Vorläufer des modernen Minderheitenschutzes sind die völkerrechtlichen Verträge, die – wie etwa der Berliner Vertrag von 1878 – religiöse Minderheiten, namentlich Christen im Osmanischen Reich und Muslime in sonstigen Regionen des Balkans, betrafen. Das erste völkerrechtliche System zum Minderheitenschutz wurde nach dem Ersten Weltkrieg als Ausgleich für das Entstehen zahlreicher neuer nationaler Minderheiten durch die Grenzziehungen der Pariser Vorortverträge geschaffen und erlangte einen gewissen Grad an Einheitlichkeit im Rahmen des Völkerbundes. Es scheiterte, wie auch der Völkerbund, am mangelnden Willen der beteiligten Staaten, ihren vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen, und am Fehlen eines wirksamen Durchsetzungsmechanismus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte zunächst die Ansicht vor, ein effektives Diskriminierungsverbot mache einen spezifischen Schutz der Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten entbehrlich. Dies zeigt sich etwa daran, dass es jahrelang keine entsprechende Bestimmung gab. Auf globaler Ebene änderte sich die Rechtslage mit der Antirassismuskonvention (ICERD) von 1965 und vor allem dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) der Vereinten Nationen von 1966, der in Artikel 27 eine Regel zum Minderheitenschutz enthält. In Europa hingegen führten erst die politischen Verwerfungen der beginnenden 1990er Jahre, namentlich die Folgen der Auflösung der Sowjetunion und der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens, die maßgeblichen politischen Akteure zu der Einsicht, dass Maßnahmen zu ergreifen seien, um Spannungen zwischen Mehrheits- und Minderheitsbevölkerungen entgegenzuwirken, die nicht nur die innere Ordnung der betroffenen Staaten, sondern Stabilität und Frieden ganzer Regionen bedrohten.
Ergriffen wurden diese Maßnahmen vor allem im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarats: Umfassende Bestimmungen zum Minderheitenschutz finden sich erstmals im 1990 von der OSZE angenommenen, rechtlich aber nicht verbindlichen Kopenhagener Abschlussdokument; im Dezember 1992 schuf die OSZE das Amt des Hochkommissars für Nationale Minderheiten (HKNM) mit Sitz in Den Haag. Im Europarat wurde 1995 die Aushandlung zweier rechtlich verbindlicher Verträge erfolgreich beendet, nämlich des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten (RÜ) und der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (Sprachencharta); beide traten 1998 in Kraft.
Zunehmende Bedeutung erlangte in jüngerer Zeit die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der einige Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 für den Minderheitenschutz nutzt. Die Europäische Union hingegen bietet ein widersprüchliches Bild: Während Minderheitenschutz im Binnenbereich trotz einiger Bemühungen immer noch eine geringe Rolle spielt, ist eine europäischen Standards entsprechende Ausgestaltung des nationalen Rechts eine Voraussetzung für die Aufnahme eines Staates in die EU (gemäß der Kopenhagener Kriterien von 1993). Auch in der sogenannten Nachbarschaftspolitik der EU ist Minderheitenschutz von erheblicher Bedeutung.
Begriff der (nationalen) Minderheit
Erstaunlicherweise gibt es im aktuellen Völkerrecht weder auf globaler noch auf europäischer Ebene eine allseits akzeptierte Definition des Begriffs "(nationale) Minderheit". Weitestgehend anerkannt ist aber, dass eine Gruppe von Menschen nur dann als eine (nationale) Minderheit gilt, wenn sie sich in einigen objektiven Kriterien wie Ethnizität, Geschichte, Kultur, Lebensstil, Religion und (vor allem in Europa wichtig) Sprache von der Mehrheitsbevölkerung unterscheidet; hinzu kommen muss ein – jedenfalls auf das gesamte Staatsgebiet bezogen – zahlenmäßiges Untergewicht und das Fehlen einer politisch dominanten Position. Daneben bedarf es des gemeinsamen Willens, die eigenständige Identität zu wahren und zu entwickeln. Auf dieser rechtlichen Grundlage werden in Deutschland die Dänische Minderheit, die Friesische Volksgruppe, das Sorbische Volk sowie die deutschen Sinti und Roma als nationale Minderheiten anerkannt.
