Wo von "Krise" die Rede ist, da lässt sich immer ein Patient entdecken, der entsprechende Symptome zeigt. Antike Mediziner verwendeten den Krisenbegriff, um jenen Zeitpunkt zu beschreiben, der zwischen Leben oder Tod entscheidet. Diese Bedeutung hat sich im modernen Sprachgebrauch erhalten. Obgleich eine Krise im Alltag zumeist rein negativ verstanden wird, so markiert sie im Grunde eine offene Situation, in der Entscheidungen fällig sind, die Verbesserungen oder Verschlechterungen nach sich ziehen können. Nicht wenige zeitgenössische Beobachter attestierten der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1966/67, dass sie entweder in einer Krise stecke oder eine solche unmittelbar bevorstehe. So titelte etwa "Der Spiegel" im August 1966 mit der Frage: "Wirtschaftskrise in Deutschland?" Im November 1966 appellierte die "Bild" an die Politik: "Wenn Bonn jetzt handelt, wird es weder eine Wirtschaftskrise noch eine Staatskrise geben!" Und im Sommer 1967 konstatierte das "Hamburger Abendblatt" eine "Studentenkrise".
Im Herbst 1966 hatten sich die Ereignisse in Bonn überschlagen: Die Koalition aus CDU/CSU und FDP zerbrach über den Bundeshaushalt 1967, Bundeskanzler Ludwig Erhard trat zurück und die CDU/CSU-Fraktion kürte den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger zum Nachfolgekandidaten; die SPD sah nach vielen Oppositionsjahren die Chance zur Regierungsbeteiligung. In dieser Situation bot der SPD-Vorsitzende Willy Brandt der Union in einem Schreiben die Hilfe seiner Partei bei der "Überwindung der Regierungskrise" an. Das Wort "Krise" schien in aller Munde zu sein. Selbst Kiesinger betonte in seiner ersten Regierungserklärung im Dezember 1966, dass die Große Koalition nicht "aus einem glänzenden Wahlsieg, sondern aus einer von unserem Volk mit tiefer Sorge verfolgten Krise" hervorgegangen sei. Die Regierung habe aber die Kraft, "zu entscheiden, was entschieden werden muß". Der Kanzler ging damit auf das Krisenempfinden innerhalb der Bevölkerung ein und präsentierte sich und das Kabinett als zupackende Entscheider, womit er sich von Amtsvorgänger Erhard abgrenzte, der in der öffentlichen Wahrnehmung immer häufiger den Eindruck eines Zauderers hinterlassen hatte. Noch bevor Kiesinger seine Rede gehalten hatte, erklangen im Zuge der Regierungsbildung etliche Klagegesänge, dass die Große Koalition wiederum eine Krise der Demokratie auslöse.
Im Abstand von nunmehr 50 Jahren könnte man die zeitgenössischen Äußerungen als grandiose Übertreibungen abtun. Sie zeigen aber, dass es sich bei Krisen vordergründig um Wahrnehmungsphänomene handelt. Krisenbeschreibungen sind Selbstbeobachtungen von Gesellschaften, mit deren Hilfe man über eine plötzlich ungewisse Zukunft spricht – insbesondere während sozialer und wirtschaftlicher Umbruchserfahrungen. Bereits 1969 war die Talsohle der Konjunkturflaute durchschritten, jedoch konnten die Zeitgenossen der Jahre 1966/67 das baldige Rezessionsende nicht erahnen. Durch die Wachstumsraten der Nachkriegsjahre verwöhnt, erschraken sie über einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 0,3 Prozent und eine Arbeitslosenquote von knapp über zwei Prozent. Große Bevölkerungsteile nahmen die "Krise" viel dramatischer wahr, als sie tatsächlich war. In einer Umfrage gaben fast 40 Prozent an, dass sich die Bundesrepublik in einer Wirtschaftskrise befinde, knapp 25 Prozent der Befragten sahen eine solche heraufziehen. "Die Zeit" verkündete zu Jahresbeginn 1967 die "Hiobsbotschaft", dass sich 578.400 Arbeitslose bei den Arbeitsämtern gemeldet hätten und die Arbeit knapp werde. Gemessen an den Arbeitslosenzahlen nachfolgender Jahrzehnte erscheint die Meldung alarmistisch. Jedoch gerieten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre bundesrepublikanische Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten wie Vollbeschäftigung und stetiger Aufschwung ins Wanken. Mit Konrad Adenauer starb im April 1967 zudem eine Identifikationsfigur der frühen Bonner Republik und ein Gesicht des deutschen "Wirtschaftswunders". Darüber hinaus prägten die Vergangenheitserfahrungen mit der ersten deutschen Demokratie und die Zukunftserwartungen der zweiten den Blick auf die Gegenwart: Das Gespenst von Weimar ging um.
