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Was ist Heimat? Im Camp der Bestmöglichangekommenen - Essay | Fremd in der Heimat? | bpb.de

Fremd in der Heimat? Editorial Was ist Heimat? Im Camp der Bestmöglichangekommenen Minderheitenschutz in Europa: Entwicklung und aktueller Stand Zur sozialen und politischen Lage der anerkannten nationalen Minderheiten in Deutschland Postsowjetische Migranten in Deutschland. Perspektiven auf eine heterogene "Diaspora" Türkeistämmige in Deutschland. Heimatlos oder überall zuhause? Deutsche Minderheiten im Ausland

Was ist Heimat? Im Camp der Bestmöglichangekommenen - Essay

Dmitrij Kapitelman

/ 12 Minuten zu lesen

Hier, im Camp der Bestmöglichangekommenen, beginne ich meinen Essay über Heimat. Denn hier, an diesem nahdeutschen Ort, stehen meine Existenzzelte. Hier habe ich schon tausendmal das deutsche Heimatfähnchen wehen gesehen. Und ich werde es noch Tausende Male wehen sehen. Für den letzten Schritt auf das vertraute Grenzgebiet habe ich dann aber doch die falschen Fremdfüße. Sicher, ich könnte die Stiefel der Mehrheitsgesellschaft schnüren und losmarschieren. Sprache und genetische Oberfläche würden nichts verraten. Nur müsste ich diesen Schritt alleine, ohne meine Familie gehen. Denn ihre Existenzzelte stehen in viel größerer Distanz zu Deutschland.

Das Camp der Bestmöglichangekommenen ist ein fortschrittlicher, prosperierender, zuweilen aber sehr einsamer Ort. Über die Lautsprecher an den Identitätszäunen ringsherum hören wir oft Lobreden auf uns, die Zugezogenen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion: Lob für unser Talent, nahtlos mitzuleben, Lob für unser Vokabular und unsere sozioökonomischen Sprünge. Es ist ein gönnerhaftes Lob, das uns erhebt und gleichzeitig auf unsere Plätze im Camp zurückverweist. Irritierenderweise erfolgt dieses Lob häufig von denselben freundlichen Ministern, die ein verschärftes Asylrecht und schnellere Abschiebungen fordern, sobald die Umfragewerte ihrer Parteien zu sehr sinken.

Und so sitzen wir manchmal abends an unserem Lagerfeuer und lachen schwer darüber, dass wir die Sprache und Kultur unserer Eltern immer weniger verstehen. Der kroatischstämmigen Autorin Jagoda Marinić ist mal die schmerzlich treffende Bezeichnung "Integrationswaisen" eingefallen. Manchmal hören ein paar aus dem Garten der organisch Aufgewachsenen unsere Lieder, wenn sie am Identitätszaun vorbeispazieren. Und warum auch nicht, Musik ist schließlich allen eine Heimat. Also stand ich eines Abends aus unserem Bestmöglichangekommen-Chor auf und ging zwei der Zaungäste begrüßen. Ich sagte: "Hallo liebe Freunde aus dem Garten der organisch Aufgewachsenen. Wie geht es euch?" "Gut", sagten sie höflich und ein wenig geduckt, weil sehr darauf bedacht, nichts politisch Inkorrektes zu sagen. Zumindest einer von beiden. Der zweite schwieg säuerlich und schien irgendwie gereizt. Als müsste er sich seit langer Zeit etwas verkneifen, wenn er uns singen hört. Ich bot beiden Wodka an, damit sie sich ein wenig entspannten. Und ich hatte Spaß daran, das Stereotyp vom Wodka-Osteuropäer, der ich auch irgendwie bin, zu bestätigen.

