Die Gewaltausbrüche während der Ersten-Mai-Demonstration in Kreuzberg 1987, die Pogrome gegen Flüchtlinge in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda Anfang der 1990er Jahre, die Unruhen in Los Angeles 1992, die Ausschreitungen in französischen Banlieues 2005, die Jugendkrawalle in London und anderen englischen Städten 2011 oder die massenhaften sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015/16 finden deswegen eine so große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, weil die meisten Beobachterinnen und Beobachter mit solchen Gewaltexzessen nicht rechnen und entsprechend überrascht sind.
Die Massenmedien – aber teilweise auch die Wissenschaft – identifizieren in der Regel die sozialstrukturellen Merkmale der an den Gewaltakten beteiligten Täterinnen und Täter. Bei den Ereignissen der Kölner Silvesternacht werden zum Beispiel die nordafrikanische Herkunft, der Migrationshintergrund und das jugendliche Alter hervorgehoben.
Dabei wird häufig übersehen, dass die sich mehr oder weniger spontan ausbildenden Situationen von Massengewalt vielfältige Ähnlichkeiten aufweisen. Bei einer näheren Betrachtung der bereits erwähnten oder auch anderer Gewaltereignisse ist rasch zu erkennen, dass sich die Täter sozialstrukturell zwar erheblich unterscheiden, die Formen, wie sich die Gewalt entwickelt, aber vergleichbar sind.
Phänomen der Gewaltmassen
Der Sozialpsychologe Gustave Le Bon hat darauf hingewiesen, dass sich in größeren Menschenansammlungen eine Eigendynamik entwickeln kann, aus der heraus es zu vielfältigen Formen von Übergriffen kommen kann.
Die Überlegungen von Le Bon und Canetti zu einer sich aus der Masse heraus entwickelnden Gewalt können – ohne dass dies in den Sozialwissenschaften bisher ausreichend markiert wurde – als Vorläufer neuerer Gewaltforschungen betrachtet werden, die die Eigendynamik bei der Gewaltanwendung herausstellen.
Nun führen Massenansammlungen von Personen nicht automatisch zu Gewaltexzessen. Die meisten Rockkonzerte, Demonstrationen oder Volksfeste verlaufen, abgesehen von einzelnen meist isolierten Schlägereien oder sexuellen Übergriffen, gewaltfrei. Es gibt aber in Menschenmengen Mechanismen, die Gewaltanwendung befördern. Massen seien – so der Tenor in der Forschung über Massengewalt – mit Emotionen wie Angst, Anspannung, Verachtung und Wut aufgeladen, die sich in Gewaltakten entladen können. Werden diese nicht sofort unterbunden, scheint plötzlich in der Masse vieles möglich zu sein, was sonst verboten ist. Die Aufhebung der Normalität in der Masse verleitet auch Personen, die normalerweise nicht zu Gewalt neigen, Steine zu werfen, andere zu begrapschen oder zu schlagen.
Kollektive Gewalthandlungen ereignen sich häufig dann, wenn es bei Massenansammlungen ein kleines Zeitfenster gibt, in dem eine größere Gruppe von Menschen den Eindruck gewinnt, dass die staatlichen Organe Recht und Ordnung nicht durchsetzen können. Das Gemeinsame der Übergriffe in Köln, der Krawalle zum Ersten Mai in Kreuzberg, der Unruhen in Los Angeles und der rassistischen Pogrome gegen Flüchtlinge in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda besteht somit darin, dass es bei all diesen Ereignissen einen Punkt gegeben hat, an dem die Masse der Anwesenden realisierte, dass Gewalttaten nicht unmittelbar unterbunden und geahndet werden. Insofern wird verständlich, warum solche Gewaltausbrüche – anders als zum Beispiel Mafiamorde, Wirtshausschlägereien oder Vergewaltigungen in der Ehe – immer auch mit einem Versagen der Polizei zu tun haben.
Die Schwäche der frühen Forschungen über Massengewalt war jedoch, dass sie Massen als ein weitgehend amorphes Gebilde betrachteten. Nur sehr begrenzt hat man sich dafür interessiert, welche Rolle persönliche Beziehungen in Massen spielen, wie sich die Massen intern strukturieren und wie sich Normen wenigstens kurzzeitig in Massen stabilisieren. Schaut man sich die aus der Masse heraus entstehende Gewalt jedoch näher an, dann handelt es sich in den meisten Fällen nicht um eine vollkommen anonyme Masse, in der alle Personen einander unbekannt sind. Vielmehr fällt auf, dass es auch innerhalb von Massen "soziale Verdichtungen" gibt, die schon vorher existiert haben und die für die Stabilisierung der Gewaltanwendung aus der Masse heraus eine wichtige Rolle gespielt haben.
