Gewalt ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Disziplinen und umfasst je nach Definition sehr unterschiedliche Phänomene, Praktiken, soziale, politische und ökonomische Konstellationen und Verhältnisse sowie deren jeweilige Ursachen und Folgen.
Doch Gewaltereignisse können nicht nur hinsichtlich ihrer Dauer und der Zahl der an ihr beteiligten Personen charakterisiert werden. Auch die Räume im sozialen wie im geografischen Sinn, in denen Gewalt stattfindet, sind höchst unterschiedlich – angefangen beim Zuhause als konkretem Ort sowie als Raum, in dem es zu häuslicher oder verhäuslichter Gewalt kommt: zwischen (Ehe-)Partnern, Eltern und Kindern oder Geschwistern, kurzum, zwischen Menschen, die eine soziale Beziehung verbindet. Der Großteil militärischer Konflikte findet heutzutage in Städten und urbanen Räumen statt, sodass die meisten Opfer dieser Konflikte in Gebäuden sterben. Auch große Territorien werden insbesondere von Historikerinnen und Historikern wegen ihrer wechselhaften Geschichte und als Schauplätze oft zahlreicher gewaltsamer Auseinandersetzungen bis hin zu Kriegen als Gewalträume oder Gewaltzonen untersucht.
Nicht zuletzt erfahren die Protagonistinnen und Protagonisten von Gewaltereignissen Aufmerksamkeit in der Wissenschaft. Im Bereich der Forschungen zu Holocaust und Nationalsozialismus prägte der Historiker Raul Hilberg 1992 die triadische Begriffskonstellation "Täter, Opfer, Zuschauer".
In Gewalttheorien unterschiedlicher Reichweite und mit verschiedenen Abstraktionsgraden wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ausgelotet, genauer zwischen der Fähigkeit des Menschen zu Gewalt und Prozessen sozialer Ordnungsbildung. Über Jahrhunderte hervorgebrachte, strukturbildende Verhältnisse wie kapitalistische, heteronormative oder koloniale und postkoloniale Wirtschafts- und Lebensweisen werden in Bezug auf die Gewaltförmigkeit ihrer Voraussetzungen und Folgen im Kontext der Gewaltforschung analysiert.
Debattiert wird schließlich nach wie vor auch, wodurch Gewalt in die Welt kommt. Bringen soziale Verhältnisse Gewalt hervor oder liegt diese in der Natur des Menschen begründet? Gibt es biologische Prädispositionen zu Gewaltverhalten? Welche neurobiologischen Prozesse lassen sich im Gehirn gewaltausübender Menschen nachweisen und welche hormonellen Veränderungen im Körper? Und wie sind diese in Beziehung zu setzen zum Bereich des Sozialen? Ist Gewalt eine Form sozialen Handelns wie andere auch, für die Menschen sich entscheiden können und mithin auch die Verantwortung tragen? Fördert die Darstellung von realer und fiktionaler Gewalt in den Medien – unabhängig davon, ob sie der Informationsvermittlung oder der Unterhaltung dient – Gewaltaffinität? Hat sie abschreckende Wirkung oder eher abstumpfende? Ist gewalttätiges Handeln Ausdruck sozialer Defizite, und sind somit Täterinnen und Täter vor allem dort anzutreffen, wo Armut, Vernachlässigung, Missbrauch, Schulversagen oder Arbeitslosigkeit herrschen? Wird diese Art der Fragestellung möglicherweise selbst vom Glauben an eine bestimmte soziale Ordnung hervorgebracht, die auf dem Gegensatz zwischen Normalität und Abweichung basiert und darauf zielt, bestimmte Gruppen der Gesellschaft durch den Gewaltverdacht zu disziplinieren?
Diese Fragen sind wie auch die vorangestellte Aufzählung nur ein bruchstückhafter Ausschnitt aus dem Katalog der Forschungsgegenstände von Gewaltforscherinnen und Gewaltforschern. Gewalt als Forschungsgegenstand wird je nach Disziplin anders verstanden und im Kontext sehr unterschiedlicher Problemstellungen und Themenkomplexe sowie mit verschiedenen wissenschaftlichen Zielsetzungen thematisiert. So ist zum Beispiel die Frage nach Gewalt als sozialer Praxis vor allem eine soziologische, die Frage der Legitimität von Gewalt klassischer Gegenstand der Politischen Theorie.