Ein paar Momente später fasste der Grimmige etwas Vertrauen und fragte mich rundheraus: "Ganz ehrlich, so richtig seid ihr Bestmöglichangekommenen aber auch nicht zu begreifen. Sitzt hier und jammert darüber, wie schwer es ist, so toll integriert zu sein. Was ist euer Problem? Ihr wollt als Deutsche behandelt werden, aber wehe, man vergisst zu erwähnen, dass ihr keine Deutschen seid! Ihr verlangt hier eine legitime Heimat und trötet dann eure Entgrenzungsschlager!" Der etwas zu Korrekte aus dem Garten der organisch Gewachsenen wollte seinen Begleiter schon mahnend in die rechte Seite stoßen, aber ich bat ihn mit den Augen, das nicht zu tun. Ich kratzte mich ein wenig unschlüssig am Kinn und antwortete: "Ja, das stimmt. Wir sind schon ein verzwicktes Völkchen. Und so richtig erklären kann ich uns auch nicht. Aber lasst mich euch vielleicht eine persönliche Geschichte erzählen. Darüber, wie ich mich erkältet habe und im Zuge dieser Erkältung meiner russischen Mutter beweisen musste, dass ich nicht antirussisch bin." Die beiden Gäste aus dem Garten der organisch Gewachsenen schauten sich kurz unschlüssig an, aber stimmten zu. Wir tranken noch ein stimmendes Stereotyp, und ich begann meine Geschichte.

Nicht nur ein Kratzen im Hals

"Zum russischen Neujahr besuchte ich also meine lieben Eltern in Leipzig und klagte beim Abendessen, dass mein Hals kratzt. Sie drehten das russische Staatsfernsehen leiser, das täglich durch ihre Wohnung in Plagwitz flimmert, und riefen mit der Mine von Chefärzten: ‚Faringosept! Wo ist unser Faringosept? Das brauchst du jetzt, Dima!‘ Faringosept ist ein (wahrscheinlich) in Rumänien hergestelltes, in Osteuropa sehr populäres Antiseptikum gegen Halsinfektionen. Es schmeckt nicht übel, ein wenig karamellig. Was drin ist, weiß ich bis heute nicht. Schon zu Sowjetzeiten nahm es meine Mutter, Vera. Oder Vira, wie sie nun heißt, weil die ukrainische Botschaft in Berlin das irgendwann für richtig hielt. Ich verstehe nicht, warum sie das entstellende i bis heute akzeptiert und sich selbst als Vira vorstellt. Genauer: Ich verstehe nicht ihre Behördenhörigkeit. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wobei, vielleicht ist das auch genau die richtige Geschichte, weil sie in die Sowjetzeit führt. Denn schon damals, als Vera sich mit 18 aus dem moldauischen Soroca nach Kiew verheiratete, nahm sie Faringosept gegen Halsweh. Mein Vater, Leonid, war noch nicht der Ehemann, der es ihr aus der Apotheke mitbrachte. Aber seit seiner Geburt in der ukrainischen Hauptstadt – er lebte im östlichen Teil, der sich eher mit der Sprache und Kultur Russlands identifizierte – lutschte auch er bei Bedarf Faringosept. Leonids Vorname wurde bisher nicht auf Hörigkeit geprüft. Aber sein Familienname ist auch ein ganz schönes Politikum: Kapitelman. Meine Großeltern, Rachel und David Kapitelman, haben Leonid mal erklärt, dass der Name mit der langen Rabbitradition der Familie zusammenhängt. Kapitelman ist im Jiddischen der besonders talmudkundige Mann, der gern und oft Kapitel aus der heiligen Schrift herbetet. Und weil mein Vater Angst davor hatte, dass die Antisemiten der Ukraine wünschen, dass mir Judenkind das Faringosept in der Kehle stecken bleiben möge, beschloss er, dass ich nicht Kapitelman heißen soll. Was heute, 21 Jahre nach unserer Auswanderung nach Germania, dazu führt, dass ich mit deutschen Behörden um mein Recht auf den Namen des Talmudkundigen ringe. Denn Namensänderungen für Bestmöglichangekommene mit ukrainischem Pass sind administrativ so unkompliziert wie die Wassersuche auf dem Mars."

