Die Erwartungen der Öffentlichkeit an die Erklärungsleistungen der Sozialwissenschaften sind vor allem dann hoch, wenn es sich um ein Phänomen wie Gewalt handelt, das in einer weitgehend friedlichen (post)industriellen Gesellschaft gemeinhin als Ausnahme gilt. Welche Art der Erklärung die Gewaltforschung liefern kann, ist aber selbst unter Fachleuten nicht unumstritten. Kann man Gewalt sozialwissenschaftlich überhaupt erklären? Und wenn ja, wie? Zu reflektieren, was Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler tun, wenn sie über Gewalt sprechen oder schreiben, und vor allem, von welchem Standpunkt aus sie dies tun, könnte die Beantwortung dieser Fragen erleichtern.
Soziale Tatsache
Wie der Historiker Richard Bessel jüngst eindrucksvoll gezeigt hat, ist in den sogenannten westlichen Gesellschaften, wo die Menschen in vergleichsweise friedlichen Verhältnissen leben, insbesondere seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Sensibilität gegenüber Gewalt erheblich gestiegen.
Für eine nach Ursachen suchende Gewaltforschung ist dies deshalb von Bedeutung, weil anthropologisch ansetzende Analysen des Gewaltphänomens auf dessen eigentümlichen Doppelcharakter hingewiesen haben: Einerseits sind Gewalt oder zumindest bestimmte Formen von Gewalt in der Regel stark normiert, eingehegt oder gar verboten, weil sie das für zwischenmenschliche Interaktionen grundlegende Vertrauen zu zerstören drohen
Dieser Doppelcharakter lässt vermuten, dass dem Phänomen der Gewalt möglicherweise Eigenschaften innewohnen, die seine Erklärung besonders anspruchsvoll oder schwierig machen. Oft ist Gewalt einem Wissenschaftler nicht direkt zugänglich – welcher Sozialforscher nimmt schon als teilnehmender Beobachter an Kriegen oder Massakern teil? Zudem sind gewaltsame Situationen, sofern nicht organisiert, häufig von sehr kurzer zeitlicher Dauer und damit schwer fassbar.
Also nicht nur die Gewaltforschung steht vor erheblichen Problemen, in anderen Analysefeldern sind diese nicht viel geringer. Was kann es also überhaupt heißen, wenn von der Sozialwissenschaft gefordert wird, Gewalt und andere soziale Tatsachen zu erklären? Nur wenige Forscherinnen und Forscher glauben noch, dass es ihnen gelingen könnte, etwa in Bezug auf das Gewaltphänomen zu Allaussagen à la "immer wenn x, dann Gewalt" zu kommen. Was aber heißt nun erklären, was heißt es, Gewalt zu erklären?
Rückblick
In der Gewaltforschung, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg in verschiedenen Disziplinen etabliert hat,
Die genannten Analysen zeigten freilich nicht mehr auf als bloße Zusammenhänge zwischen aggregierten Datensätzen. Kausale Aussagen waren und sind aus einem solchen Untersuchungsdesign nicht zu gewinnen. Wie genau soziale Ungleichheit oder Segregation Gewalt produzieren, blieb also im Unklaren, zumal selbstverständlich nicht alle Menschen, die in hochgradig ungleichen Gesellschaften leben, auch gewalttätig werden. Hinzu kam, dass mit dieser Forschungsstrategie das eigentlich interessante Phänomen, nämlich die Gewalt, kaum ausgeleuchtet wurde: Man suchte nach den sozialen Hintergründen von Gewaltverhältnissen, die Gewalt selbst aber wurde dabei nicht zum Untersuchungsgegenstand und blieb vielmehr eine Art Blackbox.
Dies war der Ansatzpunkt für die etwa um 1990 aufblühende, oft "phänomenologisch" genannte "neue" Gewaltforschung, die gerade diese Blackbox ausleuchten und einen genauen Blick auf die Gewalthandlungen selbst werfen wollte, ohne dabei militärische oder anderweitig organisierte kollektive Gewalt wie etwa Massaker auszusparen. Darüber, ob mit dieser Strategie immer schon Erklärungsansprüche verbunden sein sollten, bestand bei den hier maßgeblichen Autorinnen und Autoren nicht immer Einigkeit.
