihrer selbstbewussten Darstellung, dass es sich dabei um eine Innovation beziehungsweise Evolution der politischen Berichterstattung handelt. Die Faktencheck-Bewegung reproduziert die mit einem analytischeren Journalismus verknüpfte Berufsethik.

In diesem Umfeld hat sich eine Art Institutionengeschichte herausgebildet, in der die Faktenchecker die Wurzeln ihrer Vorgehensweise entlang von Ereignissen rekonstruieren, die bis in die 1980er Jahre zurückreichen. Diese Geschichte erzählt vom Versagen der herkömmlichen objektiven Berichterstattung und wie die Zunft mit neuen Ideen und Techniken darauf reagierte. Zugleich schafft sie einen gemeinsamen Bezugsrahmen, der die Selbstwahrnehmung der Faktenchecker als journalistische Reformerinnen und Reformer untermauert, und liefert damit einen weiteren Beleg für jenen "metajournalistischen" Diskurs, mit dem der Journalismus sich als Community reproduziert, Grenzen festlegt und berufliche Wertvorstellungen geltend macht oder infrage stellt – insbesondere die Objektivität.

In diesem Beitrag möchte ich die Geschichte des politischen Faktenchecks im US-amerikanischen Journalismus beleuchten, die zur Gründung jener drei Organisationen führte, die zu den Leuchttürmen dieser mittlerweile globalen Bewegung gehören: FactCheck.org, PolitiFact sowie die Kolumne "Fact Checker" der Tageszeitung "Washington Post".

Sorgenkind Objektivität

Eine Berichterstattung, die Behauptungen von Politikern entlarvt, hat eine lange Tradition auf Meinungsseiten, im investigativen Journalismus oder in der alternativen Presse. So brachte beispielsweise ab Ende der 1950er Jahre der linksorientierte Journalist Isidor Feinstein Stone in seinem Skandalblättchen "I.F. Stone’s Weekly" Infokästen mit knappen Faktenchecks. Dennoch war es im 20. Jahrhundert selten, dass Übertreibungen und Täuschungen durch Personen des öffentlichen Lebens in der Nachrichtenberichterstattung direkt kritisch hinterfragt wurden.

Immerhin bezeichneten Reporter dies bereits in den 1950er Jahren als eine Art Achillesferse des objektiven Journalismus. "Seit Jahrzehnten huldigt die amerikanische Presse dem Gott der Objektivität", schrieb ein Zeitungsredakteur 1951 auf dem Höhepunkt der antikommunistischen Hysterie, "das schien die Wähler umfassend zu informieren, bis zur Erfindung der Technik der großen Lüge". Die Neutralitätsverpflichtung bedeutete mithin, dass sich skrupellose Politiker vom Schlage eines Senators Joseph McCarthy darauf verlassen konnten, dass die Medien auch die wildesten Behauptungen wortgetreu übermitteln würden. Wie ein anderer Zeitgenosse feststellte, "leistet die objektive Berichterstattung unter dem Druck von McCarthys Methoden schlichtweg skandalösen Unwahrheiten Vorschub".

In den 1980er Jahren begannen Journalisten, Behauptungen von Politikern selbstbewusster anzuzweifeln. Dies war zum Teil auch eine Reaktion auf die wachsende Kritik am Versagen der wortgetreuen Berichterstattung früherer Jahrzehnte. Mit der Wahl Ronald Reagans zum US-Präsidenten 1980 trat ein Vorläufer des modernen Faktenchecks in Erscheinung. Reagans späterer Ruf als "Großer Kommunikator" lässt leicht in Vergessenheit geraten, dass er bereits bei seinem Einzug ins Weiße Haus für Fehler und Übertreibungen bekannt war. Auf seiner Wahlkampftour hatte er behauptet, Bäume verursachten mehr Luftverschmutzung als Autos und in Alaska gebe es mehr Öl als in Saudi-Arabien. Immer wieder stellte er Einzelheiten jener staatlichen Programme falsch dar, die er abschaffen wollte. Dieses Motiv zog sich durch seine gesamte Präsidentschaft. "Ronald Reagan hat aus der Pressekonferenz im Weißen Haus ein Forum für Ungenauigkeit, Verfälschung und Unwahrheit gemacht", hieß es gegen Ende seiner Amtszeit.

