Im Januar 2016 demonstrierten bundesweit bis zu 10.000 Menschen anlässlich der angeblichen Vergewaltigung der damals 13-jährigen Lisa F. aus Berlin-Marzahn durch wahlweise "Ausländer", "Flüchtlinge", "Araber" oder "Südländer". Da die Demonstrantinnen und Demonstranten je nach Bericht "Russlanddeutsche", "Russischstämmige" oder "Menschen russischer Herkunft" waren und ihrer Mobilisierung eine entsprechende Falschmeldung des Ersten Kanals des russischen Fernsehens vorausgegangen war, verbreitete sich rasch der Verdacht, hier habe der Kreml seine Hand im Spiel gehabt. So schrieb etwa die "Neue Zürcher Zeitung" (NZZ), die "russische Propaganda" wolle die "russischsprachigen Bevölkerungsgruppen in Deutschland (…) missbrauchen, um Druck auf die deutsche Regierung auszuüben".
Alles "Russischsprachige"?
Die Bezeichnung "russischsprachige Bevölkerungsgruppen" ist relativ neu im deutschsprachigen Diskurs. Es handelt sich augenscheinlich um eine Übersetzung des russischen Begriffs russkojazyčnye, der in Russland bereits seit den 1990er Jahren von offizieller Seite als Bezeichnung für die "Landsleute" (sootečestvenniki) im Ausland verwendet wird.
Im deutschen Kontext hat der Begriff ebenfalls eine Doppelfunktion: zum einen als Selbstbeschreibung bestimmter organisierter Personengruppen wie etwa des Bundesverbands russischsprachiger Eltern, zum anderen findet er – wie in dem zitierten NZZ-Artikel – zunehmend Verwendung als Sammelbegriff für verschiedene Zuwanderergruppen aus der ehemaligen Sowjetunion. Schwerpunktmäßig sind damit russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler,
Über die Russischsprachigen in diesem umfassenden Sinne wurde im Nachgang zum "Fall Lisa" viel geschrieben. An genauerem Wissen über diese heterogene Migrantengruppe mangelt es allerdings. Dies beginnt schon bei der fundamentalen Frage ihrer Größe. In verschiedenen Publikationen finden sich Zahlenangaben von drei bis sechs Millionen Russischsprechern in Deutschland.
In diesem Beitrag sollen die Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion daher mit der besser geeigneten Sammelbezeichnung "postsowjetische Migranten" gefasst werden – ein Begriff, der auf der statistisch erfassten Kategorie des Herkunftslandes basiert und nicht auf dem unscharfen Kriterium der Sprache. Gleichwohl werde ich versuchen, die Zahl der Russischsprecher unter den postsowjetischen Migrantinnen und Migranten genauer zu fassen, um diesbezüglichen Spekulationen belegbare Daten entgegenzusetzen.
Ziel dieses Beitrags ist es, die unklar konturierte Großgruppe "postsowjetische Migranten" genauer zu vermessen. Insbesondere über die zahlenmäßig dominanten russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler und ihre Angehörigen liegen wenige verlässliche Daten vor. Bisherige quantitative Forschungen haben die (Spät-)Aussiedler in der Regel als rechtlich definierte Kategorie ohne gesonderte Berücksichtigung der geografischen Herkunft untersucht, also unter Einbeziehung der aus Polen und Rumänien stammenden Deutschen.
Im Folgenden werden daher die materielle und "ideelle" Situation sowie die Integration der postsowjetischen Migranten in Deutschland im Allgemeinen und der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler im Speziellen skizziert. Dazu werden Daten aus dem Mikrozensus von 2015 analysiert, die ein besseres Verständnis der sozialen Lage der Zuwanderer aus der ehemaligen UdSSR erlauben. In einem weiteren Schritt werden dann auf Grundlage einiger kürzlich erschienener Studien der Sprachgebrauch, der Medienkonsum, die politischen Einstellungen sowie das Verhältnis der postsowjetischen Zuwanderer zu Russland in den Blick genommen – Aspekte, die seit dem "Fall Lisa" kontrovers, aber wenig faktenbasiert diskutiert wurden.
