"Wer nicht gesessen hat, wird nicht Schriftsteller genannt" – an diese türkische Redensart erinnert sich der Journalist Can Dündar in seinen Aufzeichnungen aus dem Gefängnis von Silivri.
Seit Jahren versucht die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, kritische Medien und Stimmen zu unterdrücken, und sie bedient sich dabei einer Reihe wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Druckmittel. Von der einst lebendigen, vielfältigen türkischen Medienlandschaft ist wenig übrig geblieben. Die meisten Zeitungen und TV-Sender sind mittlerweile auf Regierungslinie, während die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien, wie etwa die Tageszeitung "Cumhuriyet", ums Überleben kämpfen. Laut der Organisation Reporter ohne Grenzen befindet sich die Türkei weltweit beim Thema Pressefreiheit nur noch auf dem 151. von 180 Plätzen.
Putschversuch und Ausnahmezustand
Am 15. Juli 2016 begannen Teile des türkischen Militärs einen Putschversuch, bei dem über 260 Menschen ums Leben kamen – die meisten von ihnen waren Zivilisten, die sich den Putschisten entgegengestellt hatten. Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) machte die Bewegung des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich – die meisten Türkinnen und Türken teilen diese Meinung. Die Gülen-Bewegung präsentiert sich insbesondere im Westen als moderate islamische Bewegung mit dem Fokus auf Bildung. In der Türkei gilt sie jedoch auch unter Oppositionellen als Sekte, die seit Jahrzehnten den Sicherheits- und Justizapparat des Landes unterwandert, aber auch im Bereich Medien große Macht besitzt beziehungsweise besaß.
So gab es zunächst kaum Proteste, als die Regierung wenige Tage nach dem Putschversuch den Ausnahmezustand ausrief und mit harter Hand gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vorging. Tausende Gülen-nahe Militärs, Polizisten, Richter und Geschäftsleute wurden festgenommen. Schulen, Krankenhäuser und Unternehmen mit Verbindung zur Bewegung wurden verstaatlicht und auch Dutzende Gülen-nahe Medien verboten und ihre Mitarbeiter verhaftet. In ihrer Trauer und Wut über den blutigen Putschversuch hielten viele Türken das Vorgehen für legitim, obwohl dabei auf Rechtsstaatlichkeit kaum Wert gelegt wurde. Die Justiz unterschied nicht zwischen wirklichen Putschisten, bloßen Sympathisanten der Gülen-Bewegung oder Autoren, die lediglich zuweilen für ein Gülen-nahes Medium schrieben – in den Augen der türkischen Justiz waren alle schuldig.
Doch dabei blieb es nicht: In den folgenden Wochen und Monaten nutzte die Regierung den Ausnahmezustand, um auch andere ihnen missliebige Medien und Stimmen per Dekret zu verbieten, insbesondere prokurdische und linke Medien. So wurden 2016 laut einem Bericht der Türkischen Journalistenvereinigung (TGC) insgesamt 157 Medienorgane verboten und geschlossen.
Eines davon war der kleine sozialistische Fernseh- und Radiosender "Hayatın Sesi" mit Sitz in Istanbul. Am 1. Oktober 2016 wurde seine Schließung angeordnet und seine komplette Einrichtung und Technik beschlagnahmt. Ihm wurde die Unterstützung der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen. Der Vorwurf sei absurd, erklärt Programmkoordinator Arif Koşar "Wir haben Gewalt und Terror immer verurteilt. Doch darum geht es nicht. Wer es wagt, noch irgendetwas gegen die Regierung zu sagen, wird zum Terroristen erklärt."
