Am 11. Mai 1967 stellte die britische Labour-Regierung unter Premierminister Harold Wilson ein erneutes Gesuch um Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften. Fünf Tage später erklärte der französische Staatspräsident Charles de Gaulle in einer Pressekonferenz, dass eine Mitgliedschaft des Vereinigten Königreiches die Gemeinschaft völlig verändern würde und deshalb eine Assoziation dem Beitritt vorzuziehen sei.
Dieses unbeirrte Festhalten der Wilson-Regierung an dem britischen Beitrittswunsch mag verwundern, hatte doch gerade die Labour Party in den Jahren zuvor wiederholt ihre Ablehnung eines britischen EG-Beitritts kundgetan.
Im Wahlkampf des Jahres 1964, der mit einem knappen Sieg der Labour Party endete, hatte Wilson sich erneut zu den Gaitskell-Bedingungen bekannt, und nichts deutete auf das einige Jahre später gestellte "bedingungslose" Beitrittsgesuch hin. Warum entschied sich die Labour-Regierung unter Harold Wilson (Premierminister von 1964 bis 1970 sowie von 1974 bis 1976), der das erste britische Beitrittsgesuch unter Harold Macmillan (Premierminister von 1957 bis 1963) noch heftig kritisiert hatte, dann 1967 für einen erneuten EG-Beitrittsantrag?
Grundzüge britischer Europapolitik 1945–1961
Gemäß dem Churchill’schen Konzept der drei Kreise, das Großbritannien an der Schnittstelle zwischen den USA, dem Commonwealth und Europa verortete und keine einseitige oder ausschließliche Integration in einen der Kreise zuließ, hatten alle britischen Regierungen der Nachkriegszeit es abgelehnt, sich allzu eng an die Staaten des Kontinents zu binden und sich in ein supranationales Europa zu integrieren.
Aus damaliger britischer Sicht war diese Haltung verständlich, und hier nur von "missed opportunities" zu sprechen, verkennt die Umstände der unmittelbaren Nachkriegszeit und die Position Großbritanniens Anfang der 1950er Jahre.
Neben diesen politischen Gründen gab es auch wirtschaftliche Gründe, die zur Ablehnung einer Teilnahme an den Europäischen Gemeinschaften führten. So war Großbritannien 1950 einer der größten Kohle- und Stahlproduzenten der Welt, nur fünf Prozent seiner Stahlexporte gingen in die späteren EGKS-Staaten, und auch seine Rohstoffe bezog Großbritannien nur zu einem geringen Teil aus diesen Ländern. Eine Teilnahme an der Kohle- und Stahlgemeinschaft der Sechs hätte Großbritannien nicht nur keine Vorteile gebracht, sondern sich möglicherweise sogar nachteilig auf die britische Wettbewerbsfähigkeit in diesem Bereich ausgewirkt.
Eine 1955 erstellte Studie des interministeriellen Mutual Aid Committee, in der die mittel- und langfristigen Auswirkungen einer möglichen EWG-Mitgliedschaft Großbritanniens untersucht wurden, kam zu dem Ergebnis, dass die Teilnahme am Gemeinsamen Markt je nach Wirtschaftszweig sowohl Vor- als auch Nachteile für die britische Wirtschaft biete und dass sich somit aus wirtschaftlicher Perspektive keine klare Entscheidung zugunsten der Teilnahme an einem Gemeinsamen Markt der Sechs ergebe. Es waren dann die vom Foreign Office im Bericht dargelegten politischen Gründe, die zu der Entscheidung führten, nicht am geplanten Gemeinsamen Markt der Sechs teilzunehmen. Hervorgehoben wurde dabei insbesondere, dass durch eine EWG-Teilnahme die Beziehungen zum Commonwealth als auch zu den USA geschwächt werden könnten. Allerdings gab es auch bereits mahnende Stimmen, die darauf hinwiesen, dass die Sechs sich zu einem starken wirtschaftlichen und politischen Block entwickeln könnten und Großbritannien sich dann zu einem späteren Zeitpunkt unter den Bedingungen der Sechs dieser Gemeinschaft anschließen müsste.
Die Ablehnung der Teilnahme an den supranationalen Europäischen Gemeinschaften in den 1950er Jahren bedeutete aber nicht, dass Großbritannien kein Interesse an Europa hatte oder keine Zusammenarbeit mit Europa suchte. Vielmehr strebten die britischen Regierungen der Nachkriegszeit durchaus eine Verbindung mit den Staaten des Kontinents an, aber nur im Rahmen intergouvernementaler Organisationen wie der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC, heute OECD), dem Europarat und dem Brüsseler Pakt/Westeuropäische Union (WEU), die keine Souveränitätsabgabe der Staaten an ein übergeordnetes Organ verlangten. Für die wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde die Bildung einer Europäischen Freihandelszone präferiert.