Beide Zaungäste nickten mir ermutigend zu, aber in den Winkeln ihrer Kiefer deutete sich ein Gähnen an. Und ich konnte es ihnen nicht verübeln, wer will schon von bürokratischen Beschwerlichkeiten hören? Also goss ich uns schnell einen stimmenden Stereotypschnaps ein und erzählte die eigentliche Geschichte weiter.

"‚Ihr braucht das Faringosept nicht zu suchen‘, sagte ich meinen Eltern. ‚Ich habe mir schon Neo-Angin gekauft.‘ ‚Ja, aber das ist ein deutsches Medikament.‘ ‚Und?‘ ‚Dima, deutsche Medikamente wirken nicht! Faringosept wird dich gesund machen!‘ Ich war zu faul, die Überlegenheit postsowjetischer Medikamente gegenüber den westlichen Pharmaerzeugnissen zu hinterfragen und meinte: ‚Okay, dann gebt mir bitte das Faringosept.‘ Und im Hintergrund bejubelte ein Beitrag von Rossiya 24, dass es an einer viel befahrenen Moskauer Straße kaum noch Staus gebe, weil eine weitere Ampel aufgestellt worden sei. Gleich danach sah man russische Soldaten Hilfsgüter an dankbare syrische Kinder verteilen. Am nächsten Tag studierten meine Mutter und ich den Beipackzettel von Faringosept. Darin hieß es, dass Erwachsene alle drei Stunden ein Tablettchen davon lutschen sollen. So weit, so gut. Wie bereits erwähnt, es schmeckt wirklich nicht schlecht. Manchmal schmeckt es auch fruchtig, das habe ich vergessen, zu erwähnen. Ich könnte schwören, dass die Faringosepts, die ich als Kind in Kiew von Mama bekam, fruchtig schmeckten."

"Kann man das eigentlich auch in Deutschland bekommen?", fragte der kosmopolitischere Zaungast aus dem Garten der organisch Gewachsenen interessiert. Scheinbar war er erfreut über ein so unverfängliches Thema und die Möglichkeit, kulturell vielfältige Halsbonbons in seinem Arzneischrank auszustellen. "Wartet Freunde!", bremste ich. "Auf dem Beipackzettel stand auch, dass man nach der Einnahme drei Stunden lang nichts essen und trinken darf. Auf fünf Einnahmen täglich hochgerechnet, ergibt das 15 Stunden Nahrungsentzug – für einen ohnehin schon angeschlagenen Organismus. Das finde ich dann doch einen recht happigen Arznei-Asketismus. Und auch Vera zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Das tut sie nicht immer, wenn es um Russland oder die Sowjetunion geht.

Sie zog ihre Augenbrauen beispielsweise nicht hoch, als Putin die Krim annektierte – entgegen jedem modernen Verständnis von Völkerrecht. Da sagte sie nur, dass die Krim doch sowieso schon immer russisch gewesen sei. Und dass es den Menschen dort unter russischer Ägide viel besser gehen werde als in den Klauen der demokratisch gewählten ukrainischen Diebe. Und dass die Westmedien, für die ich auch arbeite, nur einseitige Lügen verbreiten und nie etwas gegen die ‚Amerikossi‘, die USA, schreiben würden. Das machte mich rasend. Aber nicht antirussisch. Das System Putin ist das System Putin. Klein Großputin kann annektieren, bis ihm ganz sanktionsschummrig wird. Meine wunderbare russische Muttersprache und all die emotionalen Assoziationsuniversen, die ich mit ihr empfinde, kann er mir damit nicht nehmen. Aber das wollte Vera nicht hören. Vielleicht war ich bei unseren vielen verbalen Kriegen zum Krieg auch einfach nicht reif und ruhig genug, um Zwischentöne anklingen zu lassen. Dennoch, Veras Augenbrauen bleiben grundsätzlich ungehoben, wenn es um Freiheit geht. ‚Damit stellen Menschen eh nur Unsinn an‘, sagt sie dann gern. Und ab diesem Punkt ist die Glorifizierung der Sowjetzeit nicht weit. Dagegen verwahre ich mich. Einfach, weil ich Glorifizierungen von politischen Systemen, erst recht totalitären, nicht mag. Nicht, weil ich antirussisch wäre, sondern weil ich mich als Demokrat und vor allem Humanist verstehe. Aber das glaubt mir Vera nicht. Sie erinnert mich regelmüßig (freudscher Verschreiber) daran, dass ich ja auch 1986 in der Sowjetunion ‚geboren und gemacht wurde‘. Als wäre es mein sehnlichstes Ziel, diese Herkunft zu verleugnen."