Zugleich schreckt die türkische Regierung bislang nicht davor zurück, oppositionelle Politikerinnen, Journalisten, Schriftstellerinnen und Wissenschaftler jeder Couleur zu inhaftieren. Im Juli 2016 wurde die maximale Dauer der Untersuchungshaft von vier auf 30 Tage verlängert. Während der Haft ist es den Gefangenen nur selten erlaubt, ihre Anwälte zu sehen. Schon die Anklageschrift eines Staatsanwalts genügt für eine Haft von bis zu fünf Jahren, bevor der Prozess überhaupt beginnt. Überfüllte Gefängnisse und der massive Umbau des Justizsystems lassen jede Hoffnung auf schnelle und faire Prozesse schwinden. Angst und Ungewissheit ersticken jeden journalistischen Mut. "2016 wird als Jahr in Erinnerung bleiben, in dem der Präsident der Türkei versuchte, alle kritischen und unabhängigen Medien im Land zum Schweigen zu bringen", erklärt Emma Sinclair-Webb, die Türkei-Beauftragte der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
Unter den Festgenommenen befanden sich viele prominente Autoren – etwa die weltbekannte Schriftstellerin Aslı Erdoğan. Weil sie Mitglied im Beirat der prokurdischen Tageszeitung "Özgür Gündem" war, für die sie regelmäßig Kolumnen schrieb, wirft man ihr vor, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein. Dabei ist sie als feinsinnige Autorin bekannt, die sich stets für Frieden und gesellschaftlichen Dialog eingesetzt hat. Sie musste trotz gesundheitlicher Probleme über vier Monate in Untersuchungshaft verbringen, bevor am 29. Dezember 2016 ihr Prozess begann. Sie wurde zunächst aus der Untersuchungshaft entlassen, jedoch nicht freigesprochen. Der Prozess soll fortgesetzt werden, und ihr droht lebenslange Haft.
Am selben Tag wurde der prominente Journalist Ahmet Şık in Istanbul festgenommen. Er gilt als einer der wichtigsten Investigativjournalisten des Landes. Ihm wurde vorgeworfen, in seinen Artikeln und Tweets Propaganda für die PKK, die linksextremistische Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front und die Gülen-Bewegung betrieben zu haben. Die Anklage mutet absurd an, denn nicht bloß verfolgen alle drei Organisationen höchst unterschiedliche Ideologien, Şık gilt auch als scharfer Kritiker aller drei. Insbesondere mit seinen Recherchen über die illegalen Strukturen der Gülen-Bewegung machte er sich in der Türkei einen Namen und saß deswegen 2011 sogar ein Jahr in Untersuchungshaft, wohl wegen eines Buchmanuskripts, in dem er beschreibt, wie die Gülen-Bewegung systematisch die Sicherheitsbehörden des Landes unterwandert haben soll. Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter brachten ihn damals hinter Gitter, davon ist nicht nur Şık überzeugt. Die AKP-Regierung schaute zu, war sie doch damals noch ein enger Verbündeter der Gülen-Bewegung. Diese Partnerschaft prangert Şık bis heute an. Im Sommer 2016 erklärte er, dass er deshalb große Schwierigkeiten habe, Aufträge von türkischen Medien zu bekommen: Journalisten wie er seien derzeit unerwünscht.
Wirtschaftliche Druckmittel
Die Einschüchterungsmethoden der türkischen Regierung beschränken sich nicht auf Festnahmen und Schließungen, sondern sind auch in den Redaktionsräumen noch arbeitender Medien zu spüren. Der ebenfalls im europäischen Exil lebende Journalist Yavuz Baydar bezeichnete türkische Nachrichtenredaktionen schon 2014 als "Freiluftgefängnisse".
So berichten Redakteure, die lieber anonym bleiben wollen, dass Telefonanrufe der Regierung keine Seltenheit seien. Mittlerweile legendär ist ein Telefonat Erdoğans, damals noch als Premierminister, mit Erdoğan Demirören, dem Herausgeber der Tageszeitung "Milliyet", aus dem Frühjahr 2013, dessen Mitschnitt ein Jahr später im Internet auftauchte. Darin beschimpft Erdoğan den Medienmogul wegen eines Enthüllungsberichts über brisante Gespräche zwischen Kurdenpolitikern und dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan. Weinend verspricht Demirören, die Verantwortlichen des Berichts zu bestrafen. Erdoğan kritisierte die Zeitung auch öffentlich. Als der Journalist Hasan Cemal daraufhin die Enthüllungsstory in einem "Milliyet"-Kommentar verteidigte, wurde er zur Kündigung gezwungen. Demirören ist es auch, der einige Monate später den langjährigen Kolumnisten Can Dündar entließ. Zwei von Tausenden Journalisten, die in den folgenden Monaten und Jahren ihre Jobs verloren. Eine neue Anstellung zu finden, ist für die meisten sehr schwer. Vielen Redaktionen sollen "schwarze Listen" mit Namen von kritischen Journalisten vorliegen, die man lieber nicht einstellen sollte, wenn man Probleme mit der Regierung vermeiden will.