Kehrtwende britischer Politik?
Dass Großbritannien zu Beginn der 1960er Jahre von der bislang verfolgten Europapolitik abwich und am 9. August 1961 unter Premierminister Harold Macmillan ein erstes Beitrittsgesuch zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft stellte,
Zum einen hatte die britische Industrie an Wettbewerbsfähigkeit verloren und war Großbritanniens Anteil am gesamten Weltexport zwischen 1950 und 1960 von 25,5 Prozent auf 16,5 Prozent gesunken.
Zum anderen schien es auch aus politischen Gründen ratsam, sich den Sechs, die mit den sogenannten Fouchet-Plänen von 1961/62 den Weg zu einer politischen Union einschlugen, anzunähern, wollte Großbritannien nicht in die Bedeutungslosigkeit absinken.
Zweiter Versuch: Der EG-Beitrittsantrag der Labour-Regierung
Die von der konservativen Regierung unter Macmillan angeführten Gründe für ein EG-Beitrittsgesuch behielten auch in den folgenden Jahren ihre Gültigkeit und ließen innerhalb der Labour Party die ursprünglichen Bedenken gegen einen EG-Beitritt zunehmend schwinden. Die wirtschaftlichen Probleme Großbritanniens wuchsen beständig, hohe Preise und Arbeitslosigkeit kennzeichneten die Lage im Land, zudem erschütterten eine ernste Sterling-Krise und schwere Zahlungsbilanzkrisen die britische Wirtschaft.
Die Neuwahlen vom März 1966 verschafften der Labour-Regierung zwar eine sichere Mehrheit, dennoch wurde Wilsons Amtszeit weiterhin von den ökonomischen Problemen überschattet. Verschärft wurde die Situation durch zahlreiche Streiks, unter anderem der Seeleute und Dockarbeiter, die die britische Wirtschaft weitgehend lähmten. Die von der Regierung Wilson ergriffenen Maßnahmen zur Behebung der wirtschaftlichen Krise im Land, wie das zeitweilige Einfrieren der Löhne und Preise sowie harte Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben, führten zu heftigen Auseinandersetzungen mit linken Labour-Politikern und verstärkten die innerparteilichen Gräben zwischen dem rechten und linken Parteiflügel, die auch in verschiedenen anderen innen- wie außenpolitischen Fragen zutage traten. Erneut war auch der Versuch gescheitert, EWG und EFTA miteinander zu verbinden und so den britischen Exporten einen besseren Zugang zum Gemeinsamen Markt zu verschaffen.
Doch nicht nur die wirtschaftliche Situation Großbritanniens stellte eine enorme Belastungsprobe für die Regierung Wilson dar. Auch die special relationship zum Partner USA war in diesen Jahren Belastungen ausgesetzt, insbesondere durch Wilsons Weigerung, die USA ihren Wünschen entsprechend im Vietnamkrieg zu unterstützen, und aufgrund der britischen Pläne für einen militärischen Rückzug "East of Suez". Zudem drohte der wichtigste Pfeiler des britischen Weltmachtanspruchs, das Commonwealth, wegzubrechen. Der in den 1940er Jahren begonnene Dekolonisierungsprozess setzte sich unvermindert fort. 1965 wurden Gambia und Singapur in die Unabhängigkeit entlassen, 1966 Barbados, Botsuana, Guyana und Lesotho, und im November 1965 erklärte Südrhodesien gegen den Willen Londons seine Unabhängigkeit. Auch wirtschaftlich verlor das Commonwealth weiter an Bedeutung für Großbritannien, die Exporte in diesen Raum sanken bis Ende der 1960er Jahre auf nur noch 25 Prozent.
Zur selben Zeit, als diese wichtigen Konstanten britischer Politik – die special relationship zu den USA und das Commonwealth – unter Druck gerieten, wurden die Europäischen Gemeinschaften in britischen Augen zunehmend attraktiver. Nach der "Krise des leeren Stuhls" 1965/66 und dem Luxemburger Kompromiss
Im britischen Kabinett allerdings gab es, neben Beitrittsbefürwortern wie Wirtschaftsminister (ab August Außenminister) George Brown und Außenminister Michael Stuart, strikte Gegner eines britischen EG-Beitritts, zu denen unter anderem die dem linken Parteiflügel zugehörige Verkehrsministerin Barbara Castle, Verteidigungsminister Denis Healey, Landwirtschaftsminister Fred Peart, Handelsminister Douglas Jay und der für Commonwealth-Angelegenheiten zuständige Herbert Bowden zählten. Sie befürchteten durch den Beitritt eine Verteuerung der Lebensmittel, eine Überschwemmung des britischen Marktes mit europäischen Importwaren, einen geringeren Lebensstandard, einen Bruch mit dem Commonwealth, den Verlust nationaler Kontrolle über die Wirtschaft, die Schaffung eines kapitalistischen Handelsblocks und die Übertragung der Parlamentssouveränität an Brüssel.