"Hmm, ja, schlimm der Stalin", sagte mein etwas unberechenbar säuerlicher neuer Freund von hinter dem Identitätszaun, so, als hätte er die deutsche Geschichte bis in den letzten Partikel Schamstaub gereinigt und als sehe er es gar nicht mehr ein, einen gesonderten deutschen Schuldkult mitzutragen. Aber vielleicht habe ich seine Gesichtszüge auch nur falsch gedeutet. Ich bin derzeit einfach sehr nervös, wegen der bevorstehenden Bundestagswahlen und der – für die Bundesrepublik eigentlich unvorstellbaren – chauvinistischen Enthemmungen, die sie bedeuten könnten. Jedenfalls wollte ich schnell wieder über Faringosept sprechen.

"Vera hob also ihre Augenbrauen, die sie nicht immer hebt, und meinte: ‚Nimm die Tabletten einfach so, wie es sich gut anfühlt.‘ Und das war so ein Satz, den ich gern über ganz andere Aspekte des Lebens von ihr hören würde. Ich nahm also zwei Tage lang Faringosept und versuchte, zumindest zwei Stunden danach nichts zu essen und zu trinken. Gewirkt haben sie kein bisschen – sodass ich nebenbei, fast ein wenig heimlich und verbrämt, wieder Neo-Angin lutschte und in dieser Kombination die Rezeptur zu einem wirklich erstaunlich wirksamen Abführmittel entdeckte." Beim Thema unfreiwilliges Abführmittel lachten wir alle drei herzlich, und der Identitätszaun schien lächerlich niedrig, löchrig und unbedeutend lumpig.

"Meine Erkältung, in deren Zug ich meinen osteuropäischen Eltern beweisen wollte, dass ich nicht antirussisch bin, verschlimmerte sich unterdessen. Dennoch beschloss ich, zumindest einen kurzen Spaziergang pro Tag zu unternehmen. Denn dass auch ein erkälteter Körper durchaus Bewegung benötigt, haben mir schon mehrere deutsche Ärzte versichert. Ich stand also wärmstens angezogen vor Vera und wollte hinaus, als sie entgeistert fragte: ‚Wo willst du denn hin? Du bist doch krank!‘ ‚Ich möchte ein wenig spazieren, das ist gesund.‘ ‚So ein Unsinn. Dein Organismus braucht absolute Ruhe! Du darfst dich gar nicht rühren!‘ ‚Nein, eben das soll man nicht machen.‘ ‚Haben dir das diese Hochstapler, diese deutschen Ärzte eingeredet?‘

