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Quadratur des Kreises? Hintergründe der EU-Türkei-Beziehungen | Türkei | bpb.de

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Quadratur des Kreises? Hintergründe der EU-Türkei-Beziehungen

Funda Tekin

/ 16 Minuten zu lesen

Die EU-Türkei-Beziehungen sind heute paradoxerweise so eng, aber auch so schlecht wie schon lange nicht mehr. Kooperation wird nämlich gerade in der Migrationspolitik benötigt, was wiederum Befürchtungen um eine zu große Abhängigkeit der EU von der Türkei hervorruft.

Im November 2015 bekräftigten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der EU die Relevanz der Türkei als wichtiger strategischer Partner und strebten die Wiederbelebung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei an. Im November 2016 empfahl die Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments das Einfrieren der selbigen. Zwischen diesen Momentaufnahmen der EU-Türkei-Beziehungen liegen lediglich zwölf Monate. Diese waren von außen-, innen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen geprägt, welche die Komplexität dieser Beziehungen verdeutlichten. Sie können heute paradoxerweise als so eng, aber auch so schlecht wie schon lange nicht mehr beschrieben werden.

Ein gescheiterter Putschversuch, die Umformungsprozesse des Rechtsstaates und eine Serie von Terroranschlägen in der Türkei haben nicht nur die EU-Beitrittsperspektive dieses nun "anderen Landes" beeinflusst, sondern auch zu diplomatischen Anspannungen zwischen beiden Seiten geführt. Gleichzeitig binden die sogenannte Flüchtlingskrise und das Übereinkommen zwischen der EU und der Türkei vom 18. März 2016 als wichtigen Baustein des europäischen Krisenmanagements die EU eng an die Türkei. Der schwierige Beitrittsprozess der Türkei zur EU und die Relevanz des Landes als strategischer Partner bilden somit ein grundsätzliches Dilemma der Beziehungen. Ihre Analyse sollte daher auch von der Frage geleitet sein, ob sie als gescheitert gelten können, falls die türkische Beitrittsperspektive ihre Glaubwürdigkeit und Relevanz verliert beziehungsweise gänzlich wegbricht, oder ob alternative Formen der Beziehungen denkbar wären. Hierfür bieten sich auch die Debatten um den Brexit als Denkmodell an.

Wichtiger, wenn auch nicht einfacher Partner

Die Rolle der Türkei als wichtiger strategischer Partner wurde nicht erst im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise evident. Die Türkei und die EU teilen eine lange und gleichzeitig konfliktreiche Geschichte. Darüber hinaus können geostrategische und wirtschaftliche Interessen als wichtige Triebfedern der EU-Türkei-Beziehungen identifiziert werden.

Aufgrund ihrer geografischen Lage gilt die Türkei allgemein als "Tor Europas zum Nahen und Mittleren Osten", das je nach außen- und sicherheitspolitischer Großwetterlage an Relevanz gewinnt. Zur Zeit des Kalten Krieges dominierten gegenseitige Sicherheitsinteressen in der Abgrenzung zur Sowjetunion die EU-Türkei-Beziehungen. Die geostrategische Rolle der Türkei musste nach dem Wegfall des Ost-West-Konfliktes Anfang der 1990er Jahre neu definiert werden. Zunehmend wurde eine aktivere türkische Außenpolitik im Sinne eines proaktiven "regionalen Stabilisators" erkennbar.

In den 2000er Jahren entwickelte die türkische Außenpolitik mit dem Konzept der "strategischen Tiefe" des damaligen Außenministers Ahmet Davutoğlu einen eigenen Machtanspruch in der Region, der sich auf die historisch-osmanische Vergangenheit der Türkei berief und ein ausgewogenes Verhältnis mit globalen und regionalen Akteuren anstrebte. Der Westen und Europa hofften ihrerseits insbesondere während des sogenannten Arabischen Frühlings, dass die zu der Zeit stabile, islamisch geprägte und gleichzeitig säkulare Demokratie der Türkei ein Vorbild für die Staaten der Region darstellen könnte.