Gruppen und Massengewalt
Diese in der Masse existierenden "sozialen Verdichtungen" können soziologisch am besten mit dem Begriff der Gruppe erfasst werden. Unter Gruppe wird ein soziales Gebilde verstanden, in denen Personen in einem regelmäßigen, personenbezogenen Kontakt zueinander stehen. Man kann darunter eher flüchtig und locker verbundene Gruppen wie einen Kreis von Freunden, Cliquen pubertierender Jugendlicher, an Straßenecken herumlungernde Gangs oder sich regelmäßig in Kneipen treffende Mietshausbewohner verstehen.Es fallen aber auch stabilere Formen darunter wie autonome linke politische Gruppen mit ihren weit ins Private reichenden Ansprüchen an ihre Mitglieder, kleine terroristische Zusammenschlüsse wie die "Baader-Meinhof-Gruppe" oder religiöse Gruppierungen, die sich jenseits der Initiative von Kirchenorganen entwickelt haben und in denen auch persönliche Themen ansprechbar sind. Wegen des Personenbezugs werden Gruppen in der sozialwissenschaftlichen Literatur auch als "Intimgruppen", "Face-to-Face-Gruppen" oder "Primärgruppen" bezeichnet.
Anders als Organisationen oder Bewegungen bestehen Gruppen aus einem bestimmten, unverwechselbaren Kreis von Mitgliedern, die sich gegenseitig kennen. Abwesenheiten von Gruppenmitgliedern sind dabei möglich, werden aber von allen bemerkt. Eine Gruppe zerfällt nicht automatisch, wenn Personen ausscheiden oder neue hinzustoßen. Aber sowohl die Kompensationsfähigkeit von Personenverlusten als auch die Aufnahmefähigkeit von neuen Personen sind in Gruppen stark begrenzt. Neuzugänge werden unter dem Gesichtspunkt beobachtet, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe – die persönliche Bezugnahme der Gruppenmitglieder – nicht gestört wird.
Die "sozialen Verdichtungen" in Form von Gruppen lassen sich erkennen, wenn man die Mikrostrukturen innerhalb von Massen ins Blickfeld nimmt. Schaut man sich etwa den Kölner Bahnhofsvorplatz und die Domplatte in der Silvesternacht 2015/16 etwas genauer an, dann wird deutlich, dass Frauen insbesondere durch Gruppen von Jugendlichen bedrängt und dabei sowohl sexuell belästigt als auch beraubt wurden. Das Muster der Übergriffe zeigt, dass es nicht einzelne Unbekannte waren, die sich spontan zu Straftaten zusammenfanden, sondern dass die Übergriffe von mehreren Personengruppen verübt wurden, innerhalb derer die Mitglieder sich vorher schon kannten. Zwar konnte es nur in der Masse zu den Gewaltexzessen kommen, aber die Art und Weise der Gewaltausübung deutet darauf hin, dass eine vorwiegend in bestimmten, häufig maghrebinischen Milieus durch Jugendgangs ein- und ausgeübte Form der Kleinkriminalität – das sogenannte Antanzen – eine wichtige Rolle spielte. Die Tatsache, dass das in der Silvesternacht vorherrschende Gewaltmuster aus Belästigung und Raub schon vorher in anderen Städten wie Duisburg oder Düsseldorf in kleinen Gruppen angewandt worden war, macht erklärbar, weswegen aus der Masse heraus nicht – was auch möglich gewesen wäre – etwa der Kölner Domschatz geplündert wurde, sondern in einer Vielzahl einzelner Straftaten Frauen sexuell bedrängt und ausgeraubt wurden.
Wenn man sich – um ein anderes Beispiel zu wählen – die Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991 und in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 ansieht, dann zeigt sich ebenfalls, dass an den Pogromen Gruppen von Skinheads beteiligt waren, deren Mitglieder sich aus rechtsextremen Freundeskreisen kannten und die sich bei den Gewalttaten gegenseitig motivierten.