Zu den Zeitungen, die vom Präsidenten vorgelegte Fakten kritisch hinterfragten, gehörte die "Washington Post". Als Reagan sein Amt antrat, begann sie, mit kurzen Analysebeiträgen zu experimentieren, die als Zusatzinformationen zu den Nachrichtenbeiträgen fungierten und seine falschen Behauptungen hervorhoben. Als Rechtfertigung für diese Genauigkeit wies die Zeitung auf die Vorgeschichte des Präsidenten hin: "Reagans Pressekonferenz folgt bekanntem Muster" lautete etwa die Schlagzeile eines Artikels im September 1982, der Reagans "zahlreiche sachliche Fehler" in einer Wirtschaftsdebatte auflistete. Ein eindrucksvolles Beispiel lieferte auch 1985 die Auswertung eines Radiointerviews, in dem Reagan den Fortschritt verteidigt hatte, den das Regime in Südafrika beim Abbau der Apartheid gemacht habe: Die "Washington Post" widmete Reagans Ausführungen einen sehr kritischen Aufmacher, und ein Infokasten des Johannesburger Korrespondenten der Zeitung unterzog vier wesentliche Behauptungen einem Faktencheck.

Der ehemalige Herausgeber der "Washington Post", Len Downey, erklärte später, Reagans Reputation habe die Zeitung praktisch zu diesem neuen Konzept gezwungen: "Ich hielt es für wichtig, dass die Leser wussten, wann er ungenau war." Doch nach Protesten seitens der Leserschaft wurde das Format wieder aufgegeben. "Wir hörten damit auf, jede Pressekonferenz einer Wahrheitsprüfung zu unterziehen und überließen es nun den Demokraten. (…) Wir zitierten dann beide Seiten", erinnert sich der ehemalige Reporter Walter Pincus. Auch insgesamt nahm die Zahl solcher Faktenchecks in den späteren Jahren von Reagans Präsidentschaft stark ab. "Diese Praxis ließ nach, als deutlich wurde, dass es die meisten Amerikaner nicht sonderlich interessierte", so der Medienkritiker Howard Kurtz.

Aufstieg des AdWatch

Der US-Präsidentschaftswahlkampf 1988 zwischen Vize-Präsident George H.W. Bush und dem Gouverneur des Bundesstaates Massachusetts, Michael Dukakis, gilt in der Geschichte des Faktenchecks als entscheidend. Noch vor seinem Ende galt er bereits als Tiefpunkt aller politischen Kampagnen in den Vereinigten Staaten. "Das Fakten- und Genauigkeitsniveau liegt weit unter dem Standard für eine Präsidentschaftskampagne", erklärte die Kommunikationswissenschaftlerin Kathleen Hall Jamieson kurz vor der Wahl, "das ist der erste Präsidentschaftswahlkampf, an den ich mich erinnern kann, in dem kapitale sachliche Fehler so vorgebracht werden, als entsprächen sie der Wahrheit".

Nach der Wahl beklagten Medienkritikerinnen und Journalisten, die Berichterstattung sei irrelevant geworden, da sie sich fortwährend auf Reden und Positionspapiere konzentriert habe und dabei den bösartigen, wahrheitsverzerrenden "Sendekrieg" mit Wahlkampfspots überwiegend ignoriert habe, der einen Großteil der Wahlkampfgelder verschlungen und möglicherweise das Ergebnis entschieden habe. Der Kolumnist der "Washington Post" und sogenannte Dekan des Pressekorps in Washington, David Broder, verfasste eine Reihe von Beiträgen über das Debakel, die Faktenchecker heute als ihre Gründungsdokumente bezeichnen. Darin mahnte Broder Reporter an, Wahlwerbung einem Wahrheitstest zu unterziehen. Er nahm die politischen Beraterinnen und Berater aufs Korn, deren Kontakte zur Presse seiner Meinung nach dazu führten, dass die Medienberichterstattung im Wahlkampf milde blieb. Außerdem bot er jenen Stimmen im Journalismus und in der akademischen Welt eine Plattform, die für eine aggressivere Wahlkampfberichterstattung plädierten.