Doch warum lassen sich türkische Medien-Bosse politisch so unter Druck setzen? Fast 40 Prozent der türkischen Medien gehören acht großen Mischkonzernen, die nicht nur in verschiedene Medientypen investieren, sondern auch in medienfernen Sektoren wie der Bau-, Energie-, Tourismus- und Finanzbranche aktiv sind.
Bekanntes Beispiel für diese Form wirtschaftlicher Verflechtung ist der Kauf der auflagenstarken Tageszeitung "Sabah" und des privaten Fernsehsenders Aktüel Televizyonu (ATV). 2013 wurden sie von regierungsfreundlichen Managern des Baukonzerns Kalyon erworben – wohl auf Weisung Erdoğans. Selbst nicht liquide genug, bildete er zusammen mit anderen Unternehmen einen Kapitalpool zur Finanzierung der Übernahme. Wenig später erhielten Kalyon und die anderen Unternehmen den Zuschlag zum Bau des gigantischen dritten Istanbuler Flughafens. "Sabah" und ATV gelten mittlerweile als die wichtigsten Sprachrohre Erdoğans und der AKP-Regierung. Viele Türken bezeichnen diese Medien abschätzig auch als "Pool-Medien".
Chefredakteure oppositioneller Medien berichten außerdem, dass ihre Anzeigenkunden unter Druck gesetzt werden oder lukrative staatliche Werbeanzeigen nicht mehr in ihren Medien geschaltet werden. Die größte Mediengruppe, Doğan Media Group, zu der unter anderem die Tageszeitung "Hürriyet" und der Fernsehsender CNN Türk gehören, wurde 2009 zu Steuerstrafen in Milliardenhöhe verurteilt. Sie hatte bis dahin regierungskritisch berichtet, seither sind ihre Kommentare milder geworden.
Nazis und Pinguine
Nicht selten übertragen Dutzende TV-Sender gleichzeitig die Reden des Präsidenten oder Premierministers, während oppositionelle Politiker und unliebsame Themen keinen Sendeplatz erhalten. Am deutlichsten wurde diese Form der Zensur bei den Gezi-Protesten: Als am 31. Mai 2013 in Istanbul Tausende Demonstranten mit Tränengas beschossen wurden, sendete NTV eine Dokumentation über den Nationalsozialismus und CNN Türk eine über Pinguine. Vielen Türken wurde erst da bewusst, wie es um die Medien ihres Landes bestellt ist. Laut Journalisten, die lieber anonym bleiben wollen, führt der politische Druck zur Selbstzensur: "Ein Anruf aus Ankara ist gar nicht mehr nötig, die Redakteure berichten schon von alleine so, wie sie glauben, dass es der Regierung gefällt", schildert eine leitende Redakteurin.
Die Türkische Journalistenvereinigung spricht von 839 Journalisten, die 2016 wegen ihrer Veröffentlichungen vor den Richter treten mussten.
Die Kritik an regierungsnahen Medien soll nicht den Eindruck erwecken, oppositionelle türkische Medien seien alle ein Hort des Qualitätsjournalismus. Sie sind es nämlich nur in den seltensten Fällen. Auch ausgelöst durch den Druck von oben verstehen sich viele der verbliebenen kritischen Medien und Journalisten mehr als Kämpfer für ihre eigene Sache denn als unabhängige Berichterstatter. Yavuz Baydar bezeichnet sie treffend als partisan-media: Sie sind "das Spiegelbild der regierungsfreundlichen Presse, auch sehr meinungsstark, und sie sehen ihre Aufgaben mehr darin, die Regierung zu attackieren als zu informieren."
Kurdenkonflikt
Den staatlichen Druck bekommen vor allem Journalisten zu spüren, die über den Kurdenkonflikt im Südosten des Landes berichten. Im Sommer 2015 brach der Kampf zwischen der PKK und dem türkischen Staat mit größter Brutalität wieder aus.
