900 Jahre Wartburg, 450 Jahre Reformation und 150 Jahre Wartburgfest der Burschenschaften: Im deutschen Mehrfachjubiläumsjahr 1967 hatte die DDR gegenüber der Bundesrepublik einen klaren Standortvorteil, lagen doch die wichtigsten Gedächtnisorte auf ihrem Gebiet. Die SED nutzte die historischen Jubiläen denn auch weidlich für ihre Abgrenzungspolitik gegenüber der Bundesrepublik und für die internationale Anerkennung des zweiten deutschen Staates. Doch welche Folgen hatte diese politische Instrumentalisierung des Reformationsjubiläums für die evangelischen Kirchen in beiden deutschen Staaten, die ja noch immer gesamtdeutsch in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) organisiert waren? Und wie ging die Bundesrepublik mit diesem geschichtspolitischen Vorstoß der DDR um? Setzte sie ihm einen ebensolchen entgegen? Oder führten die konfessionellen Konstellationen und kirchlichen Problemstellungen in der Bundesrepublik zu einer anderen Ausgestaltung und Tendenz der Reformationsfeierlichkeiten? Offenbarten sich im Reformationsjubiläum 1967 Verflechtung und Divergenzen der beiden deutschen Staaten und Gesellschaften? All diesen Fragen soll im Folgenden durch eine Analyse des Jubiläums in der DDR und in der Bundesrepublik nachgegangen werden. Am Ende folgt ein Ausblick auf das Reformationsjubiläum 2017, das unter anderen historischen Konstellationen stattfindet.
Das jubiläum in der DDR: Politische Instrumentalisierung
Im März 1966 entschloss sich das Politbüro der SED mit Blick auf die Jubiläen zu einer gezielten Rezeption des nationalen Erbes. Die DDR sollte sich gegenüber dem Ausland und der eigenen Bevölkerung als die einzig rechtmäßige "Hüterin und Fortsetzerin der fortschrittlichen nationalen und humanistischen Traditionen des deutschen Volkes" zeigen. Diese geschichtspolitische Mobilisierung schloss ein neues offizielles Reformationsverständnis ein. Lange war die Reformation in der DDR-Historiografie sehr kritisch betrachtet worden. Nun galten die Kämpfe der Reformationszeit als erste Etappe der "frühbürgerlichen Revolution", ja, als die größte revolutionäre Massenbewegung der Deutschen bis zur Novemberrevolution von 1918, und die DDR wurde als Erbin und Vollenderin einer enttheologisierten Reformation gefeiert. Martin Luther wandelte sich – vereinfacht gesagt – vom antinationalen, negativen Helden, als der er in den 1950er Jahren noch gegolten hatte, allmählich zum Stammvater der deutschen Nation sowie des Sozialismus in der DDR.
Für das "Nationale Jubiläum" wurden die Lutherstätten in Wittenberg, Eisleben, Eisenach und Erfurt kostspielig renoviert. Die staatlichen Veranstaltungen begannen mit einem Symposium marxistischer Historiker über die "Weltwirkung der Reformation". Am Sonntag, den 29. Oktober 1967, erreichten sie in Wittenberg, der Hauptwirkungsstätte Luthers, einen Höhepunkt: "historisches Marktleben", Festzug mit Themenwagen zur Geschichte von der Feudalgewalt bis zur Gründung der DDR, Festakt der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Am 31. Oktober, dem Gedenktag des Thesenanschlags, sprach der stellvertretende DDR-Staatsratsvorsitzende Gerald Götting im Rahmen eines Festakts des staatlichen "Komitees der Deutschen Demokratischen Republik für die zentralen Veranstaltungen anläßlich des 450. Jahrestages der Reformation".
Die SED-Führung bestand auf dem "Primat des Staates für alle drei Jubiläen", das heißt auch gegenüber den kirchlichen Feierlichkeiten des Reformationsjubiläums, deren Tradition bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte. Zugleich nutzte sie die Reformationsfeiern in der DDR dazu, die Trennung der acht ostdeutschen Landeskirchen von der gesamtdeutschen EKD zu forcieren. Denn als die Staats- und Parteispitze um den Jahreswechsel 1966/67 in der Deutschlandpolitik einen konsequenten Abgrenzungskurs einschlug, wurde die Kirchenpolitik darauf abgestimmt und mit der These von der Selbstzerstörung der gesamtdeutschen Kirche Kurs auf die endgültige Spaltung der EKD genommen. Doch noch hielten die evangelischen Kirchen in der DDR trotz der massiven Behinderung der grenzübergreifenden Arbeit durch die ostdeutschen Behörden (Einreiseverbote, Ausbürgerung des EKD-Ratsvorsitzenden, Abbruch der offiziellen Beziehungen zur EKD) an dieser Einheit fest. In ihrer "Fürstenwalder Erklärung" betonte die ostdeutsche Teilsynode der EKD im April 1967 demonstrativ die "Einheit und Gemeinschaft der Evangelischen Kirche in Deutschland."