"Wir sollten jeden Spot so behandeln, als wäre er eine Rede des Kandidaten selbst", schrieb Broder, als 1990 der Kongresswahlkampf in Fahrt kam, "tatsächlich werden ihn weit mehr Menschen sehen beziehungsweise hören als irgendeine Rede, die er live vor einem Publikum hält". Er bot Pressevertreterinnen und Pressevertretern ein Rezept, wie sie Fehler aus der Vergangenheit vermeiden könnten: "Wir müssen Belege bei dem Kandidaten fordern, der den Spot geschaltet hat, eine Gegendarstellung von seinem Kontrahenten einholen und dann den Fall selbst so weit untersuchen, dass man dem Leser sagen kann, was Fakt ist und was destruktive Fiktion. Auch sollten wir nicht zögern, es klar zu benennen, wenn wir einen Kandidaten beim Lügen, Übertreiben oder beim Entstellen von Fakten ertappen. Die Berater werden immer raffinierter darin, visuell oder verbal Aussagen anzudeuten, die sie in klaren Worten vermeiden."

Vorlagen hatte der Präsidentschaftswahlkampf 1988 geliefert. Gegen Ende hatte Dukakis die Falschaussagen aufgegriffen, die Bush in zwei aggressiven Fernsehspots über ihn verbreitet hatte. Einer davon war der mittlerweile legendäre "Panzerspot", in dem Dukakis beschuldigt wurde, sich gegen "praktisch jedes Verteidigungssystem, das wir [die Reagan-Administration] entwickelt haben", zu stellen. Eine lange Liste wichtiger Verteidigungsprogramme lief über den Bildschirm, während im Hintergrund wenig schmeichelhafte Aufnahmen Dukakis zeigten, der in einem Panzer mitfuhr. Die Vorwürfe waren fast völlig haltlos, und zwei Wochen vor der Wahl nahm der Fernsehsender ABC den Spot in einer Nachrichtensendung auseinander. Der Beitrag hob zunächst Dukakis’ Beanstandungen hervor, ging dann aber dazu über, eine Behauptung aus dem Spot nach der anderen entschieden zu widerlegen. Davon inspiriert, zerlegte auch ein Artikel der "Washington Post" zwei Tage später den "Panzerspot" sowie ein weiteres, rassistisch aufgeladenes Wahlwerbevideo, in dem Bush Dukakis Verbrechen anlastete, die Strafgefangene während eines Wochenend-Hafturlaubs begangen hatten, den Dukakis als Gouverneur in seinem Bundesstaat auch Schwerverbrechern ermöglicht hatte.

Die Nachrichtenkanäle konzipierten ihre Faktenchecks als Analysen der verfälschenden Darstellungen beider Seiten, wobei Bushs Taktik deutlich übler war. "Das Problem [ist], dass man immer beide Seiten einer Geschichte beleuchten will", sagte der Produzent des ABC-Beitrags Jahre später, "in diesem Fall gab es aber nur eine Seite".

Während des Kongresswahlkampfs 1990 erschienen immer mehr sogenannte Adwatch-Beiträge zur Überprüfung von Wahlwerbung auf ihren Wahrheitsgehalt, sowohl im Fernsehen als auch in den Zeitungen, wo sie inoffiziell als truth boxes bekannt wurden. Journalisten beschrieben das Format als eine Art professionelle Innovation, die durch immer niederträchtigere Wahlkampftaktiken erforderlich geworden sei. "Das ist das Jahr, in dem es zu einer ernsthaften Auflehnung gegen die zunehmende Schäbigkeit in unserer Politik kommen könnte", schrieb Broder, nachdem er Beispiele von Faktenchecks im ganzen Land untersucht hatte. In einer weiteren positiven Einschätzung des Trends berief sich der Medienjournalist Tom Rosenstiel auf den Urtext der Kampagnenberichterstattung, um das neue Genre zu erklären: "In diesem Jahr haben die amerikanischen Nachrichtenmedien etwas in Angriff genommen, das viele Wahlkampfexperten und Journalisten als den ersten echten Fortschritt in der Presseberichterstattung über Politik bezeichnen, seit Theodore White in seinem richtungsweisenden Buch ‚The Making of the President 1960‘ erstmals einen Blick hinter die Kulissen der Mechanismen der Kampagnenführung geworfen hat."