In dieser Auseinandersetzung ist der türkischen Regierung eine Presse, die beide Parteien beobachtet und beurteilt, ein Dorn im Auge. Die meisten großen Medien zogen mit und berichteten sehr einseitig, meist nationalistisch und zuweilen kriegstreiberisch über die Kampfhandlungen. Kurdische Journalisten und Reporter, die in die Region reisen, werden beobachtet, Polizeikontrollen und Schikanen sind dabei Routine. Wer kritisch über den Kurdenkonflikt schreibt, egal wie moderat, macht sich rasch zum Terrorverdächtigen. Viele der dort arbeitenden Journalisten fürchten um ihre Freiheit, manche gar um ihr Leben.
Einer von ihnen ist der Fotograf Refik Tekin des prokurdischen Senders İMC TV. Als Tekin im Januar 2016 eine Gruppe von Zivilisten und Politikern filmte, die Tote in der umkämpften Stadt Cizre bergen wollten, eröffneten Sicherheitskräfte das Feuer, "ohne Vorwarnung und obwohl wir weiße Fahnen schwenkten", so Tekin gegenüber der Deutschen Welle. Obwohl er angeschossen wurde, filmte er weiter: "Wir gerieten nicht ins Kreuzfeuer, sondern wurden von den Polizisten gezielt als Journalisten angeschossen (…) Das kommt davon, wenn man als Kurde und Journalist auch in den regierungsnahen Medien ständig als Staatsfeind hingestellt wird", sagt er.
Auf der anderen Seite soll auch die PKK wenig zimperlich mit unliebsamen Journalisten umgehen: Laut Medienberichten entführten PKK-Kämpfer Anfang 2016 drei Reporter der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu und ließen sie erst nach Tagen wieder frei.
Seit Ausrufung des Ausnahmezustands wurden Hunderte Kurdenpolitiker festgenommen – darunter die Führungsriege der prokurdischen Partei HDP – und Dutzende kurdische Bürgermeister abgesetzt. Zudem sind seit dem 15. Juli 2016 zahlreiche zivilgesellschaftliche kurdische Organisationen verboten und fast alle kurdennahen Medien geschlossen. Der kurdischen Seite wurde damit jeder Zugang zur Öffentlichkeit genommen. "Die Situation ist entsetzlich", so eine Journalistin aus dem Kurdengebiet gegenüber der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch: "Jeder Journalist, der in der Region arbeitet, schaut sich nun nach anderen Jobs um. Jeder hat Angst. Der Druck ist immens. Es gibt viele Dinge über die man berichten sollte, aber es gibt keine Medien mehr, in denen man das veröffentlichen könnte."
Freiheit im Internet?
Im Zuge der Pressezensur hat das Internet in der Türkei zunehmend an Bedeutung gewonnen. Internetportale wie "T24", "Diken" oder "Bianet" berichten über Themen, die etablierte Medien verschweigen. Besonders wichtig sind die Social-Media-Kanäle: 53 Prozent der Türken nutzen sie regelmäßig, rund 35 der knapp 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger sind aktive Facebook-Nutzer. So wurden auch die meisten Informationen über die Gezi-Proteste über Facebook und Twitter verbreitet.
Allerdings wird auch hier die Meinungsfreiheit zunehmend beschnitten. Anklagen wegen kritischer Posts nehmen ebenso zu wie die Sperrung von Internetseiten. Gängiges Zensurmittel sind Nachrichtensperren: Insbesondere nach Terroranschlägen werden sie beinahe routinemäßig von der Regierung verhängt, angeblich um die Ermittlungen nicht zu behindern und Panik in der Bevölkerung zu verhindern. Häufig werden dann Facebook und Twitter vorübergehend gesperrt. Doch auch bei unangenehmen Themen greift die türkische Regierung zu diesem Mittel: etwa beim AKP-Korruptionsskandal 2013 oder beim Missbrauchsskandal um einen Lehrer der islamischen, regierungsnahen Ensar-Stiftung, der 45 Kinder missbraucht haben soll. Es herrscht kein Zweifel: Die Regierung will darüber entscheiden, über was und wie berichtet wird – ob in den etablierten Medien oder im Netz.
Ausblick
"Mittlerweile sitzen so viele gute und erfahrene Journalisten in türkischen Gefängnissen, dass sich dort eine ziemlich gute neue Zeitung machen ließe."