Was ist Gewalt?
Gewalthandeln ist eine Form sozialen Handelns und damit allgegenwärtig und kontingent zugleich, das heißt zwar jederzeit möglich, aber auch jederzeit anders möglich.
In Baumans Argumentation aufgehoben ist der doppelte Bedeutungsgehalt des Wortes "Gewalt". Im Deutschen ist es nicht nur deshalb unpräzise, weil damit, wie bereits angedeutet, qualitativ sehr unterschiedliche Sachverhalte bezeichnet werden, sondern auch, weil anders als in anderen Sprachen sowohl legitime staatliche Gewalt als auch die illegitime Gewalt der Tat gemeint sein kann:
Mit Bauman gesprochen, sind alle Bemühungen, Gewalt aus der Welt zu schaffen, vor allem Kämpfe gegen unautorisierte Gewalt. Die Hoffnung auf eine gewaltfreie Gesellschaft baut indes auf der Idee des Gewaltmonopols auf. Eine Gesellschaft ohne Gewalt ist mitnichten eine ohne Zwang, sondern eine, in der nur autorisierter Zwang existiert – eine Gesellschaft also, "in dem das Gewaltmonopol nicht mehr umstritten ist".
Gewalt ist, auch das kommt in Baumans Überlegungen zum Ausdruck, keine ontologische oder vorsoziale Kategorie, sondern eine normative, moralische und ethische. Manche absichtlichen Verletzungen einer Person gelten als Gewalt, andere nicht. Was als Gewalt gedeutet, verstanden und bezeichnet wird, unterliegt je spezifischen zeitlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen und Ordnungen.
Erkennbar wird dies etwa am Beispiel der wechselhaften Geschichte der Folter. Heute existieren diverse internationale Menschenrechtsverträge zur Ächtung von Folter. So wurde beispielsweise die UN-Antifolterkonvention von 160 Staaten unterzeichnet. Dies bedeutet nicht, dass nicht mehr gefoltert wird. Amnesty International berichtete für 2014 von Folterungen in 141 Ländern und vermutete, das tatsächliche Ausmaß sei bedeutend höher.
Folter galt im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit keineswegs als unzulässige Gewalt. Sie wurde als Instrument der Wahrheitssuche sowohl im Rahmen von rechtmäßigen weltlichen Strafverfahren als auch in kirchlichen Inquisitionsprozessen gebraucht. Die peinliche Befragung diente mitnichten der Bestrafung derjenigen, die ihr unterworfen waren. Sie war ein Mittel, um Informationen zu gewinnen, auf deren Grundlage ein Urteil gefällt werden konnte, und damit Bestandteil einer sich ab dem 12. Jahrhundert in ganz Europa entwickelnden "neuen Rechtskultur".
Während Folter heute in der Regel auf die Zerstörung der Weltbeziehung der Gefolterten zielt, war die Perspektive auf die zu Folternden in vergangenen Jahrhunderten eine andere. Sie basierte auf der Vorstellung einer absoluten Wahrheit, die gegen den Willen des Subjekts durch Schmerz ans Licht gebracht werden konnte. "Die Zufügung von Schmerz wurde deshalb als ein Weg zur Wahrheit angesehen, weil Schmerz den Willen zurückdrängen und die Sprache des Körpers offenbaren konnte."
Inzwischen gibt es einige Anzeichen für eine allmähliche Relativierung der international breit geteilten, wenngleich in der Praxis nicht überall realisierten Ablehnung von Folter und damit auch für eine Ausweitung dessen, was zum Spektrum autorisierter oder legitimierter Gewaltpraktiken im Rahmen des Gewaltmonopols hinzugefügt werden könnte.
Insbesondere im Zuge der Debatten um die Art und Weise, in der der "Kampf gegen den Terror" zu führen sei, wurde während der Amtszeit von US-Präsident George W. Bush von 2001 bis 2009 nicht nur ernsthaft über die Zulässigkeit von Folterpraktiken als Mittel der Gefahrenabwehr – Stichwort Waterboarding – diskutiert, sondern diese auch angewandt. Und es scheint derzeit, als könnte die Auseinandersetzung unter US-Präsident Donald Trump neue Nahrung bekommen. Auch in anderen Kontexten wird die Möglichkeit, "erweiterte Verhörmethoden" einzusetzen, wie Folter bisweilen genannt wird, als sogenannte Rettungsfolter in Ausnahmefällen erwogen.