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 1992 brachten mehr als die Hälfte der größten US-Zeitungen mindestens einen Adwatch-Bericht. TV-Nachrichtenredaktionen griffen das Format dankbar auf, allen voran der Nachrichtensender CNN, der seine Sonderredaktion auf Faktenchecks ansetzte. In den letzten Wahlkampfmonaten folgten andere Sender diesem Beispiel. CBS verwendete die Bezeichnung "Campaign ’92 Reality Check" und setzte bei der Einführung der Beiträge ein Stempellogo ein. Der Trend griff auch auf Lokalredaktionen über: 2007 ergab eine Befragung von Nachrichtendirektoren lokaler Fernsehkanäle, dass der Anteil derer unter ihnen, die Adwatch-Beiträge sendeten, von unter zehn Prozent Mitte der 1990er Jahre auf fast 50 Prozent gestiegen war.

"Jahr des Faktenchecks"

Als eine Art Begleiterscheinung des adwatching entstand die Website FactCheck.org. Brooks Jackson, damals Politikredakteur bei CNN, wurde 1991 von der Sendergruppe mit der Erstellung von Adwatch-Beiträgen betraut. "Ich tat es nur ungern", blickt er zurück, "denn es passte nicht zu dem, was ich nach meiner Ausbildung und meiner langen Erfahrung bei Associated Press und dem ‚Wall Street Journal‘ mit objektiver journalistischer Arbeit verband, da es mehr oder weniger notwendig war, seine persönliche Meinung einzubringen, falsche oder irreführende Dinge auch als solche zu benennen und Schlussfolgerungen zu ziehen". Dennoch machte er sich das neue Format zu eigen, das in der Sendergruppe rasch beliebt wurde. Bald stellten die Beiträge Behauptungen infrage, die über politische Werbung hinausgingen, und wurden als "Faktenchecks" bezeichnet.

Um das Format weiterzuentwickeln, arbeitete Jackson eng mit Kathleen Hall Jamieson zusammen. Deren Forschung legte nahe, dass schlecht konzipierte Faktenchecks die Botschaften, die sie eigentlich widerlegen wollten, noch verstärken konnten. Das Interesse von CNN an dem Format ebbte jedoch wieder ab, sodass Jackson und Jamieson 2003 mit Mitteln der Annenberg-Stiftung FactCheck.org gründeten. In einem Radiointerview vor den Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl in Iowa 2004 präsentierte Jackson die Website als eine Kurskorrektur des politischen Journalismus: "Seit Teddy White dieses wunderbare Buch ‚The Making of the President 1960‘ geschrieben hat, haben sich Berichterstatter meiner Meinung nach zu sehr in die Richtung bewegt, über Wahlkampagnen zu berichten wie über Pferderennen. Sie haben Insiderinformationen darüber gebracht, was die Kampagnen bezwecken, wie sie Umfragen nutzen, wie sie Gelder beschaffen, wer noch im Rennen ist und wer nicht. Ich glaube, das Pendel ist vor einer oder sogar vor zwei Generationen ein bisschen zu weit in die Richtung ausgeschlagen, dass über Abläufe berichtet wird. Wenn FactCheck.org ein wenig dazu beitragen kann, dass dieses Pendel wieder zurück zu einer substanziellen Berichterstattung schwingt, dann, denke ich, werden wir etwas erreicht haben, das es wert ist, erreicht zu werden."

