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Der gescheiterte Putsch und seine Folgen - Essay | Türkei | bpb.de

Türkei Editorial Der gescheiterte Putsch und seine Folgen Erneute Gewalteskalation im türkisch-kurdischen Konflikt Die Wahrheit hinter Gittern. Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei Erdoğan und die "Fromme Generation". Religion und Politik in der Türkei Die Gülen-Bewegung. Entstehung und Entwicklung eines muslimischen Netzwerks Quadratur des Kreises? Hintergründe der EU-Türkei-Beziehungen Die Rolle der Türkei in der Region. (Un-)Ordnungsgarant in einem neuen Nahen Osten

Der gescheiterte Putsch und seine Folgen - Essay

Michael Martens

/ 11 Minuten zu lesen

Nach dem Militärputsch vom 15. Juli 2016 stellte sich die türkische Bevölkerung zunächst hinter Staatspräsident Erdoğan. Inzwischen nutzt er den Ausnahmezustand jedoch dazu, den Parlamentarismus abzuschaffen und die AKP-Vorherrschaft langfristig zu sichern.

Die meisten Menschen in der Türkei schliefen schon, als in Istanbul und Ankara in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 die Panzer auf die Straßen rollten. Es war das erste Mal seit mehr als 35 Jahren, dass die türkische Armee – oder zumindest ein Teil von ihr – gewaltsam die Kontrolle über das Land zu übernehmen suchte. Doch der Putschversuch vom 15. Juli 2016 nahm einen gänzlich anderen Verlauf als der Putsch vom 12. September 1980. Damals hatten die Generäle sich noch auf eine Befehlskette stützen können, die von der Politik unbeeinflusst war, denn die türkische Armee war ein Staat im Staate. In der Türkei des Jahres 2016 war das anders. Nur ein Teil der Streitkräfte schloss sich den Verschwörern an, die Mehrheit aber stand wie der Großteil der Bevölkerung loyal zur gewählten Regierung und zu Recep Tayyip Erdoğan, dem Staatspräsidenten. Auch deshalb brach der Umsturzversuch schon nach wenigen Stunden in sich zusammen.

Diese Stunden waren allerdings dramatisch. Tief in der Nacht, lange nach dem fünften und letzten Ruf des Muezzins, erscholl von den Minaretten noch einmal und zu gänzlich ungewohnter Zeit der Ruf an die Gläubigen: Über Lautsprecher wurden die Türken im ganzen Land aufgerufen, auf die Straße zu gehen, um die Demokratie zu verteidigen. Die türkische Religionsbehörde Diyanet nutzte auf diese Weise ihre bewährten Kommunikationsstrukturen, über die sonst der Text für die Freitagspredigt an alle Imame des Landes verschickt wird, um die Pläne der Putschisten zu vereiteln. Zudem wurden auch an alle türkischen Mobiltelefone Aufrufe verschickt, sich den Militärs entgegenzustellen. Erdoğan war in seinem Urlaubsort Marmaris im Südwesten der Türkei, als der Putsch begann und die Drahtzieher die Studios des Staatssenders TRT besetzen ließen. Von Marmaris aus wandte er sich über den Internet-Telefondienst Facetime, der in eine Livesendung des Senders CNN-Türk eingespielt wurde, an seine Landsleute. Spätestens, als er wenige Stunden später in Istanbul eintraf und sich wiederum an die Öffentlichkeit wandte, war klar: Die Putschisten waren gescheitert.

Keine Inszenierung

Bis heute sind viele Fragen jener Nacht ungeklärt. Warum bombardierten Kampfflieger das Parlament, nicht aber den Präsidentenpalast, das Zentrum der Macht in der Türkei? Warum versuchten die Putschisten nicht gleich zu Beginn ihres Aufstands, Erdoğan zu verhaften oder zu töten? Das sind wichtige Fragen, doch ist es unwahrscheinlich, dass sie sich in den Prozessen, in denen sich die echten und vermeintlichen Drahtzieher des Komplotts rechtfertigen müssen, werden klären lassen – denn den Verfahren mangelt es an Transparenz.