Umstritten sind vor allem zwei Fragen: Bedarf eine Gruppe, um als nationale Minderheit zu gelten, einer besonderen zeitlichen Bindung an das Gebiet, auf dem ihre Angehörigen leben? Und müssen diese Personen Staatsangehörige des Staates sein, in dem sie leben? Dieses Problem wird zumeist als der Gegensatz zwischen alten und neuen Minderheiten bezeichnet. Eine völlig eindeutige Rechtslage lässt sich für Europa nicht feststellen, wohl aber die Tendenz, dass die meisten Staaten, sowohl in ihrem nationalen Recht als auch in ihren Stellungnahmen auf internationaler Ebene, eine Beschränkung der Anwendbarkeit der Minderheitenschutzbestimmungen auf sogenannte alte Minderheiten vornehmen. In gewissem Gegensatz hierzu haben sich HKNM und die Überwachungsorgane des RÜ für einen flexiblen Ansatz ausgesprochen, der es erlaubt, manche völkervertragliche Bestimmungen auch auf Angehörige sogenannter neuer Minderheiten, insbesondere Einwanderer, anzuwenden, sofern dies mit dem Wortlaut der betreffenden Bestimmung vereinbar ist.
Einer Gruppe, deren Angehörige sich als nationale Minderheit fühlen, bei der es aber begründete Zweifel gibt, ob sie sich bezüglich der objektiven Kriterien tatsächlich von der Mehrheitsbevölkerung in einem solchen Maße unterscheidet, dass von einer wirklichen Eigenständigkeit gesprochen werden kann, kann nach Ansicht des EGMR unter bestimmten Voraussetzungen die Anerkennung als nationale Minderheit verweigert werden. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen die Überwachungsorgane der RÜ, die vor allem prüfen, ob die Verweigerung der staatlichen Anerkennung einer Gruppe als Minderheit und die damit verbundene Zuerkennung gewisser Rechte, etwa im Bildungsbereich, willkürlich ist.
Aktuelle Rechtslage
Alle europäischen Staaten haben die ICERD und den ICCPR ratifiziert, weshalb die Schutzstandards der für Minderheiten wichtigsten UN-Verträge Anwendung finden. Allerdings scheint ihre tatsächliche Bedeutung eher gering, was auch an der geringen Zahl von Fällen aus Europa, die etwa dem unter dem ICCPR tätigen UN-Menschenrechtsausschuss vorgelegt wurden, deutlich wird. Auch im Rahmen des seit 2007 vom UN-Menschenrechtsrat erstellten "Universal Periodic Review" spielen Minderheitenrechte, wie sie etwa auch in der rechtlich unverbindlichen Erklärung der UN-Generalversammlung über Minderheitenrechte von 1992 niedergelegt sind, bezüglich europäischer Staaten keine größere Rolle.
Für die Ermittlung der aktuellen Rechtslage des Minderheitenschutzes in Europa sind daher europäische Instrumente ausschlaggebend. Dies sind im Rahmen der OSZE das schon erwähnte Kopenhagener Abschlussdokument und vor allem die zahlreichen Empfehlungen und Richtlinien, die seit 1996 vom HKNM formuliert wurden. Ungeachtet ihrer mangelnden rechtlichen Verbindlichkeit tragen sie zur inhaltlichen Klärung von Minderheitenrechten bei, geben Rechtsetzern und Rechtsanwendern Anregungen für ihre Tätigkeit und wirken auf eine Vereinheitlichung des Minderheitenschutzes in den am OSZE-Prozess beteiligten Staaten hin.