Demokratie im Notstand?
Im März 1967 fragte der Politologe Karl Dietrich Bracher: "Wird Bonn doch Weimar?", und warnte vor den möglichen Folgen der Großen Koalition für die bundesrepublikanische Demokratie: "Anti-Parlamentarismus, außerparlamentarische Opposition, restauratives und autoritäres Denken, Radikalismus". In Brachers Worten schwang Zukunftsangst mit, vor einem Parlament, in dem nur noch die FDP die Oppositionsrolle innehatte; vor einer Partei wie der NPD, die 1966 erste Landtagsmandate in Bayern und Hessen errang und 1967 gleich in vier Landtage (Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein) einziehen sollte. Und mit Sorge beobachtete er die Verlagerung der politischen Diskussion vom Bundestag hinter die verschlossenen Türen der Ausschüsse und Ministerien, aber auch das Anwachsen einer außerparlamentarischen Opposition, die sich von der Politik nicht mehr vertreten fühlte. Bracher war mit seiner Sorge nicht allein. Vor allem die Regierungspläne, eine Notstandsverfassung zu erlassen, führten unter linksliberalen Intellektuellen, den Gewerkschaften und einem Teil der Studierendenschaft zu lebhaften Diskussionen und zahlreichen Protesten.
Die Debatten um die Notstandsgesetze sind ohne die Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung und dem Scheitern der ersten deutschen Demokratie nicht zu verstehen. Der Notstandsartikel 48 hatte dem Reichspräsidenten der Weimarer Republik eine enorme Machtfülle verliehen: Er konnte Präsidialkabinette bilden und Grundrechte ganz oder teilweise außer Kraft setzen. Mithilfe von Notverordnungen war es möglich gewesen, ohne das Parlament zu regieren. Ein Verfassungsinstrument, das die Republik im Notstandsfall retten sollte, hatte so maßgeblich zur Aushöhlung und Zerstörung der Demokratie von Weimar beigetragen.
In den 1960er Jahren wuchs die Angst davor, dass sich diese Geschichte in Bonn wiederholen könnte. Bereits am Anfang des Jahrzehnts hatte der damalige Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) einen ersten "Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes" präsentiert. Falls ein äußerer oder ein innerer Notstand eintrete, sollte es möglich sein, die Grundrechte einzuschränken sowie die Bundesregierung mit besonderen Kompetenzen auszustatten. Insbesondere die Gewerkschaften kritisierten die Pläne, da sie Einschränkungen beim Streikrecht befürchteten. Der Kritik schlossen sich Intellektuelle, linke Studierende sowie Angehörige der Ostermarschbewegung an. Nachdem die SPD-Bundestagsfraktion den Gesetzentwurf abgelehnt hatte, verschwanden die Pläne zunächst in der Schublade. Offenkundig mangelte es an der notwendigen Zweidrittelmehrheit im Bundestag, um Änderungen am Grundgesetz vorzunehmen. In den folgenden Jahren standen jedoch weitere Entwürfe zur Diskussion. Im Verlauf der Auseinandersetzung signalisierte die SPD ihre Bereitschaft, die Notstandsgesetzgebung mitzugestalten und letztendlich mitzutragen.