Die SED wertete die Existenz der gesamtdeutschen Kirchenorganisation jedoch als Unterstützung des Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik, auch wenn Kirchenvertreter die Einheit rein geistlich legitimierten. Das staatliche Vorbereitungskomitee bemühte sich, dem konkurrierenden kirchlichen Vorbereitungsausschuss für das Reformationsjubiläum die Einsicht zu vermitteln, "daß die Absage an den Allein-Vertretungsanspruch der EKD im wohlverstandenen Interesse der Kirche selbst" liege. Um das offizielle Geschichtsbild nicht zu stören, wonach die Reformation zu jenem Teil der deutschen Nationalgeschichte zählte, den die DDR für sich allein in Anspruch nahm, durfte es nach staatlichem Willen keine gesamtdeutsch verantworteten kirchlichen Feiern in Wittenberg geben.
Die EKD mit ihrem Kirchenamt in Hannover hielt seit Herbst 1965 Kontakt zum kirchlichen Vorbereitungsausschuss in der DDR, um sich für das Jubiläum abzustimmen. Schon früh war klar, dass die Feier in Wittenberg "die zentrale Veranstaltung der evangelischen Christenheit zum Reformationsfest" sein würde, an der sowohl die deutschen Landeskirchenleitungen als auch die internationalen ökumenischen Gäste teilnahmen. Der Rat der EKD stimmte diesem Wunsch des ostdeutschen Vorbereitungsausschusses unter der Voraussetzung zu, dass die "Leitung der EKD" anwesend sein könne. Die Vorbereitung und Verantwortung der zentralen Feier überließ er den östlichen Kirchen, die westlichen Gliedkirchen bat er, nur regionale Veranstaltungen vorzusehen. Der Rat akzeptierte schließlich auch, dass seine Repräsentanten als Vertreter der westlichen Landeskirchen beziehungsweise der Ökumene nach Wittenberg eingeladen wurden. Zuletzt gab er noch eine Erklärung ab, dass er die Feier in Wittenberg nicht als seinen zentralen Festakt ansehe. Das alles zeigt, wie stark sich die EKD zurücknahm, um die kirchliche Säkularfeier in Wittenberg nicht zu gefährden.
Trotz der gesamtkirchlichen Zurückhaltung war aber ein Konflikt zwischen ostdeutschen Staats- und Kirchenvertretern auch aus anderen Gründen nicht zu vermeiden. Zum einen versuchten Staats- und Parteivertreter in der überwiegend protestantischen DDR anlässlich der Reformationsfeiern, die auf dem VII. Parteitag der SED propagierte "sozialistische Menschengemeinschaft" aus Marxisten und Christen zur Schau zu stellen, in der Menschen verschiedener Weltanschauung miteinander am Aufbau des Sozialismus arbeiteten. Zum anderen wollten sie die evangelische Kirche für die marxistische Reformationsdeutung vereinnahmen. In der Endphase der Vorbereitungen nahmen die Spannungen derart zu, dass drei Kirchenvertreter aus dem staatlichen Komitee austraten und die kirchlichen Feierlichkeiten selbst infrage standen. Denn entgegen früherer Absichtserkärungen, bei den Einreisegenehmigungen in die DDR großzügig zu verfahren, machte die SED-Führung letztlich die innerdeutsche Grenze für westdeutsche und internationale Festgäste nahezu undurchlässig. Daran konnte auch der kirchliche Hinweis, die Marginalisierung der kirchlichen Feier in der DDR werde zur internationalen Aufwertung der westdeutschen Feiern führen, nichts ändern. Und auch die kirchliche Drohung, die Feier in Wittenberg abzusagen, zeigte nur geringe Wirkung.
Ende August 1967 beschloss das Politbüro, dass zur Teilnahme an den Feiern lediglich solche Kirchenvertreter einreisen durften, die ihre Ablehnung des bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruches sowie der US-amerikanischen Kriegführung in Vietnam erklärten. Obwohl letztlich nur 39 Gäste aus der Bundesrepublik und West-Berlin an den kirchlichen Feierlichkeiten in der DDR teilnehmen konnten, verzichtete die EKD auf eine zentrale Ersatzveranstaltung in Worms – dem bedeutendsten westdeutschen Erinnerungsort der Reformation. Diese Rücksichtnahme stieß in der Bundesrepublik nicht überall auf Verständnis.
