Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Erdoğan und die "Fromme Generation". Religion und Politik in der Türkei | Türkei | bpb.de

Türkei Editorial Der gescheiterte Putsch und seine Folgen Erneute Gewalteskalation im türkisch-kurdischen Konflikt Die Wahrheit hinter Gittern. Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei Erdoğan und die "Fromme Generation". Religion und Politik in der Türkei Die Gülen-Bewegung. Entstehung und Entwicklung eines muslimischen Netzwerks Quadratur des Kreises? Hintergründe der EU-Türkei-Beziehungen Die Rolle der Türkei in der Region. (Un-)Ordnungsgarant in einem neuen Nahen Osten

Erdoğan und die "Fromme Generation". Religion und Politik in der Türkei

Markus Dreßler

/ 17 Minuten zu lesen

Der Begriff "fromme Generation" etablierte sich in den vergangenen fünf Jahren zu einem der wichtigsten programmatischen Slogans der AKP. Er steht für die religiös-konservative Umgestaltung der Türkei angelehnt an ein islamisches Moral- und Wertesystem.

Die Genese des türkischen Säkularismus führt bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Schon vor der Etablierung eines säkularen Staates in der frühen Republik Türkei bewegte die Frage des Verhältnisses von Religion und Politik osmanische Staatsmänner und muslimische Intellektuelle. Im Folgenden werden die wesentlichen Stationen dieser Auseinandersetzung nachgezeichnet: von der Entstehung des türkischen Säkularismus über die Etablierung des kemalistischen Laizismus bis hin zur aktuellen Religionspolitik der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die anhand verschiedener aktueller Spannungsfelder verdeutlicht wird. So offenbaren sich trotz inhaltlicher Gegensätze zwischen der postkemalistischen jungen Republik Türkei und der AKP-Ära auch erstaunliche Parallelen.

Säkularisierung im Osmanischen Reich

Im späten Osmanischen Reich war die religionspolitische Debatte geprägt von den Auswirkungen des Nationalismus, der den Vielvölkerstaat seit dem frühen 19. Jahrhundert bedrohte und dem sich zunächst insbesondere christliche Völker des Balkans zuwandten. Teilweise als Reaktion auf diese Bedrohung wurden in der Reformperiode zwischen 1839 und 1876, die unter dem Namen "Tanzimat" zusammengefasst wird, erstmals allgemeine Bürgerrechte formuliert und die Gleichheit aller Osmanen unabhängig von der Religionszugehörigkeit garantiert. Säkularisierungsmaßnahmen bezogen sich im ausgehenden Osmanischen Reich vor allem auf das Rechtssystem. Dieses wurde stärker zentralisiert und zivile Gesetzbücher nach europäischem Vorbild schrittweise adaptiert. Dabei wurde das bestehende islamische Rechtssystem jedoch nicht abgelöst, sondern vielmehr säkulares und religiöses Recht miteinander kombiniert, sodass man hier von der Herausbildung eines pluralen Rechtssystems sprechen kann.

Säkularisierende Reformen erreichten einen ersten Höhepunkt unter dem jungtürkischen Regime des Komitees für Einheit und Fortschritt, das die letzten zwei Dekaden des Osmanischen Reichs politisch dominierte. Als Nationalisten brachten die Jungtürken gegen Ende des Ersten Weltkriegs, in den sie das Reich an der Seite Deutschlands geführt hatten, eine Reihe historischer Reformen auf den Weg. Ein 1917 verabschiedetes Reformpaket verfügte über vier Punkte, welche die höchste staatlich anerkannte Autorität des osmanisch-sunnitischen Islams, den Scheichülislam, betrafen: Erstens sollte der Scheichülislam aus dem Kabinett ausgeschlossen werden. Zweitens sollten die bisher unter seiner Oberaufsicht befindlichen Scharia-Gerichtshöfe dem Justizministerium übertragen werden. Die Verwaltung der religiösen Stiftungen, die ihm bisher ebenfalls unterstellt waren, sollte drittens in ein neues Ministerium verlegt und viertens die Verwaltung und Aufsicht über die religiösen Seminare, gleichfalls bisher dem Scheichülislam unterstellt, an das Erziehungsministerium abgegeben werden.