Fest steht für alle kundigen Beobachter allerdings: Eine Inszenierung war der Putschversuch vom 15. Juli 2016 nicht. Selbst die Oppositionsparteien in Ankara, professionelle türkische Journalistinnen, Menschenrechtler, ausländische Diplomaten oder andere den Machthabern in der Türkei kritisch gesinnte Geister bestätigen das. Allerdings trifft es auch zu, dass die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) schon lange vor dem Putschversuch, den Erdoğan ein "Geschenk Allahs" nannte, einen Schlag gegen ihre Gegner vorbereitet hatte. Führende AKP-Politiker haben das sogar öffentlich zugegeben. So antwortete der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu in einem Gespräch mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" auf die Frage, ob Listen wie jene mit den Namen von 2700 unmittelbar nach dem Putschversuch suspendierten Richtern und Staatsanwälten nicht schon lange vorher erstellt worden seien: "Selbstverständlich waren diese Namen schon im Voraus identifiziert, und das juristische Verfahren gegen sie war längst im Gange. Nach dem Putschversuch konnten wir aber kein Risiko eingehen, und der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte traf die Entscheidung, diese Personen umgehend zu suspendieren. Anders ließen sich die Herrschaft des Rechts und die Unabhängigkeit der Justiz nicht gewährleisten."

Die summarischen Suspendierungen und Verhaftungen Zehntausender bringen den Machthabern in Ankara bis heute viel Kritik von Menschenrechtlern und das Misstrauen insbesondere europäischer Regierungen ein. Während niemand das Recht der türkischen Regierung infrage stellt, gegen die Putschverdächtigen vorzugehen, wirft die mangelnde Verhältnismäßigkeit der staatlichen Reaktion ebenso ernste Fragen auf wie die massive Einschränkung der Rechtsstaatlichkeit durch den fünf Tage nach dem Putsch verhängten Ausnahmezustand. Seither sind viele Grundrechte außer Kraft gesetzt. So haben Verhaftete in den ersten fünf Tagen des Polizeigewahrsams kein Recht auf anwaltliche Betreuung. Wenn sie dann schließlich doch ihren Anwalt sehen können, werden Gespräche zwischen ihnen und dem Rechtsbeistand abgehört, in einigen Fällen gar gefilmt. Der ursprünglich für drei Monate verhängte Ausnahmezustand wurde bisher zwei Mal verlängert. Seither ist Erdoğan das Regieren per Dekret erlaubt. Die Dekrete können vor Gericht nicht angefochten werden.

Drei politische Gegner

Freilich war Erdoğan schon zuvor de facto Regierungschef der Türkei. Formal ist er nach der derzeitigen türkischen Verfassung zwar ein weitgehend auf das Zeremonielle beschränkter oberster Repräsentant des Staates, ganz wie sein von ihm ins Abseits bugsierter Vorgänger Abdullah Gül es war. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Im Grunde ist Erdoğans Amtsführung seit seiner Wahl 2014 ein permanenter Verfassungsbruch – auf den das Verfassungsgericht jedoch nicht reagiert, da niemand wagt, es deswegen anzurufen.

Unter den Bedingungen des Ausnahmezustands geht die AKP seit Juli 2016 hauptsächlich gegen drei gesellschaftliche Gruppen vor: Zum Hauptfeind hat sie ihren ehemaligen Verbündeten erklärt, die Bewegung des im amerikanischen Exil lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen. Mit dieser international tätigen Gemeinschaft hatte die AKP vor allem in ihren ersten beiden Legislaturperioden noch eng kooperiert. Heute sprechen Erdoğan, seine Partei und deren Medien von der Gülen-Bewegung nur noch als "Terrororganisation", die so gefährlich sei wie der "Islamische Staat". Mit dieser radikalen Lesart kann sich Ankara im Ausland zwar nicht durchsetzen, doch unabhängige Beobachter sehen die Gruppierung durchaus kritisch. Zumindest in der Türkei hat die Gülen-Bewegung in den vergangenen Jahrzehnten in ihrem Machtstreben und ihrer Intransparenz sektiererische Züge erkennen lassen. Es gilt mittlerweile als gesichert, dass ihre Anhänger tatsächlich Teile des türkischen Justizapparats, insbesondere durch Richter, Staatsanwälte und Polizisten, unterwandert hatten. Anfangs geschah dies mit Billigung der AKP, denn der Partei, die schon im Jahr nach ihrer Gründung 2001 an die Regierung gewählt wurde, mangelte es im Machtkampf gegen die kemalistischen Eliten im Staat zunächst an ausgebildeten Kadern.