Verfahren der Standardsetzung
Standardsetzung im Bereich von Menschen- und somit auch Minderheitenrechten erfolgt durch unterschiedliche Akteure und Maßnahmen. In erster Linie sind es die Staaten, die durch ihre nationale Gesetzgebung und Praxis sowie den Abschluss internationaler Verträge die rechtliche und tatsächliche Grundlage für die Ermittlung solcher Standards schaffen. Hinzukommen internationale Organisationen, die ihrerseits einschlägige Verträge und sonstige Texte erarbeiten. Die Ermittlung von Standards wird erleichtert, wenn derartige Verträge Institutionen vorsehen, die zur Überwachung und gegebenenfalls Durchsetzung der aus solchen Verträgen resultierenden Verpflichtungen befugt sind. Am stärksten wirken Gerichte wie der EGMR, die für die Vertragsstaaten verbindliche Urteile erlassen, in denen der Inhalt der Vertragsbestimmungen festgelegt wird. So entsteht hard jurisprudence based on hard law. Da solche Urteile aber notwendigerweise auf Einzelfällen beruhen, bedarf es einer großen Zahl solcher Einzelfallentscheidungen, um einen Standard ermitteln zu können.
Auf einer niedrigeren Stufe sind quasi-gerichtliche Systeme angesiedelt, in denen – wie beim RÜ – Überwachungsorgane wie der BA prüfen, ob Staaten ihre vertraglichen Verpflichtungen in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht erfüllt haben. Ihre Feststellungen werden in rechtlich unverbindlichen Stellungnahmen formuliert und stellen wegen ihres allgemeinen Charakters eine geeignete Quelle für europäische Standards dar. Sie erfüllen die Kriterien von soft jurisprudence based on hard law. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang sogenannten General Comments zu, die die Auslegungspraxis der Überwachungsorgane zusammenfassen.
Der Ablauf des Überwachungsverfahrens des RÜ ist wie folgt: Alle fünf Jahre reichen die Staaten einen Bericht ein, in dem sie möglichst detailliert mitteilen, durch welche Maßnahmen sie ihren vertraglichen Verpflichtungen nachkommen. Eine Arbeitsgruppe des BA formuliert dann auf der Grundlage der Informationen des Staatenberichts und weiterer Informationen, die unter anderem auf Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern von Regierung, Minderheiten und der Zivilgesellschaft während eines Besuchs im fraglichen Staat beruhen, den Entwurf einer Stellungnahme. Dieser wird im Plenum des BA erörtert und angenommen. Die Stellungnahme wird dann dem betroffenen Staat zugestellt, der sich zu den Feststellungen und Empfehlungen äußern kann. Auf der Grundlage der Stellungnahme des BA und der Kommentare der jeweiligen Regierung verabschiedet dann das MK seine Entschließung mit Schlussfolgerungen und Empfehlungen. Diese spiegeln fast durchgängig die Auffassung des BA wider.
Schließlich sind Institutionen wie der HKNM zu nennen, die ohne völkervertragliche Grundlage mit ihren von Experten formulierten Empfehlungen und Richtlinien den Rechtsetzungsprozess in den Mitgliedsstaaten und die Auslegung des einschlägigen nationalen und internationalen Rechts beeinflussen. Diese Dokumente stellen fraglos eine zusätzliche Quelle für die Standardsetzung dar und können als soft jurisprudence based on soft law bezeichnet werden.
Materiell-rechtliche Standards
Die im Wesentlichen auf den Arbeiten der Überwachungsorgane des RÜ und in geringerem Maße auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden materiell-rechtlichen Standards im europäischen Minderheitenschutz lassen sich in folgende Kategorien gliedern:
Das Recht auf eine eigenständige Identität und deren Achtung durch staatliche und auch private Akteure ist das grundlegende Recht des Minderheitenschutzes; es ist seine conditio sine qua non. Daher gibt es auch keinen Streit über sein Bestehen. Umstritten ist jedoch in manchen Fällen, ob eine bestimmte Gruppe von Menschen die oben im Zusammenhang mit der Darstellung des Minderheitenbegriffs erläuterten Kriterien für die Anerkennung als nationale Minderheit erfüllt. Dies gilt in Deutschland etwa für die Frage des Bestehens einer polnischen Minderheit.
