"Postfaktisch" lautet das Wort des Jahres 2016. Immer mehr Menschen seien in ihrem Widerwillen gegen "die da oben" bereit, Tatsachen zu ignorieren und offensichtliche Lügen zu akzeptieren, begründete die Gesellschaft für deutsche Sprache ihre Entscheidung. Das Votum der Briten für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten nach Wahlkämpfen, die von zahlreichen wahrheitswidrigen Behauptungen geprägt waren, sowie Ausmaß und Geschwindigkeit, in der sich sogenannte Fake News in der digital vernetzten Öffentlichkeit verbreiten, zeugen von dieser Entwicklung.
Zwar gehört ein flexibler Umgang mit der Wahrheit seit jeher zur Politik, und in der politischen Philosophie finden sich zahlreiche Ansätze zu der Frage, unter welchen Bedingungen es für Politiker moralisch vertretbar ist, zu lügen. Aber die unverhohlene Art, mit der in jüngerer Zeit auch in Demokratien durch eindeutig falsche Behauptungen und "alternative Fakten" politisches Kapital geschlagen werden kann, ist alarmierend. Die Basis des Willensbildungsprozesses und damit der demokratischen Legitimität scheint zu erodieren.
Die Beschäftigung mit den Ursachen des Autoritätsverlusts von Fakten und ihrer herkömmlichen Quellen – Wissenschaft und Journalismus – zugunsten "gefühlter Wahrheiten" rührt an grundlegende Fragen nach den Zusammenhängen von Erfahrung, Wirklichkeit, Wissen und Glaubwürdigkeit. Im Kern geht es um eine der größten und ältesten Fragen der Philosophie: Was ist Wahrheit?