An diesem Punkt fing ich Erkälteter dann doch ein wenig Wutfeuer. Vielleicht, weil ich wenige Tage zuvor in der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ eine unfassbare Reportage über das russische Gesundheitssystem gelesen hatte. Darin ging es um die Aids-Plage in Russland, genauer gesagt, um den staatlichen Umgang damit. Selbst in afrikanischen Ländern sinken die HIV-Infektionsraten derzeit. Nicht so in Russland. Einige Nichtregierungsorganisationen versuchen deshalb, präventiv saubere Spritzen und Kondome zu verteilen. Das Unfassbare an dieser Situation ist in meinen bestmöglichangekommenen Augen, dass die russische Regierung diese lebensrettende Arbeit der NGOs verurteilt. Sie stigmatisiert die Freiwilligen nicht nur als ‚Ausländische Agenten‘, sondern stellt sich stur und behauptet, dass saubere Spritzen und Kondome gegen die ‚traditionellen russischen Werte‘ verstießen. Angeblich würden sie das Lotterleben fördern, anstatt die moralische Wurzel, den Sittenverfall anzugehen. ‚Ach, und deine Sowjetärzte sind unfehlbar, ja?‘, schleuderte ich Vera entgegen. ‚Ein Kranker musste sich bei uns jedenfalls nicht zum Arzt schleppen! Er bekam einen Hausbesuch vom Doktor!‘, entgegnete sie. Hier vergaß ich kurz meinen Halsschmerz und brüllte mit luzid gelutschtem Stimmorgan (ebenso wie ich vergaß, Gegenwartsrussland und Sowjetunion zu differenzieren): ‚Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass die medizinische Versorgung in Russland besser ist als hier? Ausgerechnet jetzt, wo sie nicht mal richtigen Käse und Milch in den Regalen haben, weil dein Putin die Krim annektieren und Großzar spielen musste! Und ganz nebenbei, dein Drecks-Faringosept hilft nicht die Bohne! Ich muss nur die ganze Zeit scheißen wie ein Esel!‘"

Diesen Dialog wiedergebend, bemerkte ich, dass meine Stimme ganz zittrig geworden war – und dass meine Zaungäste aus dem Garten der organisch Gewachsenen das Zittern ebenfalls registriert hatten. Also goss ich uns schnell mehr Wodka ein und sagte bald in größter zittriger Aufrichtigkeit: "Meine Eltern, die mich in dieses fertile Land gebracht haben und verlangten, dass ich hier Wurzeln schlage und blühe, werfen mir nun vor, einer von Denen geworden zu sein. Ein Fremder. Ich verliere die erste und ewige Heimat eines Menschen, meine Familie. ‚Du verachtest uns.‘ Vera hat es nicht ausgesprochen. Aber unausgesprochen ist es fast noch schmerzhafter. ‚Du verachtest uns. Du schaust von deinem deutschen Fels auf uns herab.‘ Das denkt meine Mutter über mich. Dabei verachte ich sie kein bisschen, ich schaue sehnsuchtsvoll zu meinen Eltern herüber, vom einsamen Camp der Bestmöglichangekommenen aus. Deswegen sitzen wir hier, die Integriertverlorenen, singen süßbitter und halten uns manchmal die Ohren zu, wenn die Lobreden losscheppern. Weil sie das Bild einer abgeschlossenen Erfolgsgeschichte verfestigen, wo in Wahrheit ein schmerzhafter Prozess weitertobt."

Wir schwiegen ein paar Augenblicke am Zaun, und ich füllte noch einmal die Gläser. "Rjumacki", sagte ich mit verzogener Miene und heiserer Stimme vom stimmenden Stereotypschnaps. "So nennen wir die Schnapsgläschen." "Reunuschkey", wiederholte der zu Beginn latent Aggressive aus dem Garten der organisch Gewachsenen ebenso falsch wie herzallerliebst. Um das Gespräch weiterzutreiben, fragte der von Beginn an Offene: "Das heißt, du hast dich damit abgefunden, dein Leben im Camp der Bestmöglichangekommenen zu verbringen? Für immer heimatlos?" "Nicht ganz", antwortete ich. "Vielleicht habt ihr noch etwas Zeit, damit ich euch erzählen kann, wie mein jüdischer Vater in Israel damit aufgehört hat, mir zu sagen, dass ich kein Jude bin – und wie ich nebenbei eine andere deutsche Heimat in Israel fand." "Na los!", sagte der längst nicht mehr unzugänglich Stolzhalsige, so schnell, dass es ihn wohl selbst überraschte.

Unterwegs in den eigenen Gärten?