Diskriminierungsverbot und Recht auf effektive Gleichheit: Europäische Staaten haben gemäß Artikel 4 II und 5 I RÜ die Pflicht, durch geeignete Maßnahmen die eigenständige Identität von Minderheiten zu schützen und zu fördern. Hierzu zählen Programme, die auf die Herstellung voller und effektiver Gleichheit vor allem stark benachteiligter Minderheiten wie die Roma zielen. Äußerst wichtig ist dabei die Klarstellung in Artikel 4 III RÜ, dass solche "positiven Maßnahmen" keine Diskriminierung darstellen. Erforderlich sind auch entsprechende gesetzliche Maßnahmen zum Schutz von Minderheitenangehörigen gegen Diskriminierungen seitens öffentlicher wie privater Akteure sowie Vorkehrungen zur effektiven Bekämpfung solcher Handlungen. Zumindest in den Mitgliedsstaaten der EU sind durch die Umsetzung der einschlägigen europäischen Richtlinien die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen geschaffen worden – in Deutschland ist dies das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG).
Interkultureller Dialog und Toleranz: Angesichts der Wiederkehr von Rassismus und religiösem Fanatismus sowie der Zunahme von Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Antiziganismus und Ausländerfeindlichkeit stellt die staatliche Verpflichtung, interkulturellen Dialog und interethnische Toleranz zu fördern, einen wichtigen Teil des Völkerrechts dar, die in Artikel 6 RÜ verankert ist. Daher müssen Behörden geeignete Maßnahmen ergreifen, um solche Einstellungen, gerade auch unter Staatsbediensteten, effektiv zu bekämpfen. Außerdem ist auf eine korrekte und ausgewogene Berichterstattung über minderheitenrelevante Vorkommnisse in den Medien hinzuwirken. Schließlich bedarf es nachhaltiger Maßnahmen, um minderheitenfeindliche Tendenzen bei Strafverfolgungsorganen, wie etwa ethnic profiling, zu unterbinden. Auch sind rassistisch motivierte Straftaten (hate crimes) nachdrücklich zu verfolgen.
Politische Rechte wie Versammlungs-, Vereinigungs-, Meinungs-, Gedanken- und Gewissensfreiheit sind nicht nur in der EMRK, sondern auch in Artikel 7 RÜ geschützt. Der BA hat durchgehend die einschlägige Rechtsprechung des EGMR unterstützt,
Die Religionsfreiheit wird nicht nur in Artikel 9 EMRK garantiert, sondern ist auch in Artikel 8 RÜ geschützt. Religiöse Minderheiten sind also nationale Minderheiten im Sinne des RÜ. Die Religionsfreiheit umfasst ein internes und ein externes Forum, das heißt das persönliche Innehaben einer religiösen Überzeugung einerseits und die Möglichkeit der Kundmachung nach außen andererseits. Während Ersteres überhaupt nicht beeinträchtigt werden darf, unterliegt Letzteres zwar Einschränkungen, aber nur solchen, die in einer demokratischen Gesellschaft zum Erreichen eines legitimen Ziels notwendig und daher gerechtfertigt sind. So kann zum Beispiel die Weigerung staatlicher Behörden, die Kirche einer nationalen Minderheit zu "registrieren" und damit die rechtliche Voraussetzung für ihre Tätigkeit zu schaffen, eine Verletzung dieses Rechts darstellen.
Die in Artikel 9 RÜ garantierten medienbezogenen Rechte, etwa auf angemessenen Zugang zu und entsprechender Sichtbarkeit in öffentlichen audiovisuellen Medien sowie auf Gründung und Betrieb privater Print- und audiovisueller Medien, sind von grundlegender Bedeutung für Schutz und Förderung der eigenständigen Identität nationaler Minderheiten und daher strikt zu achten. Außerdem sollten solche Gruppen von einer proportionalen Zuwendung finanzieller und anderer Ressourcen aus staatlichen oder staatsnahen Mitteln profitieren, da vor allem die Medienprodukte zahlenmäßig kleinerer nationaler Minderheiten ohne entsprechende Subventionen auf den umkämpften Märkten kaum überleben können.