Sowohl die türkischen als auch europäischen geostrategischen Konzepte sind jedoch nicht aufgegangen. Die Türkei konnte bisher kein ausgewogenes Verhältnis zu seinen Nachbarn herstellen, Lösungen für Konflikte in der Nachbarschaft, vor allem in Syrien, sind nicht in Sicht, und die Türkei selbst ist auf dem besten Wege, sich in ein autokratisches System zu verfassen. Darüber hinaus ist nach einer durch den Abschuss eines russischen Kampfjets im November 2015 bedingten Eiszeit in den türkischen Beziehungen zu Russland aktuell wieder eine Annäherung zwischen diesen Staaten zu beobachten.

Die wirtschaftlichen EU-Türkei-Beziehungen sind stabil und begründen sich in gegenseitigen Interessen. 2015 stieg die Türkei zum viertwichtigsten Handelspartner für EU-Exporte auf und nahm dabei den Platz Russlands ein. Gleichzeitig rückte die Türkei auf den sechsten Platz unter den Lieferanten von EU-Importen vor. In der Regel kommen mehr als 50 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in der Türkei aus den EU-Mitgliedsstaaten. Das gegenseitige Interesse in wirtschaftlicher Hinsicht spiegelt sich auch im Formalisierungsgrad der EU-Türkei-Beziehungen wider. Das Assoziierungsabkommen zwischen der Türkei und der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1963 zielte bereits auf die Gründung einer Zollunion ab. Diese trat 1996 in Kraft und führte zu einem Sonderstatus der Türkei im Vergleich zu den anderen EU-Beitrittskandidaten.

Die Entwicklungen von 2016 scheinen jedoch eine Neubewertung der EU-Türkei-Beziehungen im Lichte der geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen zu erfordern. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Türkei angesichts der Wiederannäherungen an Russland bei gleichzeitiger Kritik an ihrer innenpolitischen Entwicklung aus dem westlichen Lager noch ein verlässlicher Partner des Westens in der Außen- und Sicherheitspolitik sein kann. Ein solcher wird von der EU jedoch gerade in der Flüchtlingspolitik benötigt, was wiederum Befürchtungen um eine zu große Abhängigkeit der EU von der Türkei hervorruft.

Die innen- und außenpolitischen Entwicklungen von 2016 sind aber auch an der türkischen Wirtschaft nicht spurlos vorbeigegangen. Die Türkische Lira ist auf dem tiefsten Stand seit der globalen Finanzkrise. Hinsichtlich ihrer Bonität wurde die Türkei im September 2016 empfindlich zurückgestuft, und im dritten Quartal 2016 ging das Bruttoinlandsprodukt um 1,8 Prozent zurück. Letzteres lässt sich durch einen starken Einbruch der Tourismusbranche als Resultat der diplomatischen Verwerfungen mit Russland sowie der Serie von Terroranschlägen in der Türkei erklären. Experten vermuten, dass sich diese Trends über die nächsten Jahre verfestigen könnten. Dennoch sind für 2017 Verhandlungen über einen Ausbau und eine Intensivierung der Zollunion geplant.

Besonderer Beitrittskandidat: Fluch oder Segen?

Die Türkei kann nicht nur aufgrund ihrer Einbindung in die Zollunion als ein besonderer Beitrittskandidat bezeichnet werden. Hierfür sprechen viele Gründe und Faktoren, die zur Komplexität der EU-Türkei-Beziehungen beitragen. So ist zunächst der steinige Weg der Türkei in den Kreis der EU-Beitrittskandidaten hervorzuheben. Die Türkei stellte ihren ersten Mitgliedsantrag bereits 1987. Dieser wurde 1989 von der Europäischen Kommission zwar aufgrund demokratischer Defizite in der Türkei abgelehnt, ohne ihr jedoch die grundsätzliche Beitrittsfähigkeit abzusprechen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion stand das Zusammenwachsen Europas im Fokus der europäischen Erweiterungspolitik. Zehn mittel- und osteuropäische Staaten sowie Zypern und Malta wurden 1997 auf dem Gipfeltreffen des Europäischen Rates in Luxemburg zu Beitrittskandidaten erklärt. Die Türkei wurde in diese Runde erst zwei Jahre später auf dem Gipfeltreffen in Helsinki aufgenommen.