Dass über die Legitimität von Folter wieder diskutiert wird, lässt Gewaltforscher vermuten, dass moderne Gesellschaften gegenwärtig einen Paradigmenwechsel in Bezug darauf erleben, wie mit fiktiven oder tatsächlichen Bedrohungen umzugehen ist, und sie erörtern dies als eine Transformation vom Rechts- zum Präventionsstaat.
Wenn man etwas als Gewalt bezeichnet, schreibt Zygmunt Bauman, "so beinhaltet dies keinerlei neue Informationen über die Beschreibung der Tat; es beinhaltet vielmehr eine Information über die Entscheidung des Sprechenden, das Recht der Täter zur Zwangsausübung infrage zu stellen, und es spricht den Tätern darüber hinaus das Recht ab, zu entscheiden, mit welchen Worten ihre Tat beschrieben werden soll".
Ein Beispiel für die normativ gebundene Definition von Gewaltakten aus der jüngeren Vergangenheit, bei dem das Recht auf Zwangsausübung gewissermaßen kollektiv nicht nur infrage gestellt, sondern auch durch gesetzliche Änderungen strafbar wurde, ist die Vergewaltigung in der Ehe. Bis 1997 gab es diese in Deutschland nicht – zumindest nicht als Straftatbestand. Hier tritt die normative, sozialkonstruktivistische Dimension dessen, was Gewalt genannt und entsprechend geahndet werden kann, deutlich zutage: Dieselbe Handlung unterlag erheblich unterschiedlichen Bewertungskriterien, abhängig davon, ob die beteiligten Personen verheiratet waren oder nicht. Erkennbar war hier gerade nicht das Zufügen und Erleiden von Schmerz oder der Zwangscharakter der Gewaltpraxis ausschlaggebend für die Bewertung, jedoch umso mehr der soziale Kontext, in dem sie ausgeübt wurde.
Es bedurfte fast dreier Jahrzehnte gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, rechtspolitischer Debatten, Allianzen von Politikerinnen über Fraktionsgrenzen hinweg und zahlreicher feministischer Interventionen, ehe der Paragraf 177 des Strafgesetzbuchs 1997 reformiert wurde.
Gewalt als soziale Praxis
Sich verändernde Werte und Normen, aber auch der Wandel von Körperbildern haben Einfluss auf das, was kollektiv und individuell als Gewalt verstanden wird. Das wird vor allem dann ersichtlich, wenn man Gewalt als eine Form sozialer Praxis betrachtet, also entlang konkreter Praktiken prüft, in welcher Weise sich räumlich, sozial, zeitlich oder kulturell spezifisches Wissen von Akteuren über ihre Welt in Praxis übersetzt und wie dieses Wissen entsteht. In Praktiken enthalten ist zum einen Wissen darüber, was in bestimmten sozialen Situationen möglich, erlaubt oder verboten ist, sowie zum anderen ein zeitlich spezifisches Verständnis vom Umgang mit Artefakten wie zum Beispiel Waffen oder Gegenständen, die als solche genutzt werden können; hinzu kommt Körperwissen, verstanden als Wissen über den Körper und als Wissen des Körpers.
Ersteres ist mit Blick auf Gewalthandeln insofern interessant, als Gewaltpraktiken immer auch Auskunft darüber geben, welche Arten der Verletzung des Körpers oder des Zufügens von Schmerz Täter kennen und nutzen. Zu diesem Wissensrepertoire gehören Kenntnisse über den eigenen Körper genauso wie über den des Gegenübers, etwa welche Körperteile besonders verletzlich sind oder mit welchen Handlungen welche Formen von Verletzungen einhergehen. Wissen des Körpers hingegen meint verinnerlichtes und somit stets präsentes Wissen darüber, wie eine Praxis im spezifischen Kontext für den Akteur situativ sinnhaft auszuführen ist. Dies umfasst sowohl Bewegungsabläufe als auch die Handhabung von Gegenständen.
Für eine Stärkung der praxeologischen Perspektive in der Soziologie argumentierten Mitte der 1990er Jahre vor allem die Wissenschaftler Trutz von Trotha und Birgitta Nedelmann.