Mit dem Start von FactCheck.org ging eine Welle von Faktenchecks bei Zeitungen und TV-Sendern einher, sodass 2004 bald als das "Jahr des Faktenchecks" bezeichnet wurde. Journalisten beschrieben diese Entwicklung als eine Reaktion auf die ungewöhnlich raue Kampagnenführung in jenem Jahr. Verkörpert wurde diese durch die "Swift Boat"-Spots, die die Vergangenheit des Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, John Kerry, im Vietnamkrieg infrage stellten. Was mit der Untersuchung der "Swift Boat"-Kampagne begann, etablierte sich bald als festes Format.

Eine Episode, der im Umfeld der Faktenchecker für diesen Prozess große Bedeutung zugeschrieben wird, ist die theatralische Rede des Gouverneurs von Georgia, Zell Miller, auf dem Parteitag der Republikaner 2004. Miller spulte eine Liste militärischer Programme herunter, gegen die John Kerry als Senator gestimmt hatte, um damit zu suggerieren, dessen Schwachpunkt liege in der Verteidigungspolitik. Dabei hatte es sich überwiegend um verfahrensrechtliche Abstimmungen gegen Gesetzesvorlagen gehandelt, die Kerry letztlich unterstützte – und das wussten auch die Journalisten. "Die Rede von Zell Miller war für mich eine Art Offenbarung. Ich schrieb nichts anderes als eine Pferderennen-Story und fühlte mich dabei echt schuldig", blickt Bill Adair zurück, der in der Folge PolitiFact gründete. "Die Sache entwickelte sich aus einem Schuldgefühl heraus. (…) Ich war ein passiver Mitverschwörer gewesen, indem ich ungenaue Informationen weitergegeben hatte, ohne sie auf die Art und Weise einem Faktencheck zu unterziehen, wie ich es hätte tun sollen. Daher trat ich mit dem Vorschlag an meine Redaktion heran, wir sollten eine Website aufbauen, auf der wir rund um die Uhr Faktencheck betreiben würden."

Eine ähnliche Vorgeschichte hat auch die Kolumne "Fact Checker" in der "Washington Post". Die Recherche unter anderem zu den "Swift Boat"-Vorwürfen während des Präsidentschaftswahlkampfs 2004 überzeugte Michael Dobbs von der Notwendigkeit, den Faktencheck in der Zeitung für die nächsten Präsidentschaftswahlen zu institutionalisieren. Glenn Kessler, der 2011 Dobbs Nachfolge als Faktenchecker der Zeitung antrat, verweist ebenfalls auf den Wahlkampf 2004: "Das Niveau der Attacken während des Parteitages der Republikaner ließ uns die Notwendigkeit erkennen, die Dinge für unsere Leser in den Kontext zu stellen."

Beide betonen, dass sie zuvor über Diplomatie und internationale Angelegenheiten berichtet hatten. "Ich schrieb diese außergewöhnliche Story über den Zusammenbruch des Kommunismus", erzählte Dobbs 2007 im Kreis anderer Faktenchecker: "Als wir diese Story schrieben, versuchten wir nicht, fair und ausgewogen zu sein. Wir versuchten zwar fair zu sein, aber wir versuchten nicht, ausgewogen zu sein. (…) Wir versuchten die Wahrheit zu erzählen, wie sie sich uns darstellte. Hätten wir uns an die strengen Gepflogenheiten des amerikanischen Journalismus gehalten, wären wir nicht in der Lage gewesen, diese unglaubliche Geschichte zu beschreiben, die sich da sehr wahrhaftig vor unseren Augen abspielte."

Fazit

Auf die geschilderte Weise sehen Praktiker den Faktencheck als Teil des fragilen Machtgleichgewichts zwischen Journalisten und Politikern. Eine gemeinsame Erzählung von Erfolgen und Misserfolgen in der politischen Berichterstattung verfestigt ihre Wahrnehmung des Faktenchecks als professionelle Antwort auf neue Taktiken und Techniken in der Politik.