Der Türkeibeitritt ist sowohl in der EU und insbesondere in Deutschland als auch in der Türkei Gegenstand einer intensiven politischen Debatte. Diese wird genauso von kulturellen wie von geostrategischen oder strukturellen Argumenten geprägt, die sich um die "Europafähigkeit" der Türkei einerseits und die Erweiterungsfähigkeit der EU andererseits drehen. Kulturell wie auch geografisch wird immer wieder die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa diskutiert. Als einer der Schlüsselbegriffe dieser Debatte kann der Vorwurf, die EU sei ein "Christenclub", genannt werden. Der Begriff wurde Ende der 1990er Jahre geprägt und wird von türkischer Seite immer wieder ins Feld geführt.

Die geostrategischen Argumente, welche die Türkei zum wichtigen Partner Europas werden lassen, schlagen sich in der Diskussion um einen Beitritt des Landes eher negativ nieder. Als strategischer Partner stellt die Türkei eine Brücke zum Mittleren Osten dar. Im Falle eines Türkeibeitritts zur EU würde diese gemeinsame Grenzen mit einer Krisenregion besitzen. Die Bereitschaft, einen direkten Bezug zu Konflikten wie dem in Syrien herzustellen, ist zumindest in der europäischen Bevölkerung eher gering. Diese Argumente gehen mit einer der EU allgemein attestierten Erweiterungsmüdigkeit einher.

Bereits während der Vorbereitung auf die Aufnahmen der zehn mittel- und osteuropäischen Staaten sowie Zypern und Malta 2004 und 2007 wurde die Befürchtung einer (institutionellen) Überdehnung der EU immer häufiger diskutiert. Die Hauptargumentationslinie nahm also weniger die Beitrittsfähigkeit der Türkei in den Fokus als die Behauptung, dass das europäische Haus voll sei. Die EU solle erstmal die Osterweiterung verkraften, bevor weitere Mitglieder aufgenommen werden könnten. Im Lichte dieser Debatte ist es auch nicht hilfreich, dass die Türkei hinsichtlich der Bevölkerungszahlen fast der größte Mitgliedsstaat in der EU sein würde.

Der Sinneswandel zwischen den Europäischen Gipfeln von Luxemburg 1997 und Helsinki 1999 kann aus unterschiedlicher Perspektive heraus erklärt werden. Zum einen änderte sich durch die Kosovo-Kriege die politisch-strategische Lage, in der die Türkei eine wichtige Rolle spielte. Zum anderen wandelte sich das Narrativ der EU-Türkei-Beziehungen in Deutschland, wo eine Regierungskoalition aus SPD und Grünen die Ära von Helmut Kohl beendet hatte. Auch in der Türkei fand kurze Zeit später ein Regierungswechsel statt. Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) gewann die Wahlen 2002 und konnte allein die Regierung stellen. Dies setzte den Jahren fragiler Regierungskoalitionen in der Türkei ein Ende und ermöglichte die Verabschiedung einer Vielzahl an Reformpaketen. Vor diesem Hintergrund und im Vertrauen auf einen andauernden und nachhaltigen demokratischen Reformprozess in der Türkei entschieden die Staats- und Regierungschefs der EU im Dezember 2004, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu eröffnen.