Durch Letzteres wollten sie sich von einem Gewaltverständnis abgrenzen, in dem das Zufügen von Schmerz vor allem als deviantes und daher erklärungsbedürftiges Verhalten gelesen und interpretiert wird. Teils unabhängig von dieser Diskussion, teils von dieser beeinflusst, gewannen in der Soziologie, aber auch in der Geschichtswissenschaft, der Ethnologie, der Kriminologie und anderen Disziplinen seit den 1990er Jahren Forschungsprojekte an Bedeutung, die weniger ausschließlich auf die Ursachen und Vorbedingungen von Gewaltereignissen abstellten, als vielmehr an der konkreten Materialität des Zufügens und Erleidens von Schmerz sowie an den jeweiligen sozialen, politischen und kulturellen Kontexten interessiert waren.
Gewaltbegriffe
Gewaltforscher operieren mit vielen unterschiedlichen Begriffen ihres Untersuchungsgegenstands, die auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind und sich teils überschneiden, teils widersprechen. Diese Vielfalt ist den qualitativ und quantitativ sehr unterschiedlichen Phänomenen geschuldet, die als Gewalt verstanden und analysiert werden.
So werden auch soziale Konstellationen als Gewalt beschrieben, in denen die Gewaltförmigkeit einer Situation, eines sozialen Verhältnisses oder einer sozialen Ordnung nicht unmittelbar auf das Handeln konkreter Personen zurückgeführt werden kann, jedoch gewissermaßen naturgegeben zu sein scheint. Der Begriff der strukturellen Gewalt, den der Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung geprägt hat, die symbolische Gewalt, die der Soziologe Pierre Bourdieu beschrieben hat, sowie der aus der postkolonialen Theorie stammende Begriff der epistemischen Gewalt oder der kürzlich durch den Anglistiker Rob Nixon eingeführte Terminus der slow violence sind sich insofern ähnlich, als sie Phänomene jenseits von körperbezogener Gewalt zu fassen versuchen, die aus dem aus mannigfaltigen Gründen Unhinterfragten einer Gesellschaft resultieren.
Johan Galtung fand für seinen Begriff der strukturellen Gewalt, den er erstmals 1971 vorschlug,
Nixon analysiert Unterwerfungs-, Ausbeutungs- und asymmetrische Machtverhältnisse als Gewalt, die sich über lange Zeiträume hinweg aufbauen und mit der Zerstörung der außermenschlichen Natur im Kontext von sozial-ökologischen Krisen wie etwa dem Klimawandel einhergehen, sowie den Widerstand gegen diese Dynamiken.
Mit epistemischer Gewalt schließlich sind diejenigen gesellschaftlichen (Re-)Produktionsverhältnisse und -mechanismen gemeint, die dazu führen, dass Angehörige sozial marginalisierter Gruppen in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen nicht gehört oder nur als Repräsentantinnen und Repräsentanten der vermeintlich "Anderen" wahrgenommen werden.
Die Vielzahl unterschiedlicher Gewaltbegriffe verweist nicht zuletzt auch darauf, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur konkrete Gewaltereignisse, deren Entstehungskontexte, Ursachen und Folgen analysieren, sondern auch definieren, was als Gewalt bezeichnet werden soll. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sind immer mehr Phänomene zum Korpus dessen hinzugekommen, was zumindest im Forschungskontext als Gewalt definiert wird.
Dies betrifft erstens Phänomene, die aus dem Zwangscharakter sozialer (Herrschafts-)Verhältnisse resultieren, auf die die umrissenen Begriffe abstellen. Etwas als Gewalt zu bezeichnen, bedeutet wie gesagt, es als illegitim zu markieren. Es ist die eindeutig normative, moralische Dimension des Gewaltbegriffs, die dazu führt, dass Vorschläge, soziale Verhältnisse, die sich nicht unmittelbar in Handlungen körperbezogener Gewalt zwischen Personen übersetzen lassen, Gewalt zu nennen, Gefahr laufen, als Skandalisierungsbemühungen gelesen zu werden. So lautete einer der Einwände gegen den Begriff der strukturellen Gewalt, Galtungs Anliegen wäre weniger ein wissenschaftliches als vielmehr ein politisches.