Der kirchliche Vorbereitungsausschuss in der DDR entschloss sich, trotz der Behinderungen die Feiern abzuhalten, sprach sich allerdings in einer Presseerklärung gegen einen politischen Missbrauch der Reformation aus. Die Kirchen stellten das Luther-Motto "Christus meine Gerechtigkeit" ins Zentrum ihres Reformationsgedenkens. Die Festpredigten am 31. Oktober in Wittenberg kreisten um die Preisung "Selig sind, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden!" In interner Runde hielt es der Ratsvorsitzende der EKD, der bayerische Landesbischof Hermann Dietzfelbinger, allerdings für fraglich, ob "in Ost und West noch in gleicher Weise über ‚Gerechtigkeit‘ gesprochen werden" könne.
Aber nicht aufgrund dieser Kontextverschiedenheit, sondern wegen staatlicher Restriktionen konnte die Wittenberger Veranstaltung nicht als die "zentrale Feier des deutschen Protestantismus zum Reformationsjubiläum" gelten. Die EKD war dort in keinster Weise präsent: Selbst das unpolitische Wort des Ratsvorsitzenden zum Reformationsjubiläum war auf staatliche Weisung hin aus der Informationsmappe für die Gäste entfernt worden und wurde auch nicht in den Gottesdiensten verlesen. Jeder Hinweis auf eine gesamtdeutsche protestantische Erinnerungsgemeinschaft war im Reformationsgedenkjahr tabu. Die Kirchen hatten sich diesem staatlichen Diktat letztlich gebeugt, um die kirchlichen Jubiläumsfeiern in der DDR zu retten und die Pflege des reformatorischen Erbes nicht allein dem Staat zu überlassen. Kirchlicherseits betonte man den internationalen ökumenischen Charakter des Reformationsgedenkens in Wittenberg; zu dieser ökumenischen Festgemeinde zählten dann auch die westdeutschen Gäste.
Der Vorsitzende des kirchlichen Vorbereitungsausschusses, der provinzialsächsische Bischof Johannes Jänicke, nahm wie geplant am staatlichen Festakt am 31. Oktober teil, obwohl zwei ostdeutsche Bischöfe aufgrund ihrer klaren Befürwortung der kirchlichen Einheit nicht eingeladen worden waren. Trotz dieser Zurückhaltung auch bei der Bewertung der Erbe-Aneignung durch die DDR fand die gesamtdeutsche Kircheneinheit zwei Jahre darauf ihr Ende: Mit der Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR lösten sich 1969 die ostdeutschen Landeskirchen aus der EKD.
Das Jubiläum im Westen: Konfessionelle Annäherung und ausgebliebene Erneuerung
In der Bundesrepublik diente das Reformationsjubiläum 1967 nicht dazu, einen nationalen oder ideologischen Ordnungsentwurf zu stützen. Auf die Geschichtskampagne der DDR mit ihrer Säkularisierung und Politisierung des Reformationsgedenkens reagierte man auf westdeutscher Seite nicht mit einem Gegenentwurf. Das Jubiläum des Thesenanschlags wurde in der konfessionell annähernd paritätisch zusammengesetzten westdeutschen Bevölkerung unspektakulär und – im Unterschied zu früheren Reformationsjubiläen – konfessionell versöhnlich mit lokalen Veranstaltungen und Gottesdiensten, einer Sonderbriefmarke, mehreren Ausstellungen und zahlreichen Publikationen aus evangelischer und katholischer Feder begangen. Nach jahrhundertealter Feindseligkeit entdeckte die katholische Kirchengeschichtsschreibung Luther neu. Dabei wirkte auch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) nach, bei dem die katholische Kirche von vielen historischen Vorurteilen Abstand genommen hatte.
Laut einer Allensbacher Umfrage zu den nachkonziliaren Haltungen der deutschen Katholiken waren 1967 mehr als drei Viertel aller Katholiken "sehr damit einverstanden, daß die katholische Kirche jetzt versuchen will, eine Annäherung zu den Protestanten herbeizuführen". Sie hielten es für richtig, dass die katholische Kirche zukünftig mehr das Gemeinsame als das Trennende betonen wolle. Ein versöhnliches Reformationsgedenken lag somit im Sinne des katholischen Kirchenvolks. Katholische Akademien veranstalteten entsprechende Tagungen, beispielsweise in Freiburg im Breisgau zum Thema "Martin Luther. Gestalt und Werk". Nahezu alle westdeutschen Bistumszeitungen veröffentlichten anlässlich des Reformationsjubiläums Artikel.