Sicherlich sind die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock nur durch eine aus einer Masse heraus entstehende und sich durch die Masse stabilisierende Gewalteuphorie zu erklären. Sozial verdichtete Beziehungen in Gruppen haben eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für den Prozess sozialer Stabilisierung in derartigen Situationen. Die Gewaltausübung aus der Masse heraus kann darüber hinaus aber auch für die aus der Masse heraus agierenden Gruppen sozial stabilisierend wirken. Die erfolgreiche Gewaltanwendung gegen staatliche Ordnungshüter, ethnische Minderheiten, politisch Andersdenkende oder Andersgeschlechtliche wirkt für die Gruppe gemeinschaftsstiftend. Die im Rausch geworfenen Steine gegen die "Bullenschweine", das Zusammentreten einer "linken Zecke" oder eines "faschistischen Arschlochs", das "Abfackeln" von Flüchtlingsunterkünften oder das gemeinschaftliche Begrapschen von Frauen verstetigt sich in den Gruppen der Täter zu einer sinnstiftenden Erzählung, auf die immer wieder zurückgegriffen werden kann.
Die sinnstiftende Gewalterfahrung kann dann dazu beitragen, dass solche Gruppen förmlich Situationen suchen, in denen sie diese Erfahrung wiederholen können. Die Wiederholung der Gewaltrituale am Ersten Mai, der "Gewalttourismus" von Gruppen von einem Pogrom zum nächsten in den frühen 1990er Jahren in Ostdeutschland, die Ausbreitung von Jugendunruhen in französischen Banlieues Mitte der 2000er Jahre oder auch die regelmäßigen Schlägereien am Rande von Fußballspielen hängen maßgeblich damit zusammen, dass die durch die gemeinsame Gewalterfahrung zusammengehaltenen Gruppen auf der Suche nach Situationen sind, in denen sich der Rausch der Massengewalt entfalten kann.
Perspektiven für die Gewaltforschung
Die Gewaltforschung hat durch die mikrosoziologische Beobachtung von Gewaltereignissen beachtliche Fortschritte gemacht. Wir wissen inzwischen sehr genau, wie die Androhung von Gewalt abläuft, wie Gewalt in Face-to-Face-Interaktionen plötzlich eskaliert, wie die Gewaltausübung auch über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten wird und wie sie sich irgendwann erschöpft. Aber die neuere, mikrosoziologisch orientierte Gewaltforschung leidet erheblich darunter, dass sie nur einen begrenzten Blick für die sozialen Gebilde hat, aus denen heraus Gewalt entsteht.
Eine solche Systemtheorie der Gewalt kann sich nicht darauf beschränken, unterschiedliche Gewalthandlungen schematisch in Kategorien wie "Protestbewegung", "Familie", "Gruppe" oder "Organisation" zuzuordnen. Der Clou einer mikrosoziologisch verknüpften Systemtheorie der Gewalt besteht vielmehr darin, dass auch Verschachtelungen, Kombinationen und Übergänge zwischen diesen Systemtypen berücksichtigt werden. Auf dieser Grundlage ist es möglich, zu analysieren, wie sich im Rahmen von Protestbewegungen "schlagkräftige" Organisationen wie die Guerillabewegung Farc in Kolumbien oder die kurdische Arbeiterpartei PKK in der Türkei ausbilden. Auch Gewaltsituationen zum Beispiel durch islamistisch oder rechtsextremistisch motivierten Terrorismus, in denen freundschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen miteinander verwoben sind, lassen sich so untersuchen.
Auf diese Weise erhält man ein Gespür für den Formenwandel von Systemtypen bei der Gewaltausübung: Zum Beispiel, wenn sich aus einer Freundesgruppe von Hooligans, die sich regelmäßig zu Schlägereien mit "Fans" der gegnerischen Fußballmannschaft verabredet, eine Organisation entwickelt, deren Mitglieder einen Mitgliedsausweis erhalten und monatliche Beiträge entrichten, um die von Gerichten verhängten Strafgelder für einzelne Mitglieder zu bezahlen.
Dieser Text basiert auf Überlegungen, die ich erstmals anlässlich der Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015/16 veröffentlicht habe: Gewalt in Menschenansammlungen, 28. 1. 2016, Externer Link: www.soziopolis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/gewalt-in-menschenansammlungen.