Etablierung des kemalistischen Laizismus

Oft wird angenommen, dass die türkische Republik 1923 nach der Zerschlagung des Osmanischen Reichs infolge des Ersten Weltkriegs und dem anschließenden Türkischen Befreiungskrieg zwischen 1919 und 1922 als säkularer Staat gegründet worden ist. Diese Vorstellung geht einher mit der Annahme, dass der neue Staat von Beginn an radikal mit den politischen Traditionen des Osmanischen Reichs gebrochen hätte. Jedoch ist dies eine stark vereinfachte Deutung komplexer historischer Sachverhalte. Zunächst war der neue Staat nämlich noch stark von den politischen Strukturen des Osmanischen Reichs geprägt. Artikel zwei der Verfassung von 1924 verdeutlicht dies: "Die Religion der türkischen Republik ist der Islam." Die Säkularisierung der Republik erfolgte schrittweise im Kontext der kemalistischen Kulturrevolution (Kasten). Artikel zwei wurde erst 1928 durch eine Verfassungsänderung gestrichen. 1937 wurde die Republik dann auch in der Verfassung als laizistisch definiert.

Säkularisationsmaßnahmen in der türkischen Republik

1922Abschaffung des Sultanats
1923Ausrufung der Republik
1924Abschaffung des Kalifats; Säkularisierung des Erziehungssystems (religiöse Schulen und Seminare werden geschlossen); Schließung des Ministeriums für Islamisches Recht und Fromme Stiftungen; Gründung des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten
1925Schließung der Sufi-Orden und Konvente; Verbot sufischer Praktiken und Titel sowie traditionell-religiöser Bekleidung
1926Einführung des gregorianischen Kalenders; Schließung der Scharia-Gerichtshöfe; Annahme europäischer Vorlagen von Zivil-, Straf- und Handelsrecht
1928Austausch der Arabischen durch Lateinische Schrift; Verfassungsänderung: Islam ist nicht mehr Staatsreligion
1937Einführung des Laizismus als Verfassungsprinzip


Konservativen Bürgern waren nicht nur die Geschwindigkeit und Radikalität der Reformen ein Dorn im Auge, sondern auch die religionsskeptische, bisweilen gar religionsfeindliche Haltung, die diese oft begleitete. So erklärte der Begründer der türkischen Republik Mustafa Kemal, der spätere Atatürk: "Wir werden nicht vom Himmel oder von unsichtbaren Dingen, sondern direkt vom Leben inspiriert!" Der religionskritische Vorbehalt der jungtürkischen Ideologie trat im frühen Kemalismus wieder deutlich zutage. Dies zeigte sich auch im türkischen Säkularismus oder Laizismus, der vom französischen Modell inspiriert war und einen Pfeiler des kemalistischen Reformprogramms bildete.

Im Namen des Laizismus wurde der Staat säkular legitimiert, das Recht vollständig säkularisiert und die Religion der Politik untergeordnet, dabei vom Staat organisiert und kontrolliert. Religion wurde weitestgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt und öffentliche Religionspraxis außerhalb der Organisation des Staates untersagt. Die Möglichkeiten zur islamischen Unterweisung wurden drastisch reduziert und zwischenzeitlich sogar die Schulen zur Imam-Ausbildung geschlossen. Sufische Ordenstraditionen und alevitische Religionspraktiken wurden gänzlich verboten. Die Marginalisierung sufischer Traditionen sowie der sich vom Sunnitentum abgrenzenden Aleviten ist Ausdruck der angestrebten Homogenisierung legitimer islamischer Religionspraxis. Damit erhob man einen modern-säkular ausgerichteten, sunnitisch-hanafitischen und türkischen Islam de facto zur Staatsreligion. Schließlich wurde die Religion als gemeinschaftsfördernde Identität dem Nationalismus untergeordnet und der Islam nun fast nur noch über seine unterstützende Rolle bei der Schaffung eines türkischen Nationalbewusstseins gewürdigt.