Mit starkem ökumenischem Akzent fand Ende Oktober in Bonn eine Evangelische Woche statt. Sie begann mit einem gemeinsamen Gebetsgottesdienst, der von einem evangelisch-katholischen Arbeitskreis vorbereitet wurde. Auch in mehreren württembergischen Städten standen die Reformationsfeiern im Zeichen einer wachsenden Verbundenheit zwischen evangelischen und katholischen Christen. So hielten zum Beispiel in der Bad Cannstatter Stadtkirche der katholische Publizist Walter Dirks und der Protestant Hansjürgen Schultz, Hauptabteilungsleiter beim Süddeutschen Rundfunk, Kanzelreden. Schultz warnte allerdings vor einem überschwänglichen Ökumenismus, während Dirks die evangelische Kirche fragte, ob es in ihr nicht "reichlich katholisch" zugehe. Beide Kirchen kämen sich nur näher, wenn die Reformationskirchen den Weg der Reformation weitergingen und nicht an einem fixierten Bekenntnis hängen blieben.
In seiner Predigt am Reformationstag stellte Bischof Dietzfelbinger fest, dass die Sache der Reformation immer mehr die konfessionellen Grenzen durchbreche und zu einem "ökumenischen Ereignis" für die gesamte Christenheit werde. Für den Protestantismus ergebe sich daraus die Frage, wie die evangelischen Christen heute die Reformation verstünden und lebten. In ihrem ursprünglichen Sinne sei die Reformation nichts anderes als "der Gedanke und die Kraft der Erneuerung der Kirche". Auch heute gehe wieder eine tiefe Sehnsucht nach Erneuerung durch die gesamte Christenheit. Dieser Wunsch nach Reformen fand 1967 aber noch keine Erfüllung. Sofern er Strukturreformen betraf, hatte auch die Rücksichtnahme auf die gefährdete gesamtdeutsche Kircheneinheit im Westen zu einem Reformstau geführt. Mit Blick auf das Reformationsjubiläum aber beklagte der Kirchenjournalist Günter Heidtmann einen "Mangel an Phantasie und Energie im Interesse aktueller Erneuerung". Anstelle einer Fixierung auf das Historische hatte er sich eine Suche nach einem "evangelischen consensus in den Grundfragen der menschlichen Existenz im Zusammenhang ihrer heutigen gesellschaftlichen Situation" gewünscht. Noch deutlichere Worte fand das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", das den Kirchen der Reformation gleich jegliche Kraft zur Erneuerung absprach und sie für "bewegungsunfähig" hielt.
Nach dem affirmativen Tenor der westdeutschen Medienberichterstattung über Religion und Kirche bis Ende der 1950er Jahre hatte in den 1960er Jahren ein deutlicher Wandel eingesetzt, der sich im Zusammenhang mit gesellschaftlichen, medialen, aber auch kirchlichen Veränderungen vollzog: Die bundesdeutsche Gesellschaft erlebte eine zunehmende soziomoralische Pluralisierung; die Ausbreitung des Fernsehens und die Etablierung eines kritischen Journalismus veränderten die mediale Kommunikation; Reformfragen und die linke "Politisierung" der Kirche okkupierten die kirchliche Aufmerksamkeit. Im Ergebnis nahm zwar die Präsenz der Themen Religion und Kirche in den Medien keineswegs ab, jedoch pluralisierte sich deren journalistische Wahrnehmung stark. Dies wird auch in dem erwähnten "Spiegel"-Artikel deutlich: Mit acht Seiten war er recht umfangreich, in seiner Tendenz aber sehr kirchenkritisch. Auch an Polemik fehlte es nicht: So begann er mit dem Hinweis, dass gerade ein Ereignis gefeiert werde, "wie nie zuvor in viereinhalb Jahrhunderten", das gar nicht stattgefunden habe.
Bereits 1961 hatte der katholische Kirchenhistoriker Erwin Iserloh das lutherische Selbstverständnis mit seinem Befund verunsichert, es handele sich um eine Legende, dass Luther seine Ablassthesen am 31. Oktober 1517 an die Tür der Wittenberger Schlosskirche genagelt habe; die Thesen seien vielmehr mit der Post verschickt worden. Daraufhin war eine lange, teilweise emotional geführte Debatte über die Historizität des Thesenanschlags gefolgt. Abgesehen vom erwähnten "Spiegel"-Artikel wurde jedoch im konfessionell versöhnlich gefeierten Jubiläumsjahr 1967 darüber nicht laut gestritten.