Da die meisten nationalen Minderheiten in Europa durch ihre Sprachen gekennzeichnet sind, kommt den in den Artikeln 10 und 11 RÜ geschützten sprachenbezogenen Rechten ganz besondere Bedeutung zu. Sie umfassen unter anderem das Recht auf Gebrauch der Minderheitensprachen im privaten wie öffentlichen Kommunikationsbereich sowie, jedenfalls zu einem gewissen Umfang, im Verkehr mit Verwaltungsbehörden und Gerichten; ebenso das Recht, seinen Namen in der Form der jeweiligen Minderheitensprache zu führen (was in Deutschland für Sorbinnen nicht gewährleistet ist) und die staatliche Anerkennung dieses Rechts; weiterhin das Recht, für die Öffentlichkeit sichtbare Schilder und Inschriften privater Art und, unter bestimmten Voraussetzungen, auch topografische Zeichen wie Orts- und Straßenschilder in einer Minderheitensprache anzubringen. Schließlich ist zu betonen, dass das RÜ der Existenz von Staatssprachen nicht entgegensteht und auch Maßnahmen zu ihrer Wahrung und Förderung erlaubt, solange sie nicht in einer Weise durchgesetzt werden, die ihrerseits die Rechte von Angehörigen solcher sprachlich definierter Minderheiten verletzen.
Wegen der entscheidenden Bedeutung von Sprache und Kultur für die Wahrung der eigenständigen Identität nationaler Minderheiten ist das Recht auf Erlernen der Muttersprache fraglos eine unabdingbare Voraussetzung für das bloße Überleben solcher Gruppen. Daher sind die in den Artikeln 12, 13 und 14 RÜ verankerten bildungsbezogenen Rechte so wichtig. Dabei ist es nicht ausreichend, dass die betroffenen Schülerinnen und Schüler ihre Muttersprache lernen und/oder in ihr unterrichtet werden. Sie müssen auch ihre eigene Geschichte und Kultur kennen – ebenso wie Sprache, Geschichte und Kultur der Mehrheitsbevölkerung. Dafür bedarf es sowohl qualitativ angemessener Lehrmittel als auch entsprechend ausgebildeter Lehrkräfte. Auch müssen der Mehrheitsbevölkerung zugehörige Schülerinnen und Schüler, wie überhaupt die allgemeine Öffentlichkeit, mit Geschichte und Kultur nationaler Minderheiten vertraut gemacht und die Möglichkeit eröffnet werden, Minderheitensprachen zu lernen. Unter Fachleuten und auch unter den europäischen Staaten besteht keine Einigkeit darüber, ob nationalen Minderheiten zugehörige Schülerinnen und Schüler in Einrichtungen des allgemeinen Erziehungssystems eingegliedert werden sollten, sofern sie dort ausreichende Möglichkeiten haben, ihre Muttersprache zu lernen und/oder in ihr unterrichtet zu werden, oder ob eigenständige Schulen oder zumindest Klassen eine bessere Option sind. Die letztere Option setzt voraus, dass ein solches System in Übereinstimmung mit den Wünschen der Betroffenen eingerichtet ist, also nicht auf Segregation zielt, und sichergestellt wird, dass die Sprachen der Mehrheits- wie der Minderheitsbevölkerung in ausreichender Qualität erlernt werden. Eine unzulässige Diskriminierung ist die dauerhafte Einschulung von Minderheiten zugehörigen Schülerinnen und Schülern in Sonderschulen mit der Begründung, sie seien der Unterrichtssprache nicht ausreichend mächtig, falls keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen werden, um ihnen einen möglichst raschen Übergang in die allgemeinbildenden Schulen zu ermöglichen.