Des Weiteren belastet das Paradoxon, dass die Beitrittsverhandlungen stets stagnierten sobald sie begonnen hatten, die EU-Türkei-Beziehungen. Drei Faktoren können hierfür als Erklärung herangezogen werden. Erstens führte die Entscheidung, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen, ein Novum ein. Diese sollen "ergebnisoffen" geführt werden, was zwar eine Vollmitgliedschaft nicht ausschließt, diese aber auch nicht garantiert. Aus türkischer Sicht war somit das Scheitern der Verhandlungen bereits im Vertragsdokument selbst angelegt. Dies trug, zweitens, unter anderem zu einer Reformmüdigkeit der AKP-Regierung bei. Drittens blockierten einige EU-Mitgliedsstaaten die Öffnung zentraler Verhandlungskapitel. Von 33 Kapiteln sind lediglich 15 geöffnet, und nur im Bereich Wissenschaft und Forschung können die Verhandlungen als vorläufig abgeschlossen gelten. Dies ist ein eher trauriges Ergebnis eines mehr als zehn Jahre andauernden Verhandlungsprozesses, in dem jeder einzelne EU-Mitgliedsstaat sein Veto zu einzelnen Verhandlungsschritten einlegen kann. Von diesem machten bereits Frankreich und Deutschland Gebrauch. Der eigentliche Veto-Spieler ist jedoch Zypern, das nur dann bereit ist, wichtige Kernkapitel des acquis communautaire wie Justiz und Inneres sowie Grundrechte zu verhandeln, wenn die Türkei ihrerseits einen Zusatz zum Protokoll des Ankara-Abkommens, der zypriotischen Handelsschiffen den Zugang zu türkischen Häfen untersagt, aufhebt.

Ende 2015 schien jedoch eine Redynamisierung der Beitrittsverhandlungen möglich. Im Gegenzug für die türkische Kooperation in der Flüchtlingskrise sollten weitere Kapitel geöffnet werden. Dieses Versprechen wurde im Dezember 2015 und Juni 2016 in Form von Kapitel 17 (Wirtschafts- und Währungspolitik) und 33 (Finanz- und Haushaltsvorschriften) gehalten. Das neue Momentum in den Beitrittsverhandlungen wurde allerdings durch den gescheiterten Putschversuch in der Türkei vom 15. Juli 2016 und das repressive Vorgehen der AKP-Regierung sowie einer Debatte um die Wiedereinführung der Todesstrafe im Anschluss jäh ausgebremst, und die EU Institutionen denken heute laut über ein Einfrieren der Verhandlungen nach.

Dieses Auf und Ab in den EU-Türkei-Beziehungen und insbesondere in den Beitrittsverhandlungen führte vor allem dazu, dass die Beitrittsperspektive für die Türkei an Glaubwürdigkeit verlor. Dies bedingte unter anderem, dass die Zustimmung zu einem Beitritt in der türkischen Bevölkerung ernorm zurückging, aktuell liegt sie bei unter 30 Prozent. Viel wiegt jedoch die Tatsache, dass die Konditionalität der europäischen Erweiterungspolitik, bei der eine glaubwürdige Beitrittsperspektive Grundvoraussetzung dafür ist, dass die EU über Beitrittskriterien und Benchmarks zum Reform- und Transformationsprozess beitragen kann, hinsichtlich der Türkei ausgehebelt ist.

"Deal" oder "Deal Breaker"?

2015 trat ein Politikbereich in den Fokus der EU-Türkei-Beziehungen, der bis dahin zwar als wichtig, aber nicht als dominierend gegolten hatte. In diesem Jahr wurden in der EU 1,3 Millionen Asylanträge verzeichnet, davon 35 Prozent in Deutschland. Diese Flüchtlingsbewegung stellte die EU und ihre Mitgliedsstaaten auf eine harte Probe. Insbesondere der Schengenraum und das sogenannte Dublin-System gerieten unter starken Druck. Im Schengener Abkommen haben sich 22 EU-Mitgliedsstaaten sowie Norwegen, Island, die Schweiz und Liechtenstein dazu verpflichtet, keine Kontrollen an ihren gemeinsamen Binnengrenzen durchzuführen. Dies erfordert die Zusammenarbeit in einigen davon betroffenen Politikbereichen – unter anderem auch in der gemeinsamen europäischen Asyl- und Migrationspolitik. Die Dublin-Verordnung regelt so zum Beispiel, welcher EU-Mitgliedsstaat für das Asylverfahren eines Antragstellers verantwortlich ist – nämlich der, in dem der Antragsteller zum ersten Mal den Schengenraum betreten hat. Aufgrund ihrer geografischen Nähe zur Region des Mittleren Ostens und Nordafrikas waren über Jahre Italien und Griechenland am stärksten betroffen. Das Ausmaß der Flüchtlingsbewegung 2015 trug dann dazu bei, dass die Dublin-Regeln außer Kraft gesetzt wurden und Länder wie Ungarn, Deutschland, Schweden und Österreich in absoluten Zahlen die meisten Asylanträge registrierten.