Trotz der weiterhin bestehenden Widerstände gelang es Wilson schließlich, im Kabinett die Zustimmung für eine "Europatour" zu erlangen, um in den Hauptstädten der Sechs die Chancen eines erneuten Beitrittsgesuches auszuloten. Zwischen Januar und März 1967 bereisten Wilson und Außenminister Brown die europäischen Hauptstädte. Von ihrer Reise brachten sie den Eindruck mit, dass die friendly five einem britischen Beitrittsgesuch positiv gegenüberstanden, und Wilson empfahl in der Unterhausdebatte vom 8. bis 10. Mai, ein erneutes Beitrittsgesuch zu stellen. Allerdings wurden kritische Stimmen, die bei der "Europatour" zu hören gewesen waren, bewusst ignoriert. Beispielsweise hatte der italienische Ministerpräsident Aldo Moro zwar seine grundsätzlich positive Haltung gegenüber einem britischen EG-Beitritt bekräftigt, aber Zweifel bezüglich der Haltung de Gaulles geäußert; auch in der Bundesrepublik hielt man ein sofortiges Beitrittsgesuch nicht für erfolgversprechend. De Gaulle selbst hatte zwar kein eindeutiges "Nein" in Bezug auf ein britisches Beitrittsgesuch verlauten lassen, aber doch seine Zweifel an der "europäischen Haltung" Großbritanniens deutlich kundgetan.
Die Abstimmung im britischen Unterhaus am 10. Mai 1967 erbrachte zwar ein eindeutiges Votum zugunsten eines Beitrittsgesuchs (488 Ja- gegen 62 Nein-Stimmen), aber allein von den Labour-Abgeordneten hatten 36 gegen das Beitrittsgesuch gestimmt, und 50 weitere hatten sich enthalten. Die Zustimmung war nur aufgrund der Haltung der Konservativen und Liberalen zustande gekommen. Auch bei der am 2. Mai 1967 einberufenen Kabinettssitzung hatten sich sieben von 21 Ministern gegen ein Beitrittsgesuch ausgesprochen.
De Gaulles Reaktion auf das am 11. Mai in Brüssel eingereichte Beitrittsgesuch erfolgte prompt. Neben dem Zweifel an dem "europäischen Charakter" Großbritanniens hob de Gaulle vor allem die Lage und Stellung des britischen Pfundes als ein Hindernis für einen EG-Beitritt hervor.
Wilson war mit seinem Versuch, Großbritannien in die Gemeinschaften zu führen, an de Gaulle gescheitert, was sein öffentliches Ansehen stark beschädigte und sicherlich mit dazu beitrug, dass er kein "fondly remembered Prime Minister" wurde.
Veränderung der britischen Geschichte?
Der Weg Großbritanniens in die Europäischen Gemeinschaften, der sogenannte "Brentrance", war schwierig, und er bedeutete in Großbritannien wohl für viele das von Gaitskell 1962 beschworene "Ende von tausend Jahren britischer Geschichte". Ressentiments gegen die in den 1960er Jahren vor allem von den britischen Eliten vollzogene Hinwendung zu Europa waren stets vorhanden und sind bis heute spürbar, wie sich an der Abstimmung über den "Brexit" im Juni 2016 gezeigt hat, bei der sich eine Mehrheit der Bevölkerung gegen den Verbleib in der Europäischen Union aussprach. Zumindest für einen Teil der britischen Eliten aber ist inzwischen die EU-Mitgliedschaft auch Bestandteil der britischen Geschichte geworden. So hatte der britische Finanzminister Philip Hammond am 23. November 2016 vor dem Parlament gewarnt: Die Entscheidung, die Europäische Union zu verlassen, "will change the course of Britain’s history".
Dass spätestens seit Beginn der 1970er Jahre die Geschichte Großbritanniens eng mit der Geschichte des Kontinents verbunden ist, wurde der britischen Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten allerdings unzureichend vermittelt. Schon 1967 hatte Wilson nur auf die ökonomischen Vorteile eines EG-Beitritts verwiesen, nicht aber versucht, "Europa" auch in den Köpfen und Herzen der britischen Bevölkerung zu verankern.