In diesem neuen Forschungsstrang wurde eine ganze Reihe von Einsichten gewonnen, hinter die man kaum mehr zurückgehen kann. Mindestens zwei davon sind hervorzuheben: Erstens machte der unverstellte Blick auf das Gewaltgeschehen deutlich, dass mit Ausnahme von Auftragsmord und der industriellen Tötung von Menschen wie im Holocaust eher selten von zweckrationalen und planvollen Überlegungen der Täter auszugehen ist. Der Schritt in die Gewalt hinein ist oft von Zufällen, häufig von Emotionen geprägt, für Täter kann Gewalt im Sinne eines Thrills oder Kicks durchaus auch attraktiv sein. Dieser Gewalt wohnt also kein weiteres Ziel inne, sie wird vielmehr um ihrer selbst Willen ausgeübt. Der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma hat diesbezüglich von "autotelischer Gewalt" gesprochen,
Zweitens arbeitete insbesondere der Soziologe Randall Collins heraus,
Mit diesen beiden keineswegs deckungsgleichen Einsichten ergibt sich ein erhebliches Problem: Wie ist Gewalt zu erklären? Herkömmlicherweise wurden und werden sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in den Sozialwissenschaften (Gewalt-)Handlungen über Motive erklärt: Das Motiv einer Person erklärt seine (späteren) Handlungen, lautet die Prämisse, etwa wenn man fragt, warum Stalin den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt mit Hitler eingegangen ist oder warum ein Angeklagter zu Gewalt gegriffen hat. Freilich haben die soeben genannten Gewaltforscherinnen und -forscher das Ungenügen der Motivanalyse aufgezeigt und damit auf eine in bestimmten Teilen der Soziologie schon länger bekannte Tatsache aufmerksam gemacht: Motive sind, sofern man als Sozialforscher an sie überhaupt herankommt, hochgradig volatil und erhalten ihre vermeintliche Konstanz zumeist erst durch nachträgliche Rationalisierungen; über die tatsächliche Handlungsdynamik geben sie keine Auskunft, und deshalb vermögen sie Handlungen auch nicht wirklich zu erklären.
Kann man Gewalt also überhaupt nicht erklären, sondern allenfalls genau beschreiben, im Hinblick auf die Situation der Gewalt und/oder die unter bestimmten Umständen zu konstatierende autotelische Qualität von Gewalthandlungen?
Vom Warum zum Wie
In der Ethnografie ist schon vor langer Zeit die Auffassung vertreten worden, dass die Beantwortung von Warum-Fragen, die etwa auf Motive zielen, nicht besonders weiterhelfen, jedenfalls wenig erklären. Jack Katz hat dies in einem methodologischen Grundsatztext folgendermaßen auf den Punkt gebracht: "If research subjects can reliably report why they do the things we want to understand, who would need us?"
Katz zufolge zeige sich die Plausibilität dieser Argumentation auch daran, dass sich ursprüngliche, auf Absichten zielende Warum-Fragen im Laufe einer anspruchsvollen ethnografischen Untersuchung ohnehin fast immer in Wie-Fragen transformieren, die sich wiederum nur durch Beschreibung beantworten lassen: Wie sah das Gewaltgeschehen aus? Die Antwort darauf sei letztlich der Zugang, den es zu verfolgen gelte, weil die kontextreiche Analyse sehr viel mehr verständlich mache als kontextlose Hinweise auf abstrakte Strukturen wie Ungleichheit und Segregation oder vermeintlich ursprüngliche Motive der Gewaltakteure. "Erklären" meint in der Sozialwissenschaft und der Gewaltforschung in erster Linie, genau und detailliert zu beschreiben.
Bei der Gewaltanalyse von den Motiven und Absichten der Akteure ganz abzusehen, wäre aber vermutlich eine überzogene Konsequenz. Zwar können Motive sich tatsächlich sehr schnell wandeln oder nachträglich rationalisiert werden, doch heißt das nicht, dass sie deswegen vollkommen zu vernachlässigen wären. Vielmehr werden die Motive nachträglich aus bestimmten individuellen und/oder kulturellen Versatzstücken zum Zwecke der Rationalisierung von Akteuren zurechtgelegt, und diese Versatzstücke sind, ganz gleich in welch unartikulierter Form, immer schon Teil des Handlungskontextes der Akteure gewesen und haben damit in ihrer Brüchigkeit und Unklarheit auch das Gewaltgeschehen beeinflusst. Dies zu bestreiten, würde einer Exotisierung der Gewalt Vorschub leisten. Denn die wenigsten würden ernsthaft bezweifeln, dass es zur Erklärung von menschlichen Handlungen generell durchaus sinnvoll ist, Motive zu berücksichtigen. Welcher Historiker etwa wollte infrage stellen, dass er Stalins Motive beim Zustandekommen des Nichtangriffspaktes mit Hitler zu rekonstruieren habe, auch wenn er immer damit rechnen muss, dass eben jene Motive auf dem langen Weg hin zur Übereinkunft massiv und manchmal auch sehr schnell transformiert worden sein könnten?
Die Gewaltsituation ist vielleicht keine Interaktionssituation wie jede andere, aber eben doch eine Interaktionssituation, für deren Verständnis sich Motive und andere Kontexte nicht völlig ausblenden lassen. Sie gehören zu einer vollständigen Erklärung im Sinne einer Beantwortung von Wie-Fragen zwangsläufig dazu. Nur so ist zu vermeiden, dass sich die phänomenologisch verfahrende Gewaltforschung, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten vorangetrieben wurde, in der Analyse von immer neuen Gewaltphänomenen verliert. Schließlich ist ja der Blickwinkel auf die Gewalt durch den Bezug auf die unmittelbare Situation immer enger geworden, sodass überspitzt gesprochen ein Massaker dem anderen, eine Gewalttat der anderen gleicht, ohne dass es dem Leser solcher oft sehr mikrohistorisch oder -soziologisch verfahrenden Arbeiten noch auffällt, in welche größeren Kontexte diese jeweils untersuchten Gewaltphänomene überhaupt eingebettet waren.