Religionspolitik in der Republikgeschichte

In den Jahrzehnten zwischen der stark von Atatürk geprägten Frühphase der Republik und den 1990er Jahren, in denen die islamistische Bewegung zur führenden politischen und gesellschaftlichen Kraft avancierte, hat sich die Türkei stark verändert. Schon in den späten 1940er Jahren wurde das rigide Laizismusverständnis des frühen Kemalismus schrittweise aufgeweicht. Dies ist beispielsweise an den ausgeweiteten Befugnissen des staatlichen Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) zu sehen. Das Diyanet war 1924 geschaffen worden, um die durch die Auflösung der Institution des Scheichülislam entstandene Lücke zu füllen – allerdings mit weitaus weniger Kompetenzen. Wichtigste Aufgabe des Diyanet war die Organisation der öffentlichen Belange islamischer Religionspraxis. Nachdem ihm 1931 zunächst wichtige Aufgabenbereiche wie die Oberaufsicht über den Moscheebetrieb abgenommen worden waren, erhielt er diese 1950 wieder zurück. Die Behörde erfuhr in dieser Zeit ihre erste wesentliche öffentliche Aufwertung.

Der Staat begann im Zuge der Demokratisierung nach dem Zweiten Weltkrieg, die positiven Aspekte der Religion für die nationale Moral und Identität hervorzuheben. Die in der frühkemalistischen Phase verbreitete religionskritische Haltung wich einem pragmatischeren Umgang, bei dem das Hauptaugenmerk darauf lag, die religiösen Bedürfnisse der Bevölkerung kontrolliert zu befriedigen und den nationalistischen Einheitsstaat zu stärken. Dabei blieb die Religion nationalistisch inspirierten staatlichen Interessen untergeordnet, was ein wesentliches Charakteristikum des türkischen Laizismus ist. Dies zeigte sich in zugespitztem Maße auch nach dem Militärputsch 1980, als die sogenannte Türkisch-Islamische Synthese (TIS) zur inoffiziellen neuen Ideologie des Staates wurde. Während der Kemalismus eine Verbindung zwischen der westlichen Moderne und dem türkischen Nationalismus anstrebte, bemüht sich die TIS, Letzteren symbiotisch mit einer sunnitisch-islamischen Identität zu verknüpfen.

Die Militärjunta und die nachfolgenden zivilen Regierungen der 1980er Jahre sahen in der systematischen Stärkung islamischer Institutionen ein Mittel gegen die Polarisierung in rechts- und linksradikale Flügel, die in den späten 1970er Jahren zu anarchischen Zuständen geführt hatten, die dann die Militärintervention von 1980 legitimierten. So förderten sie den Ausbau der Fachschulen für Moscheepersonal – die İmam-Hatip-Schulen – und den Bau von Moscheen. In keiner Phase der Republik wurden in der Türkei so viele neue Moscheen gebaut wie zwischen 1980 und 1999, insgesamt mehr als 27.000.

Mit Unterstützung der neuen islamfreundlichen Staatsräson gelang es der islamischen Bewegung, allmählich aus ihrem Mauerblümchendasein herauszutreten. Ihr Anführer war der in Deutschland promovierte Ingenieur Necmettin Erbakan, der schon Ende der 1960er Jahre die islamistische Bewegung Millî Görüş gegründet hatte. Ihren politischen Durchbruch feierte sie in den 1990er Jahren mit der 1983 gegründeten Wohlfahrtspartei (RP). Unter der charismatischen Führung Erbakans gewann sie bei den Kommunalwahlen 1994 wichtige Großstädte. Als neuer Bürgermeister der Metropole Istanbul betrat Erbakans Zögling Recep Tayyip Erdoğan erstmals die große politische Bühne. Bei den Parlamentswahlen 1995 wurde die RP stärkste Partei und Seniorpartner einer Regierungskoalition.