Unterschiedliche Gruppen und ihre Größe
Die Präsenz postsowjetischer Migrantinnen und Migranten in Deutschland ist das Ergebnis von Zuwanderungsbewegungen vor allem der zurückliegenden drei Jahrzehnte. Die gemäß Zuzugsstatistik umfangreichste Kategorie sind die rund 2,3 Millionen (Spät-)Aussiedler aus der UdSSR und ihren Nachfolgestaaten, die schwerpunktmäßig seit 1987 in der Bundesrepublik Aufnahme fanden.
Seit 1990 fanden auch rund 215.000 Juden oder Menschen jüdischer Abstammung mit ihren Angehörigen Aufnahme in der Bundesrepublik.
Weiterhin leben in Deutschland einige Tausend oder Zehntausend Migranten aus der ehemaligen UdSSR, die durch andere Kanäle in die Bundesrepublik kamen, etwa als Arbeits-, Bildungs- oder Heiratsmigranten oder als Flüchtlinge.
Jenseits der Zuzugsstatistiken liefert der Mikrozensus von 2015 aktuelle Daten zur Anzahl der heute in Deutschland lebenden postsowjetischen Migranten.
Jegliche Zahlen darüber hinaus sind spekulativ, denn über die Russischkenntnisse der Nachkommen postsowjetischer Migranten, die im Kindesalter nach Deutschland kamen oder schon hier geboren sind, liegen keine systematischen Erkenntnisse vor. Man kann ihnen jedenfalls nicht automatisch fließende Russischkenntnisse unterstellen, zumal sie in der Regel über keine institutionalisierte Möglichkeit zum Spracherwerb verfügten. Studien in diesem Bereich legen rückläufige Kenntnisse des Russischen bei der zweiten Generation nahe, zumal sich viele russlanddeutsche Eltern bemühten, ihren Kindern bevorzugt das Deutsche nahezubringen.
Soziale Zusammensetzung
Wie bereits dargelegt, handelt es sich bei den postsowjetischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland um eine heterogene Gruppe, deren Untergruppen sich nach Rechtsstatus sowie ethnischer und geografischer Herkunft unterscheiden. Bei einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer in Deutschland von 18,3 Jahren (Stand 2015) lohnt sich inzwischen auch der Blick auf die seitdem entstandene soziale Differenzierung innerhalb dieser statistischen Großgruppe sowie zu ihrer sozialen und wirtschaftlichen Integration. Auch hierfür bieten die Daten des Mikrozensus von 2015 eine gute Grundlage.
Um einen möglichst differenzierten Blick zu erhalten, werden hier drei Gruppen miteinander verglichen: 1) die Gesamtheit der postsowjetischen Migranten (russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler, Kontingentflüchtlinge und andere); 2) die darin enthaltene Gruppe der Immigranten aus Kasachstan; und 3) die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (die "Einheimischen"). Die Werte für kasachstanstämmige Migranten können hierbei als Näherungswert für die Gruppe der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler gelesen werden – zwar kommen Letztere nicht alle aus Kasachstan, aber fast alle kasachstanstämmigen Menschen in Deutschland sind russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler. Sie bilden somit quasi ein statistisch "reines" Sample (Stichprobe), das auch deswegen aussagekräftig für die Gesamtgruppe der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler ist, weil nicht von systematischen Unterschieden zwischen (Spät-)Aussiedlern aus Kasachstan und solchen aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken auszugehen ist. Alle diese Samples beziehen sich ausschließlich auf die erste Generation von Zuwanderern, da nur für diese die Daten vollständig sind.