Nachdem sich im Herbst 1966 abzeichnete, dass bald eine Große Koalition regieren würde, trat das Thema mit Vehemenz auf die Tagesordnung. Zwischen November 1966 und Februar 1967 entstanden in 80 Städten lokale Aktionskomitees gegen die Notstandsgesetze. Bis Jahresende erhöhte sich die Zahl auf 150. Am 30. Oktober 1966 demonstrierten über 20.000 Menschen gegen die geplante Notstandsgesetzgebung auf dem Frankfurter Römerberg, wobei man Plakate wie "Wehret den Anfängen" oder "Nie wieder 1933" lesen konnte. Das "Kuratorium Notstand der Demokratie", Organisator und Motor des Protests, erinnerte die Bundestagsabgeordneten "an das Ermächtigungsgesetz vom März 1933, das den Untergang der ersten deutschen Republik endgültig besiegelt" hatte. Der Bezug auf Weimars Ende diente den Organisatoren als Gegenwartskritik und düstere Zukunftsprognose.
Bei Befürwortern der Gesetzesinitiative spielte die antizipierte Zukunft ebenfalls eine entscheidende Rolle. Sie befürchteten, dass das Grundgesetz in seiner bisherigen Form für Krisen- oder Katastrophenfälle nicht gewappnet sei. Der CDU-Abgeordnete Bert Even fasste diese Sicht während einer Bundestagsaussprache im Juni 1967 knapp zusammen: "Die Demokratie wird nicht abgebaut, sondern umgekehrt für Krisenlagen gefestigt." Geradezu spiegelbildlich argumentierten Befürworter und Gegner also mit dem Motiv einer zukünftigen Krise der Demokratie: Für die einen waren die Notstandsgesetze wichtige Bewahrer vor einer Krise und für die anderen Auslöser derselben.
Motoren des Protests
Die Diskussionen um die Notstandsgesetze dauerten bis zu ihrer Verabschiedung im Mai 1968 an. Für die Außerparlamentarische Opposition (APO) waren die Notstandsgesetze ein wichtiges Mobilisierungsthema und gleichzeitig der Kitt, der sie zusammenhielt. Ein zeitgenössischer "Sprachführer durch die Revolution" bezeichnete die APO als ein "Ensemble von Gruppen und Organisationen". Die Studentenbewegung war mit ihren Verbänden ein wichtiger Teil der APO, nahm beim Protest gegen die Notstandsgesetze aber nicht die federführende Rolle ein. Diese Funktion hatten vor allem die Gewerkschaften und insbesondere die IG Metall inne. Die Studierenden sorgten mit ihren neuen Protestformen wie Sit-ins und Teach-ins, die sie der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung entliehen hatten, jedoch für eine enorme Präsenz in den Medien. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) bildete wiederum die politische und organisatorische Keimzelle der studentischen Bewegung, darüber hinaus waren der Liberale Studentenbund Deutschlands (LSD), der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB) und die Humanistische Studentenunion (HSU) maßgebliche Akteure.
Was diese studentischen Gruppierungen trotz unterschiedlicher politischer Einstellungen einte, war die Wahrnehmung, dass sich die deutschen Hochschulen in einer Krisensituation befänden: Reformstau und Etatkürzungen, überkommene Traditionen und verkrustete Strukturen allerorten. Daher standen am Anfang des studentischen Protests die Forderungen nach einer Demokratisierung der Universität, nach Transparenz und Teilhabe sowie Verbesserungen der Studienbedingungen. Auch ganz lebensweltliche Gründe trieben die Studierendenschaft auf die Straßen. So protestierten in den letzten Apriltagen 1967 beispielsweise die Darmstädter Studierenden mithilfe von Sit-ins und Demonstrationszügen gegen die Verteuerung des Mensaessens von 1,10 auf 1,30 DM. Sie machten von ihrem Recht Gebrauch, Defizite und Probleme an den Universitäten anzusprechen. Der Darmstädter SDS kommentierte die Preiserhöhung und integrierte sie in die eigene Argumentationslogik: Die "Emanzipation der Studenten zum freien intellektuellen Arbeiter und die volle Herstellung der akademischen Freiheit des Studiums werden ersetzt durch eine immer extremere persönlich-materielle Abhängigkeit des Studenten von seinen Eltern, Mäzenen, Dozenten, den Zwang, sich zum Bittsteller in Permanenz (…) zu entwickeln". Diese Stellungnahme ist ein Beispiel für die Theoretisierung des Protests im Jahr 1967; selbst hinter einer Mensapreiserhöhung vermutete der SDS staatliche Unterdrückungsmechanismen. Hier zeigt sich, wie aus Hochschulkritik eine generelle Kritik der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse erwuchs. Retrospektiv wurde dem SDS eine zentrale Rolle bei den Hochschulreformen in den späten 1960er Jahren zugeschrieben. Wie neuere Forschungen zeigen, erschöpfte sich sein Einfluss darin, "in letzter Konsequenz den hochschulpolitischen Druck" erhöht zu haben.