Die folgenden 15 Jahre waren geprägt von harten Konflikten zwischen der Staatsbürokratie, dem Militär und der Justiz, die allesamt dem kemalistischen Erbe verpflichtet waren, auf der einen Seite und der im Aufwind befindlichen islamischen Bewegung, die gleichberechtigten Zugang zu staatlichen und gesellschaftlichen Positionen einforderte, auf der anderen Seite. Gleichzeitig entwickelten sich in der anatolischen Provinz ein konservativ-religiöses Unternehmertum und eine fromme Mittelschicht, welche die kemalistische Leitkultur infrage stellten. Die religiöse Bewegung um den Prediger Fethullah Gülen fand hier ihre Basis. Während Erbakans islamistischer Diskurs als Bedrohung der laizistischen Republik wahrgenommen wurde, instrumentalisierte der Staat die vermeintlich unpolitische Gülen-Bewegung gegen den Islamismus und erlaubte ihre Ausbreitung in seinen Organen.

Am 28. Februar 1997 diktierte der vom Militär dominierte türkische Sicherheitsrat Erbakan und seiner Regierung einen Maßnahmenkatalog, der sich gegen die islamische Bewegung richtete. Im Sommer trat Erbakan vom Ministerpräsidentenamt zurück, und im Januar 1998 wurde die RP verboten. Nachdem auch ihre Nachfolgepartei, die Tugendpartei, 2001 vom Verfassungsgericht geschlossen worden war, spaltete sich die Bewegung. Der gemäßigte Flügel gründete unter Erdoğans Anleitung im gleichen Jahr die AKP, die schon im folgenden Jahr die Parlamentswahlen gewann und seither die türkische Politik dominiert. Erdoğan mauserte sich in dieser Zeit zum charismatischen und alleinigen Anführer der islamischen Bewegung, die ihm bis heute bedingungslos folgt.

Spannungsfelder aktueller türkischer Religionspolitik

Diyanet

Zu Beginn der Regierungsübernahme der AKP war deren Verhältnis zum Diyanet, das die Kontrolle des öffentlichen Islams im Namen des Laizismus verkörperte, sehr angespannt. Nach dem Staatsstreich 1980 war dem Diyanet eine wichtige Funktion bei der Integration radikaler politischer Kräfte im Sinne der nun propagierten TIS zugewiesen worden. Außerdem erhielt es auch internationale Aufgaben, wie zum Beispiel die Unterstützung des Baus türkischer Moscheen in Europa und die religiöse Betreuung der türkischen Diaspora.

Über parteinahe Stellenbesetzungen gelang es den AKP-Regierungen, das Diyanet schrittweise stärker an sich zu binden. In den vergangenen Jahren wurde es immer weiter ausgebaut und seine Kompetenzen erweitert. Heute hat das Diyanet fünf Hauptaufgaben. Die Bezeichnungen lauten: Religiöse Dienste, Religiöse Erziehung, Wallfahrtswesen, Religiöse Publikationen und Außenbeziehungen. Das Präsidium bietet unter anderem Korankurse an, verfasst die Freitagspredigten, entsendet Prediger, Imame und Muezzins an die von ihr unterhaltenen Moscheen. Über ein breites Netzwerk aus Organisationen übernimmt es mittlerweile eine religiöse Botschafterfunktion gegenüber islamischen Staaten – vor allem ehemals osmanischen Ländern, um die sich die AKP besonders bemüht. Dies stößt auch auf Kritik: Die Juristin und Sozialwissenschaftlerin İştar Gözaydın hat die Internationalisierung der Aufgaben des Diyanet unlängst als Ausdruck einer kulturimperialistischen Neigung der "neuen Türkei" interpretiert.