Reformationsjubiläum 2017: Wer gedenkt was und wie?
2017 wird das 500. Reformationsjubiläum begangen. Werden Katholiken und Atheisten erneut – wie 1967 – mitfeiern? Der historische Kontext hat sich in 50 Jahren deutscher Geschichte verändert. Die Stammlande der Reformation gehören jetzt zur Bundesrepublik, die DDR und die mit der Zweistaatlichkeit verbundene Erinnerungskonkurrenz gibt es nicht mehr. Katholische und evangelische Kirche agieren in der bundesdeutschen Öffentlichkeit vielfach gemeinsam. Nach dem Willen der beiden Kirchen soll die Ökumene auch im Zuge des Reformationsjubiläums weiterentwickelt werden. Katholischerseits will man allerdings nur an einem "Reformationsgedenken" teilnehmen, denn zum Jubeln bestehe im Hinblick auf die Spaltung des abendländischen Christentums kein Anlass. Die Erinnerung an die Reformation soll aus katholischer Sicht kein "Positivjubiläum" sein.
2013 verfassten Lutheraner und Katholiken gemeinsam einen Text mit dem Titel "Vom Konflikt zur Gemeinschaft". Er ist gleichermaßen retro- wie prospektiv ausgerichtet. Auf diesem Dialogdokument baut ein Entwurf von Lutherischem Weltbund und Vatikan für einen ökumenischen Gottesdienst auf. Nach dieser Liturgie wurde am 31. Oktober 2016 in Lund ein internationaler ökumenischer Gottesdienst von Papst Franziskus sowie dem Präsidenten und dem Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes gefeiert. Für 2017 sind in Deutschland viele ökumenische Initiativen für ein "gemeinsames katholisch-lutherisches Reformationsgedenken" vorbereitet.
Die evangelische Kirche begann schon 2008 mit einer Lutherdekade. In ihrem umfangreichen Programm setzt sich die EKD explizit von Jubiläumstendenzen der Vergangenheit ab: "Während in früheren Jahrhunderten Reformationsjubiläen national und in konfessioneller Abgrenzung begangen wurden, soll das kommende Reformationsjubiläum von Offenheit, Freiheit und Ökumene geprägt sein." Gefragt wird nach der Rolle der Reformation bei der Entstehung der Moderne und nach ihren Auswirkungen für die heutige Zeit. Fast mustergültig wird damit ein Charakteristikum von Jubiläen in der Zeitgeschichte erfüllt: die "historische Neujustierung". Das Vergangene wird im Licht der Gegenwart umgruppiert, und neue Blickachsen werden geschaffen. Im Jubiläum "hat der Glaube, dass die Geschichte unmittelbar auf die Gegenwart zulaufe, seinen legitimen Platz, und er ordnet das Gewesene von Jubiläum zu Jubiläum neu". Von manchen wird die Lutherdekade kurz vor ihrem abschließenden Höhepunkt, dem eigentlichen Jubiläumsjahr, inzwischen als "protestantische Dauerwerbesendung" empfunden.
Die deutsche Gesellschaft ist seit den 1960er Jahren religiös und weltanschaulich deutlich pluraler geworden. Auch durch die Wiedervereinigung wurde der Anteil der Protestanten und Katholiken kleiner. Zugenommen hat neben den Angehörigen anderer Religionen vor allem die Zahl der Konfessionslosen, die inzwischen den größten Bevölkerungsteil ausmachen. Doch gilt auch das Reformationsjubiläum 2017 als ein historisches Jubiläum von "gesamtstaatlicher Bedeutung", die Protestanten müssen folglich nicht alleine feiern. Der Bund und die Länder beteiligen sich daran finanziell wie inhaltlich. Schon 2007 schufen Bundesregierung, Länder und die EKD zur Jubiläumsvorbereitung eine gemeinsame Arbeitsstruktur, "um unter Wahrung der jeweiligen Verantwortungsbereiche erfolgreich zusammen zu arbeiten". Im geschichtspolitischen Positionspapier der Bundesregierung wird auf die identitäts- und imagefördernde Funktion des Jubiläums hingewiesen: "In der Rückbesinnung auf die unsere heutige Gesellschaft und unser Staatswesen so prägenden Folgen der Reformation ist es möglich, sich der eigenen Identität zu vergewissern, Deutschland als weltoffene Geistes- und Kulturnation zu präsentieren und ein positives Deutschlandbild im Ausland zu befördern." Inwieweit dies gelingt, wird Gegenstand zukünftiger Forschung sein.