Den EU-Mitgliedsstaaten gelang es nicht, eine funktionierende Lösung für eine gleichmäßigere Umverteilung der Flüchtlinge zu finden. Eine grundlegende Reform der Dublin-Verordnung schien notwendig, gleichzeitig aber politisch schwierig: Im September 2015 hat der Rat der Europäischen Union zwei Beschlüsse zur Umverteilung von insgesamt 160.000 Flüchtlingen mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet. Ihre Umsetzung bleibt jedoch weit hinter den gesetzten Zielen zurück, denn nach mehr als anderthalb Jahren sieht die Umverteilungsbilanz mit lediglich knapp 12.000 Personen sehr mager aus. Dies liegt unter anderem daran, dass Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Rumänien im Rat überstimmt wurden und sie deshalb bisher keine oder lediglich eine verschwindend geringe Anzahl an Personen aufgenommen haben. Allerdings ist die Bilanz der anderen Staaten nicht viel besser.

Aufgrund dieser EU-internen Schwierigkeiten, die eine Debatte über fehlende Solidarität in der EU – eines der Grundprinzipien des europäischen Einigungsprozesses – befeuerte und europaskeptischen Stimmen in einer Vielzahl von Mitgliedsstaaten zunehmenden Zuspruch verschaffte, suchten die EU und ihre Staats- und Regierungschefs unter der Federführung von Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einer externen Lösung: Der Türkei kam dabei aufgrund ihrer geografischen Lage und der geringen Distanz zu den griechischen Inseln eine Schlüsselrolle zu. 2015 versuchten rund 500.000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge, von der Türkei aus Griechenland zu erreichen. Dabei spielten sich nicht selten Tragödien ab, bei denen Menschen ertranken. Allein 2015 wurden knapp 4.000 Todesfälle gezählt. In der ersten Hälfte desselben Jahres wurden 26.000 Flüchtlinge aus dem Meer gerettet.

Vor diesem Hintergrund hat sich die EU im Oktober 2015 mit der Türkei auf einen Gemeinsamen Aktionsplan gegen illegale Migration geeinigt, der am 29. November 2015 auf dem EU-Türkei-Gipfel in Brüssel beschlossen wurde. Dieser sieht vor, dass die Türkei die EU im Kampf gegen illegale Migration unterstützt und im Gegenzug der Prozess der Visaliberalisierung für die Türkei beschleunigt und die Beitrittsverhandlungen wiederbelebt werden. Darüber hinaus wurde eine Flüchtlingsfazilität von drei Milliarden Euro für die Verbesserung der Situation von Flüchtlingen, insbesondere Syrern, in der Türkei eingerichtet. Die Türkei selbst hat knapp drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen und ist daher auf Unterstützung angewiesen.

Die am 18. März 2016 getroffene Übereinkunft zwischen der EU und der Türkei ergänzt den Gemeinsamen Aktionsplan um einen sogenannten 1:1-Mechanismus, gemäß dem alle illegal aus der Türkei nach Griechenland eingereisten Flüchtlinge wieder in diese zurückgeschickt werden sollen. Im Gegenzug verpflichtet sich die EU für jeden zurückgeschickten Syrer, einen Syrer aus der Türkei aufzunehmen. Für die Flüchtlingsfazilität wurden außerdem weitere drei Milliarden Euro vorgesehen und die Visaliberalisierung bereits für Juli 2016 in Aussicht gestellt.

Dieses sogenannte Migrationsabkommen hat hinsichtlich der Flüchtlingszahlen und der Todesfälle im Mittelmeer seine Wirkung nicht verfehlt. Beide Zahlen gingen drastisch zurück. Dennoch steht das Abkommen in Bezug auf rechtliche und humanitäre Aspekte sowie die EU-Türkei-Beziehungen kontinuierlich in der Kritik.