Während sich das Diyanet vor der Ära der AKP primär dem Staat und der laizistischen Ordnung verpflichtet sah und als staatliche Institution auch eine gewisse Unabhängigkeit von wechselnden Regierungen besaß, änderte sich dies im vergangenen Jahrzehnt. Das Diyanet ist mittlerweile das wichtigste Instrument für die religiöse Legitimation der AKP-Politik. Nach dem gescheiterten Militärputsch vom Juli 2016 half es bei der Denunzierung der Putschisten und der Gülen-Bewegung, die rasch als dessen Drahtzieher ausgemacht wurde.

Die AKP verfolgt mittlerweile ein postkemalistisches Projekt, das sich nicht am Laizismus orientiert, sondern die religiös-konservative Umgestaltung der Gesellschaft in Einklang mit osmanischer Politiktradition und islamischen Werten anstrebt. Das Projekt wird bisweilen unter dem Begriff "neue Türkei" präsentiert. Hat das Diyanet in der Vergangenheit noch ein laizistisches Islamverständnis religiös legitimiert, so unterstützt es heute die politische Führung des Landes bei deren islamistischem Projekt, insbesondere bei der anvisierten Schaffung einer "frommen Generation".

Islamisierung des öffentlichen Raums

Zwischen 2005 und 2015 stieg die Zahl registrierter Moscheen nach Angaben des Diyanet von 77.777 auf 86.762. Der Fokus der Islamisierungspolitik liegt jedoch woanders. Mit dem Ziel der Schaffung einer "neuen Türkei", aufgebaut auf einer "frommen Generation", werden seit 2011 islamische Praktiken und Symbole von der Regierung sowie lokalen AKP-Stadtverwaltungen gezielt gefördert, während als unislamisch und moralisch verwerflich betrachtete Praktiken unter Beschuss geraten.

Der Begriff "fromme Generation" etablierte sich in den vergangenen fünf Jahren zu einem der wichtigsten programmatischen Slogans der AKP. Gegen die an westlichen Wertvorstellungen ausgerichtete kemalistische Moderne gerichtet, steht der Begriff für konservative Sitten- und Moralvorstellungen sowie politische Loyalität gegenüber der von Erdoğan angeführten islamischen Bewegung. Die "fromme Generation" soll primär über religiöse Erziehung, Koranschulen und das öffentliche Schulsystem geschaffen werden. Der AKP gilt die Vermittlung von religiösem Wissen und religiösen Werten als Voraussetzung für die Charakterbildung und Erziehung frommer und verantwortungsvoller Bürger in einem konservativen Sinn. Aus Sicht der AKP haben nicht zuletzt die Gezi-Proteste 2013 die Notwendigkeit einer religiösen Grunderziehung für Kinder und Jugendliche drastisch vor Augen geführt.

Gleichzeitig wurden die İmam-Hatip-Schulen für Mittel- und Oberstufe, ursprünglich Fachschulen für zukünftiges Moscheepersonal, aufgewertet und qualifizieren nun wie herkömmliche Schulen für die zentralisierten Universitätseignungsprüfungen. Ihr Ausbau geht zu Ungunsten säkularer Schulen, deren Anteil am Schulbetrieb in den vergangenen Jahren schrittweise reduziert wurde. Die Zahl der in İmam-Hatip-Schulen eingeschriebenen Schülerinnen und Schüler stieg von 65.000 im Jahr 2002 auf über eine Million 2015. Gleichzeitig wurde in den vergangenen Jahren auch der Religionsunterricht in allgemeinen Schulen ausgeweitet, 2015 wurden die Wahlfächer "Leben des Propheten" und "Koran" dem Lehrplan hinzugefügt. Die Zahl registrierter Korankurse stieg von knapp über 13.000 im Schuljahr 2012/13 auf über 15.000 2014/15.