Der zweite politische Gegner, gegen den die AKP mit den Möglichkeiten des Ausnahmezustands vorgeht, ist die hauptsächlich von der kurdischen Bevölkerungsgruppe in der Türkei sowie einem Teil der türkischen Linken gewählte Demokratische Partei der Völker (HDP). Im September 2016 erklärte Ankara 28 demokratisch gewählte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister für abgesetzt und ließ sie durch vom Innenministerium bestimmte Verwalter ersetzen. Zwei Dutzend Abgesetzte wurden bezichtigt, Verbindungen zur terroristischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterhalten zu haben, die anderen vier waren angeblich Anhänger Gülens. Die meisten Abgesetzten waren als Kandidaten der HDP ins Amt gewählt worden. Zwei Monate später wurde unter ähnlichen Anschuldigungen zudem die HDP-Führung verhaftet. Die Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, Fraktionschef İdris Baluken und ein halbes Dutzend weitere Führungsmitglieder der Partei befinden sich seither in Haft. Demirtaş und mehrere andere kurdische Politikerinnen und Politiker werden in einem Gefängnis in Edirne nahe der Grenze zu Bulgarien festgehalten, möglichst weit weg von den Kurdengebieten Südostanatoliens.

Die Voraussetzungen für die Verhaftungen von gewählten Volksvertretern waren indes schon knapp zwei Monate vor dem Putschversuch geschaffen worden: Im Mai 2016 hatte das Parlament in Ankara eine von der AKP eingebrachte Vorlage zur Aussetzung der Abgeordnetenimmunität gebilligt. Die für Verfassungsänderungen nötige Zweidrittelmehrheit erhielt der Vorschlag nur, weil er nicht allein von der AKP, sondern auch von der rechtsradikalen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) sowie von Teilen der oppositionellen Republikanischen Volkspartei unterstützt wurde. So half die Opposition mit, die Verhaftung von Parlamentariern rechtlich zu ermöglichen. Hauptopfer war die Fraktion der HDP. Da zudem mehr als 3500 einfache Mitglieder und Aktivisten der Partei verhaftet wurden, vor allem in den Hochburgen der Kurden in Südostanatolien, ist die HDP inzwischen nicht nur an der Spitze, sondern auch an der Basis gelähmt. Umfragen deuten darauf hin, dass sie im Falle von Neuwahlen an der (ohnehin undemokratisch hohen) Zehnprozenthürde scheitern könnte.

Die dritte Gruppe, gegen die im Zuge des Ausnahmezustands vorgegangen wird, ist die kleinste und heterogenste: Es handelt sich um Journalisten, Anwälte, Bürgerrechtler und andere Personen, von denen die meisten weder der Gülen-Bewegung noch der PKK oder der HDP nahestehen, aber im weitesten Sinne und aus unterschiedlichsten Motivationen heraus "oppositionell" sind. Als beispielhaft kann der Fall des Journalisten Ahmet Şık gelten, der im Dezember 2016 zum zweiten Mal binnen weniger Jahre verhaftet wurde. Das erste Mal hatte ihn die Polizei im März 2011 abgeführt. Damals hatten mutmaßlich unter dem Einfluss der Gülen-Bewegung stehende Staatsanwälte den Journalisten bezichtigt, dass er der Untergrundorganisation Ergenekon angehöre, die einen Putsch gegen die Regierung plane. Der tatsächliche Grund für Şıks Verhaftung wird jedoch in dessen Buchmanuskript mit dem Titel "Die Armee des Imams" gesehen, das im März 2011 noch nicht einmal erschienen war. Şık beschreibt darin, dass und wie die Gülen-Bewegung die türkische Polizei und Justiz unterwandert habe, um dann wie zur Bestätigung seiner These noch vor Drucklegung des Buches von ebendieser Polizei und Justiz ins Gefängnis gesteckt zu werden. Ein Jahr saß Şık in Haft. Nach seiner Entlassung im März 2012 sagte er in einem Interview mit dem "Tages-Anzeiger", es sei allgemein bekannt, dass die Anhänger Gülens "sich seit den 70er-Jahren in der Polizei organisieren. (…) Sie besetzen mächtige Schaltstellen in Polizei und Justiz, ihre Leute leiten die Operationen gegen Ergenekon und gegen die angeblichen PKK-Terroristen in der Zivilgesellschaft, Operationen, die total aus dem Ruder gelaufen sind." Die Türkei, so Şık seinerzeit, werde de facto von einer AKP-Gülen-Koalition regiert.