Wirklich neu ist diese Art historiografisches Projekt natürlich nicht. Auf die kulturelle Leistung ist bereits hingewiesen worden, die es bedeutet, wenn Reporter miteinander über heroische und weniger heroische Episoden in der Geschichte des Journalismus sprechen. Journalisten "finden zueinander, indem sie Geschichten über ihre Vergangenheit erzählen, die routinemäßig und informell unter ihnen zirkulieren", argumentiert etwa die Kommunikationswissenschaftlerin Barbie Zelizer. Dieses "Storyrecycling" diene dazu, sich gemeinsamer Werte und Praktiken zu versichern und neue zu legitimieren, um "den Praktiken Geltung zu verschaffen, denen traditionelle Auffassungen von Journalismus keine Bedeutung einräumen". So hätten Reporter im Rückblick auf die höchst unkritische Berichterstattung auf dem Höhepunkt des McCarthyismus diese peinliche Geschichte zu einem moralischen Lehrstück gemacht, das einen Wandel hin zu einem kritischeren, interpretierenden Journalismus rechtfertigte.

Daher überrascht nicht, dass häufig noch eine andere Geschichte zur Sprache kommt, wenn Faktenchecker über ihre Bewegung sprechen: der Irak-Krieg 2003. Immer wieder weisen Journalisten auf Faktenchecks als Mittel gegen die wortgetreue Berichterstattung hin, die der Administration von US-Präsident George W. Bush half, für den Krieg zu argumentieren. In praktischer Hinsicht ergibt diese Verbindung wenig Sinn, denn politische Faktenchecker dürften kaum über die entsprechenden Ressourcen verfügt haben, um die Angaben des Weißen Hauses zum irakischen Waffenprogramm zu widerlegen. Sie ergibt hingegen durchaus Sinn, wenn wir den Faktencheck als eine Reaktion auf die leichtgläubige Insiderkultur verstehen, die die Leistung der Medien beeinflusst – als einen selbstbewussten Versuch, das Machtgleichgewicht zwischen Journalisten und Amtsträgern wiederherzustellen.

Übersetzung aus dem Englischen: Peter Beyer, Bonn.

Dieser Beitrag basiert auf Lucas Graves, Deciding What‘s True. The Rise of Political Fact-Checking in American Journalism, New York 2016.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Lucas Graves/Federica Cherubini, The Rise of Fact-Checking Sites in Europe, Oxford 2016.

  2. Kevin G. Barnhurst, The Makers of Meaning: National Public Radio and the New Long Journalism, 1980–2000, in: Political Communication 1/2003, S. 1–22.

  3. Vgl. Matt Carlson, "Where Once Stood Titans": Second-Order Paradigm Repair and the Vanishing US Newspaper, in: Journalism 13/2012, S. 268f.

  4. Vgl. Lucas Graves, Blogging Back Then: Annotative Journalism in I.F. Stone’s Weekly and Talking Points Memo, in: Journalism 16/2015, S. 99–118.

  5. Houston Waring, zit. nach Ronald May, Is the Press Unfair to McCarthy?, in: New Republic, April 1953, S. 10ff.

  6. Vgl. die Diskussion bei Barbie Zelizer, Journalists as Interpretive Communities, in: Critical Studies in Mass Communication 10/1993, S. 230–233.

  7. Vgl. Michael Schudson, The Power of News, Cambridge MA 1995, S. 137.

  8. Christopher Hanson [William Boot], Iranscam: When the Cheering Stopped, in: Columbia Journalism Review 2/1987, S. 20.

  9. Vgl. Michael Dobbs, The Rise of Political Fact-Checking, Washington D.C. 2012.

  10. David Hoffman, Press Conference By Reagan Follows Familiar Pattern, in: Washington Post, 30.9.1982, S. A20.

  11. Vgl. Lou Cannon, Reagan Calls South Africa "Reformist", in: Washington Post, 27.8.1985, S. A1.

  12. Zit. nach Dobbs (Anm. 9), S. 4f.

  13. Zit. nach Buying the War, in: Bill Moyers Journal, PBS, Sendung vom 25.4.2007.

  14. Howard Kurtz, 15 Years Later, the Remaking of a President, in: Washington Post, 7.6.2004, S. C1. Siehe auch Dobbs (Anm. 9), S. 4f.

  15. Vgl. etwa Lori Robertson, Campaign Trail Veterans for Truth, December/January 2005, http://ajrarchive.org/Article.asp?id=3784.