Tatsächlich kann es verlockend sein, im Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit etwas als Gewalt zu bezeichnen, das ohne diese Vokabel vermutlich nicht so leicht Interesse wecken würde. Doch diese Strategie hat ihren Preis: Soziale Verhältnisse, die mit dem Begriff der Gewalt als gewaltförmige soziale Verhältnisse "enttarnt" werden, werden nicht mehr als politische Konflikte divergierender Interessen wahrgenommen – zum Beispiel als Klassenkonflikte oder, um auf Rob Nixon zurückzukommen, als sozial-ökologische Konflikte zwischen den Gesellschaften mit hohem Ressourcen- und Naturverbrauch, die maßgeblich für den Klimawandel verantwortlich sind, und den Gesellschaften, bei denen das weniger der Fall ist. Diese haben jedoch am meisten unter dessen Folgen zu leiden und sind zudem aufgrund ihrer ökonomischen, sozialen und politischen Situation, ihrer (Kolonial-)Geschichte oder ihrer geografischen Lage kaum imstande, sich zur Wehr zu setzen.
Der moralische Gehalt des Gewaltbegriffs hat darüber hinaus das Potenzial, gesellschaftliche Probleme mitsamt dem damit verbundenen Niveau der Konfliktlösung auf die Ebene des individuellen Subjekts zu verlagern.
Zweitens werden in jüngster Zeit auch Handlungen als Gewalt bezeichnet, die sich nicht gegen Menschen, sondern gegen die außermenschliche Natur richten. Ein prominent gewordenes Beispiel ist Gewalt gegen Tiere.
Am Beispiel dieser Forschungsrichtung wird besonders deutlich, in welcher Weise Gewaltforschung selbst vielfach zugleich normativ ist und die Normen und Werte der sie umgebenden Gesellschaft offenlegt – ob bewusst oder als unbeabsichtigte Nebenfolge ist hier unerheblich. Während Tierquälerei strafbar ist und nach dem Tierschutzgesetz das Verletzen oder Misshandeln von Tieren mit Haft- oder Geldstrafen belegt werden kann, gehört die Herstellung von tierischen Produkten, die ohne Gewalt nicht auskommt, zum Bereich dessen, was gesellschaftliche Normalität genannt werden kann. Indem Forscher, die sich mit Mensch-Tier-Verhältnissen beschäftigen, die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Deutungen ähnlicher Handlungsvollzüge zum Thema machen, reflektieren sie über gegensätzliche Wertvorstellungen – etwa vom Hund als Familienmitglied einerseits und vom möglichst bezahlbaren Fleischkonsum andererseits – genauso wie über die Grundlagen gesellschaftlicher Reproduktion und deren historisches Gewordensein.
Fazit
Weshalb der Korpus dessen, womit sich Gewaltforscher auseinandersetzen, beständig umfangreicher zu werden scheint, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Offensichtlich ist jedoch, dass dem Verletzungspotenzial, das vielen Bereichen gesellschaftlicher (Re-)Produktion innewohnt, gegenwärtig mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als jemals zuvor. Vielleicht wird dies befördert von den im Zuge von Globalisierungsprozessen immer länger werdenden Abhängigkeits- sowie Beziehungs- und Wertschöpfungsketten. Vielleicht trägt auch die relative Abwesenheit von großskaliger Gewalt in Deutschland und weiten Teilen Europas in den vergangenen 70 Jahren seit Ende des Zweiten Weltkrieges sowie die stabile Verankerung des Gewaltmonopols in diesen Ländern dazu bei, dass neue Phänomene und Ereignisse des Zufügens und Erleidens von Schmerz auch jenseits physischer Gewalt in den Blick genommen werden.
Außerhalb Europas und jenseits des Globalen Nordens findet sich freilich mehr als genug Untersuchungsmaterial für die "konventionelle" Gewaltforschung. Eine stärkere Berücksichtigung des Globalen Südens würde auch weiter verdeutlichen, dass die beschriebene Stabilität des Nordens zu nicht unerheblichen Teilen durch Instabilitäten, Konflikte und Gewalt in anderen Teilen der Welt ermöglicht wird. Die Externalisierung der sozialen, ökologischen und ökonomischen Kosten für die Lebensweise der Gesellschaften des Globalen Nordens geht mit zahllosen Formen und Praktiken von Gewalt einher.