Jenseits der Hochschulpolitik gelang es dem SDS, das Themenspektrum des Protests deutlich auszuweiten: gegen den Vietnam-Krieg und die Unterdrückung in der "Dritten Welt", gegen den Springer-Konzern, gegen "das Kapital" und den vermeintlich fortwirkenden "Faschismus" in der Bundesrepublik. Die Chiffre Faschismus bezogen die Protestierenden auf nahezu alle bundesrepublikanischen Kritikpunkte: auf autoritäre Strukturen, undemokratische Verfahren und repressive Erziehungsmethoden. Dabei stand nicht so sehr eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Zentrum, wohl aber das Bestreben, eine Wiederkehr des Nationalsozialismus zu verhindern. Insbesondere die Parallelisierung mit der Phase der nationalsozialistischen Machtübernahme bestimmte die Wahrnehmungswelt der Protestierenden. Die Zukunft schien der Vergangenheit immer ähnlicher zu werden. Der gewaltsame Tod des Studenten Benno Ohnesorg am Rande der Proteste gegen den Schah-Besuch am 2. Juni 1967 verfestigte diese Wahrnehmung.
Schah-Besuch und Folgen
Vier Tage nach dem Tod Ohnesorgs erklärte der SDS-Bundesvorstand: "Das postfaschistische System in der BRD ist zu einem präfaschistischen geworden." Der Bundesvorstand verknüpfte das tragische Ereignis in Berlin mit der geplanten Notstandsgesetzgebung. In dieser Perspektive war der tödliche Schuss, abgefeuert vom Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras, "ein Exempel, wie eine mit Notstandsgesetzen ausgerüstete Staatsgewalt" in Zukunft politischen und sozialen Konflikten begegne.
Den Rahmen der Geschehnisse am 2. Juni bildete ein Staatsbesuch: Vom 27. Mai bis zum 4. Juni 1967 verweilten Schah Mohamed Reza Pahlavi und seine Ehefrau Kaiserin Farah Diba in der Bundesrepublik. Die Sicherheitsvorkehrungen waren enorm. Die Behörden sperrten ganze Autobahnen, mehrere zehntausend Polizeibeamte waren bundesweit im Einsatz. Demonstrationen begleiteten das iranische Staatsoberhaupt auf fast allen Stationen seiner Deutschlandreise. Für die Protestierenden war der Schah die Inkarnation der Unterdrückung, Symbol für Imperialismus und Kapitalismus, verantwortlich für die Ausbeutung der iranischen Bevölkerung. Der Schah-Besuch war zugleich ein Medienereignis: Die ARD berichtete live von der Ankunft der Staatsgäste und vom abendlichen Empfang in Schloss Brühl. Das ZDF wusste zu berichten, dass Kaiserin Farah fast 40 Kostüme mit in die Bundesrepublik gebracht hatte und pries den Schah ausschließlich positiv als "Reformator" und "Modernisierer". Dass die Bundesrepublik diesen Despoten mit allen Ehren empfing, Boulevardzeitungen und Fernsehbeiträge mitunter mehr Zeit damit verbrachten, über die Kleidung der Kaiserin zu berichten, anstatt auf das Leid der iranischen Bevölkerung einzugehen, muss dem SDS als Sinnbild für die politischen und gesellschaftlichen Zustände im Land erschienen sein: Jubel über die Staatsgäste auf der einen Seite, Protest auf der anderen.