Abbildung 1: Bildungsabschlüsse nach Migrationshintergrund (in Prozent) (© bpb)
Abbildung 1: Bildungsabschlüsse nach Migrationshintergrund (in Prozent) (© bpb)
Eine für den Integrationsverlauf prinzipiell wichtige Voraussetzung sind die mitgebrachten Bildungsabschlüsse. Hier sieht man bei den postsowjetischen Zuwanderern deutliche Unterschiede innerhalb der Großgruppe wie auch im Vergleich zur Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (Abbildung 1). Während die postsowjetischen Migranten insgesamt ein besseres formales Bildungsniveau mitbringen als die "einheimische" Bevölkerung, fällt auf, dass die Zuwanderer aus Kasachstan deutlich seltener Abitur oder Fachabitur haben als die beiden Vergleichsgruppen, dafür umso häufiger das Äquivalent von Real- oder Hauptschulabschluss. Dass die Gesamtgruppe der postsowjetischen Migranten hier trotzdem so gut abschneidet, dürfte vor allem dem hohen Bildungsniveau der jüdischen Kontingentflüchtlinge geschuldet sein.
Tabelle 2: Erwerbslosenquote und Abhängigkeit von Transferleistungen (in Prozent) (© bpb)
Tabelle 2: Erwerbslosenquote und Abhängigkeit von Transferleistungen (in Prozent) (© bpb)
Jedoch übersetzt sich ein höheres Bildungsniveau nicht automatisch in größeren Arbeitsmarkterfolg. Im Gegenteil: Die vergleichsweise weniger hoch gebildeten Kasachstanstämmigen sind seltener erwerbslos und von Transferleistungen abhängig als die Gesamtgruppe der postsowjetischen Migranten (Tabelle 2). Hier bildet sich das oft beklagte Problem ab, dass Zuwanderer mit höherer Qualifikation lange Zeit Schwierigkeiten hatten, ihre Abschlüsse anerkannt zu bekommen.
Tabelle 3: Arten von Beschäftigung (in Prozent) (© bpb)
Tabelle 3: Arten von Beschäftigung (in Prozent) (© bpb)
In der Beschäftigungsstruktur derjenigen postsowjetischen Migranten, die sich in Arbeit befinden, fällt die überdurchschnittliche Konzentration insbesondere kasachstanstämmiger Männer im sekundären Sektor (produzierendes Gewerbe, Baugewerbe) auf (Tabelle 3). Sowjetunion- und kasachstanstämmige Frauen hingegen arbeiten zu ähnlichen Anteilen wie "einheimische" Frauen im tertiären Sektor (Dienstleistungsbereich). Bei ihnen fällt wiederum der hohe Anteil von ausschließlich geringfügig Beschäftigten auf, der fast doppelt so hoch liegt wie bei den Frauen ohne Migrationshintergrund. Niedrig ist hingegen der Anteil der Selbstständigen, insbesondere bei den Kasachstanstämmigen. Ihr Anteil liegt nur bei etwa einem Drittel der Quote der "einheimischen" Bevölkerung, aber auch deutlich niedriger als etwa bei den in der Tabelle 3 nicht aufgeführten türkeistämmigen Migranten (8,8 Prozent).
Abbildung 2: Haushaltseinkommen nach Migrationshintergrund (in Euro) (© bpb)
Abbildung 2: Haushaltseinkommen nach Migrationshintergrund (in Euro) (© bpb)
Ein Vergleich der durchschnittlichen Haushaltseinkommen zeigt nur geringe Differenzen zwischen Haushalten mit mindestens einem postsowjetischen beziehungsweise kasachstanstämmigen Mitglied und Haushalten von Menschen ohne Migrationshintergrund (Abbildung 2). Während sie beim Gesamteinkommen um die 90 Prozent des "einheimischen" Niveaus erreichen, zeigen sich jedoch deutlichere Unterschiede bei den Haushaltseinkommen pro Kopf, wo die entsprechenden Werte nur bei gut zwei Dritteln liegen. Dies hat mit der Haushaltsgröße zu tun: Postsowjetische Haushalte sind mit 2,43 Personen im Schnitt größer als die der "Einheimischen", die bei 1,89 Personen liegen. Haushalte von Kasachstanstämmigen bestehen durchschnittlich aus 2,62 Personen. Entsprechend müssen in diesen Haushalten von einem ähnlich hohen Einkommen mehr Münder ernährt werden. Zugleich verweist dieser Umstand auf das erfolgreiche Zusammenlegen mehrerer relativ niedriger individueller Einkommen zu einem ausreichenden Haushaltseinkommen (pooling). So lassen sich auch die erwähnten hohen Anteile ausschließlich geringfügig beschäftigter Frauen erklären, deren Minijobs für sich genommen nicht zum Leben reichen, die aber einen wichtigen Beitrag zum Familienbudget leisten.