Dass die Islamisierungspolitik der AKP System hat und das politische Projekt der AKP in diesem Sinne als "islamistisch" bezeichnet werden kann, ist kaum mehr von der Hand zu weisen. Der türkischen Soziologin Demet Lüküslü zufolge basiert die Jugendpolitik der AKP, verbunden mit deren Projekt, die kemalistische Meistererzählung durch eine türkisch-islamische zu ersetzen, "auf der Idee eines existenziellen Kampfes zwischen Christentum und Islam, wobei die Türkei und das Osmanische Reich die Avantgarde des letzteren" repräsentierten. Während sich viele konservativ-sunnitische Staatsbürger in dieser neuen Geschichts- und Weltdeutung wiederfinden, ist sie insbesondere für säkular orientierte Teile der Bevölkerung befremdlich. Diese fürchten um ihren Lebensstil, ihre sozioökonomische Stellung und ihren politischen Einfluss in einer sich islamisierenden Türkei.

Religionsfreiheit und Kopftuch

War Freiheit von Religion eine wichtige Leitidee des kemalistischen Laizismus, so haben sich in den vergangenen Jahrzehnten sowohl Vertreter der islamischen Bewegung als auch liberale Eliten für das Ideal der Freiheit für Religion stark gemacht. Die Diskussion um aktive Religionsfreiheit wurde dabei vor allem über das Kopftuch geführt. Nach der Republikgründung war die Einführung westlicher Kleidungsnormen ein wichtiger Bestandteil der kemalistischen Kulturrevolution und sollte die Modernität der Türkei auch nach außen, dem Westen gegenüber, verdeutlichen. Der türkischen Religionssoziologin Alev Çınar zufolge war in der Logik des Kemalismus "die Entschleierung des weiblichen Körpers das ultimative Zeichen der Emanzipation der Frau und der Befreiung der Nation". Gleichwohl wurde erst seit den 1980er und vor allem in den 1990er Jahren die Kopftuchfrage zu einem weite Teile der Gesellschaft polarisierenden Politikum. In dieser Zeit wurde das Kopftuch, auch infolge der Debatten um seine Legitimität, zu einem Symbol der islamischen Bewegung.

Betrachtete der kemalistische Laizismus Religion in der Öffentlichkeit als ein Problem, so wurde der Islam in der postkemalistischen AKP-Ära zu einem positiven öffentlichen Orientierungspunkt für Fragen der Moral und der Politik. Das Kopftuchverbot an Schulen und Universitäten wurde schon 2011 aufgehoben. Mittlerweile besteht es nur noch für Richterinnen und Staatsanwältinnen. Mit der Anerkennung von mehr positiver Religionsfreiheit unter der AKP – wenn auch hauptsächlich auf die Bedürfnisse praktizierender sunnitischer Muslime ausgerichtet – hat sich die Kopftuchdebatte in der Türkei weitgehend erledigt: Die Legitimität des Kopftuchs in der Öffentlichkeit wird heute auch von oppositionellen Kräften kaum noch infrage gestellt. Kleidung und öffentliches Verhalten können jedoch weiterhin zu sozialen Konflikten führen. Die heute viel diskutierte Frage ist, inwiefern sich Frauen, die sich nicht an konservative Kleidungsnormen halten, sozialem Druck ausgesetzt sehen und nun ihrerseits diskriminiert werden. Welche Kleidernormen und welches soziale Verhalten in der Öffentlichkeit sozial akzeptabel sind, bleibt dabei in starkem Maße abhängig von örtlichen Sozialstrukturen.