Zunächst wird die Rechtmäßigkeit des Abkommens kontrovers diskutiert. Die Kernfrage dabei ist, ob die rechtlichen Voraussetzungen für die Rückführung von syrischen Flüchtlingen aus Griechenland in die Türkei überhaupt gegeben sind. Es gibt zwei anerkannte Gründe, die eine Rückführung rechtfertigen. Entweder erfüllt ein Antragsteller die allgemein gültigen Kriterien für ein Asyl nicht oder er kommt aus einem sicheren Drittstaat, in dem er hätte Asyl beantragen können. Da insbesondere syrische Flüchtlinge ein Anrecht auf Asyl in der EU hätten, müsste das EU-Türkei-Abkommen auf der Drittstaatenregelung fußen. Dabei ist umstritten, ob die Türkei als sicherer Drittstaat gelten kann. Denn gemäß einem für die Türkei geltenden Zusatz zur Genfer Flüchtlingskonvention erkennt diese lediglich Flüchtlingen aus europäischen Ländern einen solchen Status zu. Die Bedingungen für syrische Flüchtlinge in der Türkei wurden zwar dahingehend verbessert, dass sie temporären Schutz genießen und einen geregelten Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt bekommen. Dies bleibt aufgrund des fehlenden offiziellen vollkommenen Flüchtlingsstatus dennoch anfechtbar. Allgemein würde eine juristische Bewertung des Migrationsabkommens folglich kritisch ausfallen. Für eine politische Betrachtung zählt jedoch die Signalwirkung, die dieses Abkommen unabhängig von der rechtlichen Kritik und der schleppenden Umsetzung entfalten kann.

In direktem Bezug zu den EU-Türkei-Beziehungen stellt sich allerdings ein ganz anderes rechtliches Problem mit potenziell weitreichenden und vieldiskutierten Konsequenzen: Obwohl das Übereinkommen zwischen der Türkei und der EU vom 18. März 2016 allgemein als "Abkommen" bezeichnet wird, handelt es sich nicht um ein Abkommen im juristischen Sinn. Dies bedeutet, dass das Dokument keinerlei rechtlich bindende Wirkung entfalten kann und vom politischen Willen der Vertragsparteien abhängt. Vor diesem Hintergrund ist die Sorge in der EU einzuordnen, dass sich die Kräfteverhältnisse in den EU-Türkei-Beziehungen zugunsten der Türkei umgekehrt haben könnten – und dies in Zeiten, in denen die Türkei immer stärkere autokratische Tendenzen zeigt und sich zunehmend von den politischen und demokratischen Werten Europas entfernt. In der Tat benutzt die türkische Regierung das EU-Türkei-Abkommen immer wieder als Verhandlungsmasse und droht mit dessen Aufkündigung. In Brüssel sieht man dies jedoch (noch) einigermaßen gelassen, denn das Abkommen beruht auf beiderseitigen Interessen.

Allerdings gehört zu den Hauptinteressen der Türkei auch die Visaliberalisierung mit der EU. Die Bedingungen für die Visaliberalisierung sind in einer Roadmap der Kommission von 2013 definiert. Der entsprechende Katalog umfasst mehr als 70 Kriterien, von denen die Türkei mittlerweile alle bis auf fünf erfüllt hat. Unter anderem müsste die Türkei noch ihr Antiterrorgesetz ändern. Dies würde eine Neudefinition von Terror und Terrororganisationen erfordern.

Die Türkei hat 2015 und 2016 eine beispiellose Serie an Terroranschlägen erfahren, wovon ein Großteil der Kurdischen Arbeiterpartei PKK zugeschrieben wird. Eine Änderung des Antiterrorgesetzes, wie von der EU gefordert, kommt daher – und auch aufgrund des Kampfes gegen die Gülen-Bewegung, die für den gescheiterten Putschversuch in der Türkei verantwortlich gemacht und als terroristische Vereinigung definiert wird – für die Türkei nicht infrage. Deshalb lässt das Europäische Parlament das Verfahren seit Sommer 2016 ruhen. Vor diesem Hintergrund wird dem Versprechen der Visaliberalisierung mittlerweile der gleiche Glaubwürdigkeitsgehalt wie der Beitrittsperspektive zugesprochen und das Scheitern des Migrationsabkommens als (letztes) Druckmittel eingesetzt. Seit 2015 hat die Asylpolitik folglich die Relevanz der EU-Türkei-Beziehungen erhöht. Sie haben dadurch jedoch nicht an Stabilität, sondern an Komplexität und Explosivität gewonnen.