Abbildung 3: Streuung der Haushaltseinkommen nach Migrationshintergrund (in Prozent) (© bpb)
Abbildung 3: Streuung der Haushaltseinkommen nach Migrationshintergrund (in Prozent) (© bpb)
An der Streuung der absoluten Haushaltseinkommen über verschiedene Einkommenssegmente lässt sich schließlich sowohl die ökonomische Integration der postsowjetischen Migranten als auch ihre fortgeschrittene Binnendifferenzierung ablesen (Abbildung 3). Die postsowjetische Bevölkerung weist grundsätzlich eine ähnliche Streuung auf wie die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Auffällig sind allerdings gewisse Verschiebungen: Sowjetunionstämmige und Kasachstanstämmige sind beide im hohen Einkommenssegment über 4.500 Euro unterrepräsentiert. Doch während sich die Differenz bei den Kasachstanstämmigen im Segment direkt darunter (2.600 bis 4.500 Euro) wiederfindet, sind die Sowjetunionstämmigen insgesamt vor allem im sehr niedrigen Segment unter 900 Euro, also am Existenzminimum, überrepräsentiert. Die russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler sind also in höherem Maße in der Mittelschicht angekommen als die Gesamtgruppe. Zugleich wird deutlich, dass es eine breite Streuung von Lebenslagen gibt, die allzu pauschalisierende Aussagen über die Situation "der" postsowjetischen Migranten oder auch "der" Russlanddeutschen nicht zulassen.
Sprachgebrauch
Nach dem "Fall Lisa" wurde viel über den Sprachgebrauch wie auch den Medienkonsum der postsowjetischen Migranten in Deutschland gemutmaßt. Zu beiden Fragen liefert die im Herbst 2016 erschienene Studie "Russians in Germany" der Boris-Nemtsov-Stiftung Anhaltspunkte.
Bezüglich Sprachkenntnissen und Sprachgebrauch kam die Studie zu dem Ergebnis, dass 88 Prozent der Befragten Russisch als Muttersprache (61 Prozent) oder fließend (27 Prozent) beherrschen. Gemäß ihrer Selbsteinschätzung sprechen etwa zwei Drittel der Befragten Deutsch auf muttersprachlichem Niveau (21 Prozent) oder fließend (43 Prozent). 28 Prozent gaben mittelmäßige ("intermediate") Kenntnisse an, 7 Prozent Grundkenntnisse. Insofern ist es nicht überraschend, dass Russisch beziehungsweise ein Mix aus Russisch und Deutsch als Familiensprache überwiegt: 42 Prozent der Befragten sprechen zu Hause vor allem Russisch, 32 Prozent Deutsch und Russisch, 24 Prozent vor allem Deutsch.
Gemischt ist das Bild auch beim Medienkonsum, allerdings mit anderer Gewichtung. Insbesondere seit dem "Fall Lisa" ist viel davon die Rede gewesen, dass sich die Russlanddeutschen und Russischsprachigen überwiegend aus russischsprachigen Medien informierten und von diesen gegen die deutsche Politik aufgehetzt würden. Die Nemtsov-Studie legt hingegen nahe, dass sich die Befragten aus russisch- und deutschsprachigen Medien informieren, wobei die deutschsprachigen Medien hier zum Teil deutlich überwiegen.
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die russische Sprache bei den postsowjetischen Migranten im privaten Bereich noch eine wichtige Rolle spielt; wenn es um Medien und Information geht, dominiert aber zunehmend das Deutsche.
Politische Einstellungen
Angesichts der seit dem "Fall Lisa" verbreiteten Sorgen um die vermeintliche Anfälligkeit der Russlanddeutschen beziehungsweise Russischsprachigen für Rechtspopulismus lohnt sich schließlich ein Blick auf die (wenigen) vorhandenen Daten zu ihren politischen Einstellungen. Aktuelle Studien relativieren den lange vorherrschenden Befund, dass (Spät-)Aussiedler im Allgemeinen und Russlanddeutsche im Besonderen politisch eher rechts der Mitte zu verorten seien und den Unionsparteien zuneigten.