Aleviten und nichtmuslimische Minderheiten

Religionsfreiheit ist auch für Aleviten sowie für die nichtmuslimischen Minderheiten der Türkei ein wichtiges Thema. Als sozioreligiöse Gemeinschaft, die zwar historisch enge Verbindungen zu Randsträngen der islamischen Religionstradition aufweist, aber nicht auf diese reduziert werden kann, und deren Zuordnung zum Islam deshalb umstritten ist, waren die Aleviten in besonderer Weise von homogenisierender Religionspolitik betroffen. Der türkische Staat hat immer versucht, die Aleviten – rund zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung – zu assimilieren, wobei sich die Assimilationsstrategien mit der Zeit veränderten. Alevitische Religionspraxis war 1925 im Zuge des Verbots der Sufi-Orden und ihrer Praktiken als illegitim erklärt worden. Danach haben sich viele Aleviten in der sunnitisch dominierten Öffentlichkeit aus Furcht vor Diskriminierung nicht als solche zu erkennen gegeben.

Seit den späten 1980er Jahren erlebt die Türkei parallel zur Formierung einer sunnitisch-islamischen Bewegung auch den Beginn einer alevitischen Renaissance, die sich im Aufbau lokaler bis hin zu transnationalen alevitischen Organisationen und in dem Bau von cemevis, zunächst vor allem in den Städten, niederschlug. Cemevis sind wichtige soziale Räume für die Aleviten, in denen diese auch ihr wichtigstes Ritual feiern, die "Feier der Gemeinschaft". Die Entstehung einer aktiven alevitischen Öffentlichkeit war nicht zuletzt auch Produkt eines zunehmenden Bedrohungsempfindens unter der alevitischen Bevölkerung, vor allem nach dem Brandanschlag von Sivas am 2. Juli 1993, bei dem während eines alevitischen Festivals ein aufgewiegelter Mob ein Hotel in Brand setzte, in dessen Folge 37 Menschen ums Leben kamen.

Aleviten fordern, dass der Staat sie im Sinne der Gleichberechtigung genauso unterstützt wie die sunnitischen Muslime. Über materielle Aspekte hinaus verlangen sie auch die symbolische Anerkennung, und hier ist die Frage des Status der cemevis von großer Bedeutung. In der Türkei werden nur Moscheen, Kirchen und Synagogen als Gebetshäuser anerkannt. In ihrer Ablehnung der Gleichstellung der Aleviten mit den Sunniten, symbolisch reflektiert in der Nichtanerkennung der cemevi, steht die AKP in kemalistischer Tradition. Die Regierung kann sich hier auf die Unterstützung des Diyanet verlassen, aus dessen Sicht das Alevitentum keine eigenständige Religion ist, sondern eine "heterodoxe" Spielart des Islams. Was das Alevitentum vom Sunnitentum unterscheide, seien dabei nicht religiöse Faktoren, sondern seine spezifisch "kulturelle" Färbung. Da der Islam keine anderen Gebetshäuser anerkenne, sei auch für die Aleviten, da Muslime, die Moschee das einzig legitime Gebetshaus, so die Argumentation des Diyanet.

Der Syrienkrieg hat die Situation für die Aleviten insofern verschärft, als von Erdoğan und anderen führenden AKP Politikern gelegentlich eine ideologische Nähe der Aleviten der Türkei zu dem Regime von Baschar al-Assad, selbst Alawite, unterstellt wird. Allerdings gibt es zwischen den Aleviten der Türkei und den Alawiten Syriens weder religionsgeschichtlich noch politisch eine große Nähe.

Das Beispiel der Diskussion um die Legitimität der religiösen Andersartigkeit der Aleviten zeigt, dass auch die AKP am religiösen Einheitsdiskurs der kemalistischen Tradition festhält und keine Pluralität innerhalb der türkischen Religionsnation zulässt. Die Grenzen der Nation werden nach wie vor primär über die Religion definiert. Im Vergleich zu den Aleviten ist die Lage der nichtmuslimischen Minderheiten insofern etwas besser, als deren Religion anerkannt wird, auch wenn die Religionsfreiheit eingeschränkt bleibt. Es leben allerdings nur noch rund 100.000 Christen (vornehmlich Armenier, Griechen und Syrer) und knapp 17.000 bis 18.000 Juden in der Türkei. Die Situation der nichtmuslimischen religiösen Minderheiten schien sich in den ersten Jahren der AKP-Regierung zunächst zu verbessern, und es gab Hoffnung auf einen weiteren Abbau bestehender Diskriminierungen. Da sie weniger als religiöse Bedrohung denn, historisch bedingt, als Feinde der Nation angesehen werden, wirkt sich erstarkender Nationalismus in der Türkei wie in der gegenwärtigen Phase jedoch immer auch negativ auf Nichtmuslime aus.