Kaum vier Jahre später wurde Şık wieder verhaftet. Die informelle AKP-Gülen-Koalition war längst zerbrochen, Şık aber geblieben, was er war: Ein unabhängiger, investigativer Journalist. Ende 2016 wurde er unter dem Vorwurf festgenommen, Propaganda für die PKK betrieben zu haben. Der Fall Şık ist deshalb so charakteristisch, weil er demonstriert, dass es in der türkischen Justiz ein grundsätzliches Problem gibt, das mit der aktuellen Regierung nur bedingt zu tun hat: Die Justiz in der Türkei ist ein Einschüchterungs- und Disziplinierungsinstrument der jeweiligen Machthaber. Es kann heute eine und morgen die andere Gruppe treffen – je nachdem, wer gerade die Kontrolle über die Justiz ausübt.

Auf Erdoğan geeichte Verfassung

Auf absehbare Zeit dürfte diese Dirigentenrolle Erdoğan und der AKP zufallen, die sich per Verfassungsänderung dauerhaft die Macht in der Türkei sichern wollen. Mit Unterstützung des größten Teils der rechtsradikalen MHP im Parlament konnte die AKP im Januar 2017 für ihre 18 Vorschläge zur Änderung der Verfassung die nötige Mehrheit erringen, um noch im Frühjahr eine Volksabstimmung darüber abhalten zu lassen. Erhalten die Vorschläge in dem Referendum die Zustimmung von mindestens 50 Prozent der Abstimmenden (plus einer Stimme), wird der Parlamentarismus in seiner bisherigen Form in der Türkei abgeschafft. Die geplante Verfassung ist auf Erdoğan geeicht, soll aber die Macht der AKP auch darüber hinaus sichern. "Das Präsidialsystem soll über den Mechanismus einer Stichwahl sicherstellen, dass die konservative Mehrheit in der Türkei künftig in jeder Wahl ihren Kandidaten durchbringen kann", fasst Türkeiexperte Günter Seufert den zum Referendum ausgeschriebenen Entwurf zusammen.

Bemerkenswert an der Charta ist freilich nicht allein, was sie vorsieht, sondern auch, was sie nicht vorsieht. Neben einer funktionierenden Gewaltenteilung wird man darin auch die Todesstrafe vergeblich suchen. Dabei war in der Türkei nach dem Putschversuch monatelang über deren Wiedereinführung diskutiert worden. Nicht zuletzt Erdoğan selbst hatte die Debatte mit zweideutigen Äußerungen befeuert. "Wir sollten nicht von den Realitäten in der Welt losgelöst leben. In wie vielen Ländern gibt es die Todesstrafe, in wie vielen nicht?", hatte Erdoğan in einem Fernsehinterview gefragt und sich selbst geantwortet: "Nur in Europa gibt es keine Todesstrafe. Ansonsten gibt es fast überall auf der Welt die Todesstrafe." Entscheidend sei der Wille des Volkes – und das wolle die Todesstrafe, behauptete der Präsident.