Wie viele andere Studierende protestierte der 26-jährige Benno Ohnesorg am 2. Juni gegen den Schah-Besuch in Berlin. Gemeinsam mit seiner schwangeren Frau war er zu der Demonstration gegangen. Gegen 20 Uhr verabschiedete sich Christa Ohnesorg von ihrem Mann, eine halbe Stunde später fiel der tödliche Schuss. Die Fotografie, die kurz nach dem Schuss entstand und den am Boden liegenden Ohnesorg zeigt, entwickelte sich zu einer Bildikone, in der viele der Protestierenden eine Mahnung und den Antrieb für eigenes politisches Handeln sahen. Hierzu trug auch die anschließende Berichterstattung in den Springer-Zeitungen bei: "Wer Terror produziert, muß Härte in Kauf nehmen", war etwa in der "B.Z." zu lesen. Die "Bild" machte Ohnesorg zum "Opfer von Krawallen, die politische Halbstarke" inszeniert hätten. Und die "Welt am Sonntag" schrieb: "Kripo erschoß Student in Notwehr". Solche Zitate wurden in der Forschung häufig herangezogen, um die Stimmung jener Zeit einzufangen. Jedoch setzten sich die linksliberalen Zeitungsorgane nüchterner und kritischer mit der Berliner Polizei auseinander, Fernseh- und Radiobeiträge hinterfragten das staatliche Vorgehen.
Die APO trug massive Konflikte mit dem Springer-Konzern aus, gleichzeitig ging sie Kooperationen mit anderen massenmedialen Akteuren ein. In einem Beitrag der Fernsehsendung "Panorama" vom 5. Juni 1967 kamen Augenzeugen ausführlich zu Wort. Ein Student schilderte dabei, wie die Polizei Ohnesorg mit Knüppeln bearbeitet habe. Er berichtete von Ohnesorgs Hilflosigkeit und schließlich vom Mündungsfeuer auf Kopfhöhe. Rechtsanwalt Horst Mahler, später Mitglied der RAF, streute im selben Beitrag massive Zweifel an der "Notwehr-These". Im Radio diskutierten etwa Rudi Dutschke, Wolfgang Lefèvre (beide SDS) und Knut Nevermann (SHB) mit Professoren und Politikern in den folgenden Wochen stundenlang über die "Vorfälle beim Besuch des Schah", über "Ursachen und Stand der Studentenunruhen" oder über "Demonstrationsrecht und Polizeibefugnis". Verschiedene Medienakteure boten den Protestierenden immer wieder eine Plattform, ihre Anliegen zu kommunizieren. Der Protest im Jahr 1967 war nicht nur ein Medien-, sondern vielmehr ein Kommunikationsereignis, in dessen Zentrum die Fragen standen: Was ist das für eine Gesellschaft? Und wohin steuert diese Republik?
Die Gerichtsverfahren gegen Karl-Heinz Kurras sowie Fritz Teufel von der Kommune 1 schienen Antworten auf diese Fragen zu geben. Unter dem Motto "Freiheit für Teufel" protestierte die APO gegen den langen Gefängnisaufenthalt des Kommunarden, der mit Unterbrechung von Juni bis Dezember 1967 in Untersuchungshaft saß. Der Vorwurf der Berliner Justiz lautete: Landfriedensbruch und die Verletzung eines Polizisten am 2. Juni 1967. Teufels Haft mobilisierte die APO und führte zu unterschiedlichen Solidaritätskampagnen, es gab sogar einen Hungerstreik. Zugleich wurden Gelder für die Kaution gesammelt. Am Ende sprach das Gericht Teufel frei. Für Zweifel am bundesdeutschen Rechtsstaat sorgte über die APO-Kreise hinaus der ebenfalls verhandelte Fall Kurras. Nach dem tödlichen Schuss auf Ohnesorg blieb er auf freiem Fuß. Als im November 1967 das zuständige Gericht Kurras freisprach, sahen Beobachter dies als Signal für neue Auseinandersetzungen.