Tabelle 4: Parteipräferenzen (in Prozent) (© bpb)
Tabelle 4: Parteipräferenzen (in Prozent) (© bpb)
Die Studie weist jedoch darauf hin, dass unter den Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion die Zustimmungsraten zur Union höher liegen als beim Durchschnitt der (Spät-)Aussiedlerbevölkerung, sie gleichzeitig aber auch stärker der Linken zuneigen. Die bestehenden Differenzen zu den "Einheimischen" lassen sich somit nicht durchgehend als eine stärkere Verortung rechts der Mitte lesen.
Bemerkenswert sind die erhöhten Zustimmungsraten unter den (Spät-)Aussiedlern zur AfD – wohlgemerkt in einem Erhebungszeitraum (März bis August 2015), als die AfD ihre Wandlung zur populistischen Antiflüchtlingspartei noch nicht vollzogen hatte. Hier handelt es sich um ein starkes Indiz dafür, dass an dem oft gemutmaßten erhöhten Zuspruch der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler zur AfD tatsächlich etwas dran ist. Allerdings ist dieser Zuspruch nicht zwingend als Funktion eines bestimmten "mitgebrachten" autoritären Politikverständnisses zu interpretieren. Plausibel erscheint vielmehr eine soziale Erklärung: Wie Studien gezeigt haben, findet die AfD überdurchschnittlichen Zuspruch bei Arbeitslosen und Arbeitern sowie Menschen mit niedrigen und mittleren Bildungsabschlüssen.
Diasporanationalismus?
Seit dem "Fall Lisa" geistert außerdem immer wieder der Verdacht durch den öffentlichen Raum, dass die postsowjetischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland besonders anfällig für einen russischen "Diasporanationalismus" seien und sich in diesem Sinne vom Kreml instrumentalisieren ließen. Ohne die Stichhaltigkeit dieses Verdachts hier ausführlich erörtern zu können, sei darauf hingewiesen, dass man in diesem Zusammenhang unbedingt diasporische Praktiken – in den Worten der Forscherin Natalia Kühn: "gelebte Transnationalität" – und staatliche Diasporapolitik auseinanderhalten sollte. Zur "gelebten Transnationalität" gehören grenzüberschreitende Familien- und Freundschaftsnetzwerke, die heutzutage insbesondere in der virtuellen Sphäre gepflegt werden können, etwa in den russischsprachigen sozialen Netzwerken wie VK und Odnoklassniki. Dazu gehört auch die Existenz einer lebhaften russischsprachigen Presselandschaft in Deutschland.
Zur staatlichen Diasporapolitik hingegen gehören Russlands seit den 1990er Jahren zu beobachtende Bemühungen um die Vereinnahmung "seiner" Diaspora im postsowjetischen und zunehmend auch im europäischen Ausland und darüber hinaus. Aus diesem Werben kann man aber nicht zwingend schließen, dass es vonseiten der Emigranten auch erwidert wird, selbst wenn sie an transnationalen Strukturen partizipieren. Dabei ist zu bedenken, dass der Großteil der postsowjetischen Migranten die ehemalige UdSSR nicht als "Russen" verließ, sondern als Angehörige kulturell russifizierter ethnischer Minderheiten.
Insofern wäre es ein Trugschluss, postsowjetische Herkunft und den Gebrauch der russischen Sprache automatisch mit der Identifikation mit Russland gleichzusetzen. Zugleich ist eine Re-Identifikation der zweiten Generation mit Russland insbesondere im Falle anhaltender Diskriminierung als "Russen" durchaus denkbar, trotz rückläufiger russischer Sprachkenntnisse. Zwangsläufigkeiten gibt es aber keine. Trotz der Rede von der "Instrumentalisierung" der "Diaspora" ist diese kein willenloses Instrument, sondern besteht aus realen Menschen mit eigener Handlungsmacht.