Hin zur Makroperspektive?
Dieses Unbehagen angesichts einer zu stark mikrosoziologischen oder -historischen Fokussierung auf das Gewaltgeschehen war in jüngster Zeit selbst inmitten des phänomenologischen Strangs der Gewaltforschung deutlich zu spüren. Neue Konzepte versprachen daher, sogenannte Makrokontexte wieder stärker in den Blick zu nehmen, ohne dabei die Einsichten der phänomenologischen Gewaltforschung preisgeben zu müssen, wonach die vermeintlich stabilen Motive von Akteuren vergleichsweise wenig zum Verständnis des tatsächlichen Gewaltgeschehens beitragen.
So lag beispielsweise der Einführung des Begriffs des "Gewaltraums" die Beobachtung zugrunde, dass die extreme Massengewalt des 20. Jahrhunderts sich häufig in solchen Gebieten ereignete, in denen der Staat schwach beziehungsweise zerstört war. In Studien wie "Bloodlands" oder "Black Earth" des Historikers Timothy Snyder oder "Räume der Gewalt" des Geschichtswissenschaftlers Jörg Baberowski, die schon im Titel den Raumbezug mit sich führen,
Freilich wird bei derartigen Arbeiten selten wirklich deutlich, was der Raum eigentlich genau erklären soll. Stattdessen scheint das Konzept oft in einer metaphorischen, ja vagen Weise benutzt zu werden, wobei unter der Hand doch wieder Beschreibungen beziehungsweise Erklärungen zum Vorschein kommen, die mit dem Raum wenig zu tun haben, sondern eher auf die Handlungsmöglichkeiten von individuellen oder kollektiven Akteuren in bestimmten Situationen verweisen.
Denn es ist nicht der Raum, der die Massengewalt erklärt, sondern wie im stalinistischen Russland oder in den von Stalin und Hitler gemeinsam beherrschten "Bloodlands" die Handlungen und Unterlassungen eines bestimmten Typus von Verwaltung, die rücksichtslos versucht, ihre Ziele umzusetzen, in einer Situation, in der auch keine anderen Mittel als Gewalt in Betracht gezogen werden (sollen). So entstehen – manchmal ursprünglich gar nicht intendiert, aber eben von manchen Akteuren dann doch forciert – auf einem bestimmten Territorium enorme Gewaltexzesse, werden immer wieder Bedingungen der Gewalt reproduziert, die in dieser Weise zu Beginn vielleicht gar nicht gewollt war. Diese Einsicht ist durchaus wertvoll, aber man braucht hierzu keinen besonders elaborierten Raumbegriff. Es reicht, die situativen Handlungskontexte und die Akteure zu kennen, ohne darüber dem Raum eine besondere kausale Qualität zuschreiben zu müssen.
Gleiches ließe sich auch gegenüber dem viel diskutierten Versuch des Soziologen Stefan Kühl einwenden, für die Erklärung des Holocaust Organisationen ins Spiel zu bringen.
Fazit
Die Erklärung von Gewalt ist also ein durchaus schwieriges Geschäft, allerdings auch keines, das sich von der Erklärung anderer sozialer Phänomene grundsätzlich unterscheidet. Völlig neuartige methodische oder theoretische Zugänge zur Analyse von Gewalt sind deshalb weder notwendig noch hilfreich, weil dies einer Exotisierung des Gewaltgeschehens und damit der angesprochenen Gewaltobsession in modernen "westlichen" Gesellschaften Vorschub leisten dürfte. Die ethnografische Ausleuchtung des Kontextes des Gewaltgeschehens, also die Beantwortung von Wie-Fragen, ist oft die bessere Erklärung als jene, die bei der Beantwortung von Warum-Fragen zu sehr auf kontextarme, aber spektakulär und modisch klingende Verallgemeinerungen setzt. Dabei wird man weder von Absichten und Motiven der Akteure noch von "größeren" Kontexten wie Organisationen völlig absehen können, selbst wenn in der jüngeren Fachdiskussion deutlich geworden sein sollte, dass die unmittelbare Situation noch am meisten Aufschluss über das Gewaltgeschehen zu geben vermag.
Ob damit das eingangs erwähnte Bedürfnis der Öffentlichkeit nach umfassenden und gar auf "Lösungen" zielenden Erklärungen von Gewalt befriedigt werden kann, ist natürlich eine andere Frage. Aber den Sozialwissenschaften wie der Geschichtswissenschaft würde es sicherlich gut anstehen, zuallererst den eigenen und zu Recht bescheidenen Erklärungsansprüchen zu genügen.