Das in Artikel 15 RÜ garantierte Recht auf effektive Teilhabe am kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben sowie an allen öffentlichen Angelegenheiten ist für jede demokratische Gesellschaft essenziell und für nationale Minderheiten überlebenswichtig. Es beruht auf der zutreffenden Einschätzung, dass nur diejenigen nationalen Minderheiten, deren Angehörige ein ausreichendes Maß an Zugehörigkeit zu dem Staat empfinden, in dem sie leben, auch bereit sein werden, sich vollständig in diesen Staat und seine Strukturen zu integrieren, was wiederum Voraussetzung für Stabilität und friedliche Beziehungen zwischen Mehrheits- und Minderheitsbevölkerung ist. Um dieses Ziel zu erreichen, sind Politiken zu entwickeln und umzusetzen, die eine angemessene Vertretung von Angehörigen nationaler Minderheiten in gesetzgebenden Körperschaften auf lokaler, regionaler und gesamtstaatlicher Ebene sowie im öffentlichen Dienst einschließlich Polizei und Justiz sicherstellen (gegebenenfalls durch die Schaffung beratender Ausschüsse und vergleichbarer Gremien). Außerdem bedarf es intensiver Anstrengungen zur Verwirklichung der sozialen und wirtschaftlichen Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten, namentlich der Roma. Ihnen, insbesondere den Frauen, ist ausreichender Zugang zum Arbeitsleben, zu Einrichtungen des Bildungs- und Gesundheitswesens sowie zu angemessenem Wohnraum zu ermöglichen.
Die eigenständige Identität einer nationalen Minderheit kann auch durch staatliche Maßnahmen beeinträchtigt werden, die die Zusammensetzung der Bevölkerung in einer bestimmten Gegend ändern. Werden sie mit dem Ziel verfolgt, die Rechte der Angehörigen nationaler Minderheiten zu mindern, sind sie mit Artikel 16 RÜ unvereinbar. Dieses Verbot staatlicher Maßnahmen zur Änderung der Bevölkerungsstruktur gilt aber nicht nur für tatsächliche Umsiedlungsmaßnahmen, sondern kann auch schon berührt sein, wenn zum Beispiel der Zuschnitt von Verwaltungseinheiten so geändert wird, dass nationale Minderheiten, die zuvor lokale Mehrheiten darstellten, in ihrem angestammten Siedlungsgebiet zu numerischen Minderheiten werden oder jedenfalls nicht mehr die für eine Vertretung in Gebietskörperschaften notwendige Bevölkerungszahl erreichen.
Wegen der geografischen Verteilung der Siedlungsgebiete der meisten europäischen nationalen Minderheiten sind ungehinderte grenzüberschreitende Kontakte mit Angehörigen der gleichen ethnischen und/oder sprachlichen Gruppe von großer Bedeutung für Schutz und Förderung der eigenständigen Identität dieser Minderheiten. Dies erklärt die Aufnahme eines entsprechenden Rechts in Artikel 17 RÜ. Daher dürfen zum Beispiel Visa-Erfordernisse nicht zu unverhältnismäßigen Behinderungen grenzüberschreitender Kontakte führen.
Ungeachtet einiger Probleme, die sich aus manchen politischen und rechtlichen Handlungen von kin-states (also der jeweiligen Herkunftsstaaten) ergeben haben, kann ihre Unterstützung, sofern sie in nichtdiskriminierender Weise und in vollem Respekt vor dem staatlichem Recht auf nationale Souveränität und territoriale Integrität gewährt wird, zu einer erheblichen und willkommenen Verbesserung der tatsächlichen Lage von Angehörigen nationaler Minderheiten führen. Dies gilt insbesondere für das Bildungswesen, etwa durch Zusammenarbeit bei der Erstellung von Lehrbüchern oder Entsendung von Lehrkräften. Dieser Umstand wird in Artikel 18 RÜ anerkannt.