Erstaunliche Parallelen

Trotz aller Unterschiede finden sich auch erstaunliche Parallelen zwischen dem kemalistischen Staats- und Gesellschaftsmodell der frühen Republik und der postkemalistischen Ordnung der AKP-Ära. In beiden ist der Glaube, das unbedingt Richtige für die türkische Gesellschaft zu wissen, und daraus abgeleitet der Auftrag, diese entsprechend umzuformen, Legitimationsgrundlage eines Projekts kultureller und politischer Erneuerung. Beide Modelle basieren auf einem exklusiven nationalistischen Ideal, das auf die eigene Bewegung und ihren charismatischen Führer (Atatürk respektive Erdoğan) projiziert wird, der damit zum Symbol des Projekts als Ganzes wird.

Auch in Bezug auf den Laizismus lässt sich feststellen, dass dieser von der AKP in bestimmten wichtigen Aspekten umdefiniert, keineswegs aber gänzlich abgeschafft wurde. So ist die Türkei zumindest insofern auch heute noch ein säkulares Land, als der Staat weiterhin ohne Bezug auf Religion legitimiert wird und trotz der Islamisierungspolitik unter der AKP die Religion bisher prinzipiell dem Politischen untergeordnet bleibt. Nach wie vor wacht das Diyanet über islamische Religionspraxis im öffentlichen Raum. Eine Kontinuität zur kemalistischen Politiktradition zeigt sich jenseits der Religionspolitik auch im zunehmenden Autoritarismus, der von Erdoğan verkörpert wird und inzwischen totalitäre Züge angenommen hat.

Den beschriebenen strukturellen Parallelen steht ein starker inhaltlicher Gegensatz zwischen der kemalistisch-laizistischen Türkei der Vergangenheit und dem postkemalistischen Projekt gegenüber. Während die Kemalisten eine an der Symbolfigur Atatürk und am westlichen Lebensstil orientierte laizistische Gesellschaft anstrebten, geht es bei dem islamistischen Ideal der AKP um die Formung einer der islamischen Bewegung und ihrem Anführer Erdoğan gegenüber loyalen "frommen Generation". Die Bedeutung der Religion in der Öffentlichkeit wird schrittweise erhöht, und politische und staatliche Repräsentanten bedienen sich mehr und mehr religiöser Rhetorik und Symbole.

Die politische Zukunft der Türkei und das Ausmaß ihrer Islamisierung ist sowohl von innen- als auch von außenpolitischen Entwicklungen abhängig. Der nach den Parlamentswahlen im Juni 2015 wieder ausgebrochene und seither das Land erschütternde offene Krieg zwischen der türkischen Armee und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), das Zerwürfnis der AKP mit der Gülen-Bewegung und der gescheiterte Putsch vom Juli 2016, das türkische Engagement im Syrienkrieg, der Terror durch den sogenannten Islamischen Staat sowie die Flüchtlingskrise und das dadurch weiter verkomplizierte Verhältnis der Türkei zur EU sind alles Faktoren, die sowohl die Zukunft der türkischen Demokratie als auch den Raum und die Rolle der Religion in der türkischen Politik und in der türkischen Öffentlichkeit beeinflussen werden.

ist Religionswissenschaftler und Mitarbeiter der DFG-Kollegforschergruppe "Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities" an der Universität Leipzig. E-Mail Link: markus.dressler@uni-leipzig.de