Quadratur des Kreises

Aussichten für die EU-Türkei-Beziehungen waren schon immer ungewiss – aktuell scheinen sie jedoch besonders düster. Ein EU-Beitritt der Türkei ist nicht mehr ein Szenario der fernen Zukunft, sondern höchst unwahrscheinlich, wenn nicht sogar ausgeschlossen. Dennoch muss es nicht unbedingt zu einem endgültigen Bruch – dem viel zitierten train crash – kommen. Es lohnt sich auch, alternative Formen der Kooperation und Einbindung der Türkei in die EU detailliert zu prüfen; dies nicht zuletzt deshalb, weil die europäische Einigung selbst "desintegrative Momente" erfährt, die sich unter anderem in wachsendem Europaskeptizismus in den Mitgliedsstaaten und im Brexit manifestieren. Allerdings scheint die Annahme doch realistischer, dass die EU in Zukunft stärker von differenzierter Integration als Desintegration geprägt sein wird. Je nach Ausprägung eines solchen Differenzierungsgrades könnten sich Möglichkeiten für eine engere Einbindung und Beteiligung der Türkei in den Politikbereichen anbieten, in denen sie bereits heute ein wichtiger strategischer Partner ist.

Überlegungen in diese Richtung sind weder in der Politik noch in der Wissenschaft neu. Bereits Anfang der 2000er Jahre entwarf die CDU das Konzept der "privilegierten Partnerschaft". Dieses wurde jedoch seitens der Türkei so vehement abgelehnt, dass der Begriff heute fast als "Unwort" der EU-Türkei-Beziehungen zu bezeichnen wäre. Aber andere Konzepte haben diese Idee aufgegriffen, weitergedacht und mit neuen Titeln belegt. Das Konzept der "virtuellen Mitgliedschaft" wird durch Flexibilität auf verschiedenen Ebenen bestimmt. So wäre der Umfang wie auch der Grad der institutionellen Einbindung der Türkei in die EU individuell festzulegen. Die "assoziierte Mitgliedschaft" wurde explizit im Lichte möglicher Desintegrationstendenzen der EU und flexibler Beteiligungschancen konzipiert. Dabei soll sie eine Rückfalloption für das Vereinigte Königreich und ein mögliches Sprungbrett für die Türkei darstellen.

In der Tat lohnt es sich, Parallelen zwischen den Diskussionen um den Brexit und zukünftigen EU-Türkei-Beziehungen zu ziehen. Denn für 2017 ist eine Vertiefung der Zollunion mit der Türkei geplant, während das Vereinigte Königreich auf der Suche nach einer wirtschaftlichen Anbindung an die EU ist, bei der sie vom Besten aus zwei Welten profitieren kann. Die diskutierten Modelle ermöglichen jedoch entweder keinen vollen Zugang zum Binnenmarkt oder keine Beteiligung an den relevanten Entscheidungsprozessen der EU.

Grundvoraussetzung für die tatsächliche Umsetzung solch alternativer Modelle wäre zunächst einmal das ehrliche beiderseitige Eingeständnis, dass die Beitrittsperspektive keine reelle Option für die Türkei mehr ist, gleichzeitig aber nicht die einzige Art der Kooperation bedeutet, die für beide Seiten vorteilhaft wäre. Darüber hinaus müssen Strukturen der differenzierten Entscheidungsfindung der EU gefunden werden, die einer Teilmitgliedschaft einzelner Staaten gerecht wird und diese attraktiv macht.

ist Vizedirektorin des Centrums für Türkei und EU Studien an der Universität zu Köln und leitende Wissenschaftlerin am Centre international de formation européenne, Berlin. E-Mail Link: funda.tekin@uni-koeln.de