Ob Erdoğan tatsächlich jemals ernsthaft plante, staatliche Hinrichtungen wieder zuzulassen, kann niemand wissen, sicher aber ist: Er hat es nicht getan. Nachdem lange darüber diskutiert worden war, verschwand das Thema still und heimlich aus der Debatte. In den 18 Artikeln zur Verfassungsänderung tauchte es nicht auf, die staatlich kontrollierten Medien erwähnten die Angelegenheit plötzlich nicht mehr. Manche sehen das als Beleg dafür, dass Erdoğan trotz aller Entfremdung die Verbindungen zur EU nicht gänzlich kappen will. Denn aus Brüssel und den Hauptstädten vieler EU-Mitgliedsstaaten war die Türkei unmissverständlich gewarnt worden: Eine Einführung der Todesstrafe bedeute das sofortige Ende der (de facto ohnehin so gut wie eingefrorenen) Beitrittsverhandlungen. Das Ziel eines EU-Beitritts spielt für die türkische Regierung zwar ohnehin keine Rolle mehr, doch scheint es so, als wolle Ankara wenigstens an dem Status eines Beitrittskandidaten festhalten. Das hat auch wirtschaftliche Gründe, denn der Titel eines EU-Beitrittskandidaten hatte der Türkei in früheren Jahren auf den Finanzmärkten billigere Refinanzierungsmöglichkeiten verschafft.

Lira auf Talfahrt

Damit ist es einstweilen aber vorbei. Die Türkische Lira folgt seit Monaten einem Abwärtstrend, dessen Ende nicht absehbar ist. Eigentlich währt der Trend sogar schon seit Jahren, hat sich in jüngster Zeit aber verschärft. Im Juni 2011, als die AKP bei der Parlamentswahl fast 50 Prozent der Stimmen und das bisher beste Ergebnis ihrer Geschichte errang, war der Euro knapp 2,3 Türkische Lira wert. Am Tag des Putschversuchs waren es 3,2 Lira, Ende Januar 2017 dann sogar schon mehr als 4,1 Lira. Verkürzt ließe sich sagen: Mit dem Niveau der Rechtsstaatlichkeit ist auch die türkische Landeswährung auf Talfahrt gegangen, ebenso wie die Kreditwürdigkeit des Landes. Die drei großen amerikanischen Ratingagenturen bewerten die Türkei jedenfalls längst nicht mehr so positiv wie noch vor einigen Jahren. Standard & Poor’s senkte die Bonitätsnote bereits wenige Tage nach dem Putsch um eine Stufe, mit negativem Ausblick. Im September 2016 stufte auch Moody’s die Türkei auf Ramschniveau herab. Zur Begründung wurden unter anderem Zweifel an der "Berechenbarkeit und Effektivität" der Rechtsstaatlichkeit und des Staatsapparats angesichts der Entlassungswelle genannt. Ende Januar 2017 folgte dann die Ratingagentur Fitch, indem auch sie die Kreditwürdigkeit der Türkei auf Ramschniveau herabstufte – unter anderem mit der Begründung, sollte das Verfassungsreferendum gebilligt werden, steuere die Türkei auf ein politisches System ohne funktionierende Gewaltenteilung zu. Erdoğan, der in Zeiten der Heraufstufungen nichts gegen die Bonitätsprüfer einzuwenden hatte, wertet deren Entscheidungen nun als politischen Angriff auf die Unabhängigkeit der Türkei und beschuldigt eine nicht näher definierte "Zinslobby", sie wolle den Aufstieg der Türkei bremsen.

Die türkische Regierung setzt dem Abwärtstrend ein Stabilitätsversprechen entgegen: Die Präsidialverfassung werde klare Verhältnisse schaffen, die Wirtschaft und die Lira stärken sowie den vielen das Land verunsichernden Terrorakten ein Ende setzen. Politische oder wirtschaftliche Rückschläge dürften Erdoğans Plänen zur Abschaffung des türkischen Parlamentarismus in seiner bisherigen Form jedoch ohnehin kaum schaden. In den türkischen Massenmedien, die fast ausschließlich von der AKP oder mit ihr in Geschäftsbeziehungen stehenden Holdings kontrolliert werden, wird jeder Rückschlag als weiteres Argument für die Präsidialverfassung angeführt, die allein dem Land Stabilität bringen könne. Zudem habe Erdoğan als erster Staatspräsident der Türkei, der nicht vom Parlament, sondern vom Volk gewählt wurde, das Recht, sein Land nicht nur zu repräsentieren, sondern auch zu regieren. Da die Verfassung dies nicht vorsehe, sei es höchste Zeit, sie der Wirklichkeit anzupassen.

ist Südosteuropakorrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". E-Mail Link: m.martens@faz.de