  16. Zit. nach Lloyd Grove, Campaign Ads Play Fast and Loose With the Truth, in: Washington Post, 21.10.1988, S. A1.

  17. So etwa Tom Rosenstiel, Policing Political TV Ads, in: Los Angeles Times, 4.10.1990, S. A1.

  18. David Broder, Five Ways to Put Some Sanity Back in Elections, in: Washington Post, 14.1.1990, S. B1.

  19. Vgl. ders., Should the Media Police the Accuracy of Political Ads?, in: Washington Post, 14.1.1989, S. A22.

  20. Vgl. Grove (Anm. 16).

  21. So Richard Threlkeld bei einer Paneldiskussion zur Medienanalyse von politischer Werbung an der Annenberg School for Communication, Washington D.C. 26.2.1992.

  22. Die Wurzeln des Adwatch-Trends diskutiert Debra Gersh Hernandez, Improving Election Reporting, in: Editor & Publisher 129/1996, S. 16.

  23. David Broder, Sick of Issueless Campaigns, in: Washington Post, 28.3.1990, S. A23.

  24. Rosenstiel (Anm. 17).

  25. Vgl. Justin Bank, Newspaper Adwatch Stories: Coming Back Strong, Philadelphia 2007. Siehe auch Courtney Bennett, Assessing the Impact of Ad Watches on the Strategic Decision-Making Process: A Comparative Analysis of Ad Watches in the 1992 and 1996 Presidential Elections, in: American Behavioral Scientist 40/1997, S. 1161–1182.

  26. Vgl. Bob Papper, TV Adwatch Stories: On the Rise, Philadelphia 2007.

  27. Brooks Jackson im Interview mit dem Autor, Washington D.C. 3.12.2012.

  28. Siehe etwa Joseph N. Cappella/Kathleen Hall Jamieson, Broadcast Adwatch Effects: A Field Experiment, in: Communication Research 21/1994, S. 342–365.

  29. Zit. nach WNYC, On the Media, Sendung vom 16.1.2004.

  30. Vgl. Robertson (Anm. 15).

  31. Jake Tapper auf dem Treffen "Pants on Fire: Political Mendacity and the Rise of Media Fact-Checkers" des Annenberg Public Policy Center, Washington D.C. 9.11.2007.

  32. Bill Adair auf dem Treffen "Fact-Checking in the News" der New America Foundation, Washington D.C. 14.12.2012.

  33. Ders. während der Podiumsdiskussion "The Facts of Political Life" der New America Foundation, Washington D.C. 28.2.2012.

  34. Vgl. Dobbs (Anm. 9), S. 4.

  35. Zit. nach Thomas Lang, Glenn Kessler on Fact-Checking Candidates, Getting Off the Bus, and Reporters Who Are Ahead of the Curve, 17.9.2004, Externer Link: http://www.cjr.org/the_water_cooler/glenn_kessler_on_factchecking.php.

  36. Glenn Kessler in einem Telefoninterview mit dem Autor, 18.4.2012.

  37. Michael Dobbs auf dem Treffen "Pants on Fire: Political Mendacity and the Rise of Media Fact-Checkers" des Annenberg Public Policy Center, Washington D.C. 9.11.2007.

  38. Vgl. etwa Michael Schudson, Watergate in American Memory: How We Remember, Forget, and Reconstruct the Past, New York 1992.

  39. Barbie Zelizer, Journalists as Interpretive Communities, in: Critical Studies in Mass Communication 10/1993, S. 219–237, hier S. 223f.

  40. Professionelle Faktenchecker stützen sich ausschließlich auf öffentlich zugängliche Dokumente und Quellen. Die beste skeptische Berichterstattung im Vorfeld der US-Invasion des Irak basierte auf anonymen Abweichlern innerhalb des Verteidigungssektors und der Geheimdienste. Vgl. Michael Massing, Now They Tell Us, 29.1.2004 , Externer Link: http://www.nybooks.com/articles/2004/02/26/now-they-tell-us.

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ist Assistant Professor an der School of Journalism and Mass Communication der University of Wisconsin-Madison, USA. E-Mail Link: lucas.graves@wisc.edu