"Einen Tag nachdem ich mit meinem lieben Vater am Ben-Gurion-Flughafen Tel Aviv gelandet war, proklamierte er, endlich in seiner Heimat angekommen zu sein. In seinen 59 Jahren zuvor hatte er diese Heimat nicht einmal aufgesucht. Und kurz bevor wir 2015 flogen (die ganze Reise war meine Initiative), krakeelte er noch, dass er zwischen Disney Land und Jerusalem keinen großen Unterschied sehe. Weil er so wenig gläubig ist wie ein Halsbonbon. Gleichzeitig glaubte er sein Leben lang, als Jude zur Kaste der Auserwählten und ewig Gejagten zu zählen, während er den philosemitischen Staatsbekenntnissen des neuen Deutschlands kaum Glauben schenkte. Trotzdem immigrierten wir vor 21 Jahren in das Land, dem Leonid nicht traute, statt nach Israel.

Als ich vor ein paar halbherzig gefeierten Hanukkah fragte, weshalb, gab mein Vater mir unumwunden mit: ‚Weil du in Israel immer ein Jude zweiter Klasse gewesen wärst.‘ Vera ist keine Jüdin, und die Gesetze der Halacha besagen, dass mein Blut verunreinigt ist. Nun, als reinblutiger Jude unter Juden, in gewähnter Sicherheit, riss Leonid die Heimatfahne sofort an sich und kleidete sich darin von Kopf bis Fuß. So stolzierte er durch Israels Gärten der organisch Neuzusammengewachsenen. Und mich schleuderte es währenddessen durch völliges Verständnisvakuum. Ich wollte von Leonid hören, ob ich denn auch durch diese Gärten stolzieren darf – was er verneinte. Die Stammbaumforscher im Museum of the Jewish People, die Einbürgerungsbestimmungen des Heiligen Landes und viele weitere Israelis widersprachen meinem Vater. Sie sagten: ‚Dima, selbstverständlich gehörst du zur Kaste der Auserwählten und ewig Gejagten. Es ist dein gottgegebenes Recht, als vollwertiger Bürger durch Israels Gärten zu spazieren, wenn dein Vater doch Jude ist.‘ Und schlagartig war ich ein so strahlender Brocken Selbstfindung, dass ich beinahe alles vergaß und das nahdeutsche Camp der Bestmöglichangekommenen verlassen und nach Israel ziehen wollte. Heimat in der Heimat der ewig Heimatlosen finden.

Aber dann sah ich, dass fast alle äthiopischen Juden die Hundescheiße vom Straßenrand kratzen müssen und gar keine Zeit für Gärten haben. Ich sah, dass Israels Araber, immerhin 20 Prozent der Landesbevölkerung, gar nicht gern im Garten gesehen werden und die Gärten der Palästinenser gegenwärtig zum Verdorren verdammt sind. Vor allem sah ich aber, dass ich die neue Heimat meines jüdischen Vaters mit deutschen Augen betrachtete: mit einer politischen Korrektheit, einem durch die Sozialisierung in Deutschland verinnerlichten ethischen Anspruch, der es kaum zur Exportweltmeisterschaft bringen dürfte. Ich betrachtete sie mit den Augen eines Demokraten made in Germany, eines Verfassungspatrioten. Denn auch wenn die Idee der Egalität aller Menschen und der offenen Gesellschaft keinen Pass hat: Lange habe ich nicht wertzuschätzen gewusst, wie sicher sich diese Idee im Deutschland der vergangenen Jahrzehnte fühlt."

Ich unterbrach mich kurz. "Vielleicht fühlte." "Wieso fühlte?", fragten meine Besucher aus dem Garten der organisch Gewachsenen am Identitätszaun. Und ich zählte die Populisten, die selbsternannten Protestparteien und den enormen Zuspruch für ihre Parolen auf. Ich dachte an Vera und Leonid, dachte wieder an die bevorstehenden Wahlen und kippte zwei Wodka mehr als meine neuen Freunde. Während mein innerer Kompass unbeeindruckt nüchtern weiterfragte: Wo gehst du jetzt hin?

ist freier Journalist und Autor. Er wurde 1986 in Kiew geboren und kam 1994 als "Kontingentflüchtling" nach Deutschland. Er studierte Politikwissenschaft und Soziologie in Leipzig und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. 2016 erschien sein autobiografischer Roman "Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters". Externer Link: http://twitter.com/kapitelmanslife