Der Allgemeine Studentenausschuss der Freien Universität Berlin bezeichnete das Urteil als eine "Unterstützung polizeilicher Terrorakte" und als eine "direkte Bedrohung der demokratischen Opposition". Innerhalb der APO verfestigte sich das Narrativ von einem nicht erklärten Notstand. Die auf zahlreichen Plakaten und Flugblättern als "NS-Gesetze" bezeichneten Notstandsgesetze erschienen für weite Teile der APO nach Ohnesorgs Ermordung in einem neuen Licht. Die Angst vor einer Rückkehr der NS-Diktatur war dabei nicht nur eine Wahrnehmung, sondern handlungsleitend. Sie führte dazu, dass junge Menschen auf die Straßen gingen, Flugblätter druckten, Plakate klebten und vor allem diskutierten. Der 2. Juni 1967 veränderte die Protestlandschaft. Einerseits erhielt die Studentenbewegung enormen Zuwachs, sowohl in den bisherigen Protesthochburgen Berlin und Frankfurt als auch in den Universitätsstädten. Andererseits bildete der 2. Juni den Ausgangspunkt einer zunehmenden Radikalisierung und erhöhte die Gewaltbereitschaft innerhalb der APO.
Was bleibt von 1967?
Nachdem 2009 bekannt geworden war, dass die DDR-Staatssicherheit Karl-Heinz Kurras als Mitarbeiter geführt hatte, schrieb "Der Spiegel": "Was wäre gewesen, hätten die Studenten bald erfahren, dass Kurras in der SED und bei der Stasi war? Wäre ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte ausgefallen?" Sicherlich hätte die Meldung Verunsicherung ausgelöst. Die Zuspitzung auf die Person Kurras verdeckte, dass die Protestierenden eben nicht den einzelnen Polizisten, sondern das "faschistoide" System für den Tod Ohnesorgs verantwortlich machten. In den Protestjahren rief Rudi Dutschke dazu auf, aggressiv und subversiv gegen dieses System vorzugehen, da dies die einzige Chance sei, dass Ohnmachtsgefühl zu durchbrechen und Menschen des 21. Jahrhunderts zu erschaffen. Der proklamierte Marsch durch die Institutionen richtete sich zunächst gegen das bundesrepublikanische System und artikulierte utopische Hoffnungen. Nachdem diese Hoffnungen in den 1970er Jahren zerstoben, blieb der Marsch in die Institutionen.
Konservative Beobachter nahmen diesen Marsch als Bedrohung der demokratischen Ordnung wahr. Die "Revolution kommt heute auf leisen Sohlen", schrieb 1971 der Soziologe Helmut Schelsky. Dabei artikulierte er die Angst vor einer linken "Machtergreifung" durch Ausnutzung der Demokratie und warnte vor einer Krise, die zum Zusammenbruch der marktwirtschaftlichen Ordnung führen werde. Wie APO-Mitglieder und Intellektuelle 1967 – nur aus entgegengesetzter Perspektive – diagnostizierte er eine Krankheit, die auch die erste deutsche Republik hinweggerafft hatte: eine fehlerhafte Demokratie.
Heute weiß man, dass die Revolution weder auf leisen, noch auf lauten Sohlen gekommen ist. Generell bestimmten 1967 Erwartungen und Befürchtungen vor großen Veränderungen die Wahrnehmung der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger, von denen sich letztlich keine erfüllen sollte. Jedoch zeichnete sich bereits ein dauerhaftes Krisenempfinden ab, das insbesondere im folgenden Jahrzehnt Politik und Gesellschaft stark prägen sollte. Für viele verlor die Zukunft ihr freundliches Gesicht.