Würdigung
Mehr als 20 Jahre nach Abschluss der Aushandlung des RÜ lässt sich als wichtigste Errungenschaft das Bestehen der beschriebenen materiell-rechtlichen Standards und eines gut funktionierenden Überwachungssystems feststellen. Auch wenn bezüglich fast all dieser Standards beziehungsweise Rechte in vielen Einzelfragen weiterer Klärungsbedarf besteht, sind die Grundzüge des Prozesses der internationalen Standardsetzung weitestgehend abgeschlossen. Woran es vielerorts jedoch mangelt, ist die innerstaatliche Befolgung dieser Standards. Defizite bestehen etwa hinsichtlich der Herstellung effektiver Gleichheit, der finanziellen Förderung kultureller und medialer Einrichtungen nationaler Minderheiten, der strafrechtlichen Ahndung minderheitenfeindlicher Äußerungen und Handlungen, der tatsächlichen Gewährleistung des Rechts auf Gebrauch von Minderheitensprachen im Umgang mit Behörden mangels sprachkundiger Beamter, des Rechts auf Spracherwerb wegen qualitativ ungenügender Lehrmittel und unzureichend ausgebildeter Lehrkräfte sowie des Rechts auf effektive Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen und dem kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben.
Grundsätzlicher Klärungsbedarf besteht hingegen hinsichtlich folgender Fragen: Wie lassen sich aussagekräftige und verlässliche Daten über Angehörige nationaler Minderheiten in Staaten (wie etwa Deutschland, aber auch Norwegen und Schweden) erheben, in denen solche Erhebungen aus nachvollziehbaren historischen Gründen von den Minderheitenangehörigen selbst abgelehnt werden? Wie lässt sich ein angemessener Ausgleich finden zwischen dem legitimen Recht aller Staaten, ihre Staatssprache(n) zu fördern, und dem gleichermaßen legitimen Recht aller Angehörigen von Minderheiten, ihre Sprache(n) zu lernen und in ihnen unterrichtet zu werden? Was ist in Zeiten ernsthafter Wirtschaftskrisen der genaue Inhalt des Rechts auf effektive Teilhabe am kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Leben? Wie lassen sich bei einigen nationalen Minderheiten Phänomene "doppelter Diskriminierung" von Frauen bekämpfen, wenn also bestimmte Vorstellungen von der Stellung von Frauen als (angeblicher) Teil der Tradition einer nationalen Minderheit angesehen werden?
Ungeachtet dieser Mängel und ungelösten Probleme hat die Entwicklung der Standardsetzung und ihrer internationalen Überprüfung zu einer erheblichen Minderung der Risiken beigetragen, die Spannungen zwischen Mehrheits- und Minderheitsbevölkerungen für Friede und Sicherheit in Europa darstellen. Dennoch darf nicht verkannt werden, dass es vor allem auf dem Balkan und im Kaukasus immer noch erhebliches Gefährdungspotenzial gibt; dies gilt offenkundig auch im russisch-ukrainischen Verhältnis.
Anhaltend dringender Handlungsbedarf besteht bezüglich der in vielen Staaten Europas nur als desolat zu bezeichnenden sozialen Lage der Roma. Ungeachtet der zahlreichen und vielfältigen Bemühungen von EU und Europarat ist ihre Situation, vor allem was den Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie Einrichtungen des Bildungs- und Gesundheitswesens angeht, in weiten Teilen Europas immer noch als prekär anzusehen. Auch sind Roma weiterhin in hohem Umfang Opfer von Diskriminierungen.
Gewisse Sorgen bereitet auch der zunehmende Missbrauch von Minderheitenfragen in zwischenstaatlichen Beziehungen: Zwar können und sollen Staaten durchaus "ihre" Minderheiten in anderen Staaten fördern und unterstützen, doch darf dies nur unter strikter Beachtung der Souveränität des Staates geschehen, in dem diese kin-minorities leben. Die auch unter Hinweis auf die Lage der russischsprachigen Bevölkerung erfolgte Annexion der Krim durch die Russische Föderation und ihre Einmischung in den Konflikt in der Ostukraine lassen sich durch minderheitenrechtliche Überlegungen nicht rechtfertigen und sind klare Verletzungen des geltenden Völkerrechts.