Wer Köln besucht, am Hauptbahnhof ankommt und sich auf den Fußweg in Richtung Rhein macht, wird recht schnell mit dem Unvermögen Kölner Kommunalpolitik konfrontiert. Freundliche Wachleute weisen auf einem Platz vor der Philharmonie engagiert darauf hin, dass man doch bitte einen Umweg gehen solle. Während der Konzerte ist das Betreten oder gar Befahren des Areals streng verboten. Der Grund dafür ist, dass in dem unterirdischen Konzertsaal störende Geräusche entstehen können. Die Stadt Köln gibt seit 1999 jedes Jahr hohe Summen für diesen eigentümlich anmutenden Wachdienst aus. Allein im Jahr 2016 waren es rund 200.000 Euro. Architektonisch ist der Platz mit seiner Lärmempfindlichkeit eine veritable Fehlplanung. Diese politische Minderleistung ist bei Weitem nicht die einzige, die in den vergangenen Jahren im Kölner Rathaus vollbracht wurde. Dass der bundesweit belächelte Platz mit seinen aus Steuergeldern teuer bezahlten Wachleuten ausgerechnet nach Heinrich Böll benannt ist, beweist unfreiwillige Komik.
Der 1985 verstorbene Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll war Kölner Ehrenbürger, er ging mit seiner Heimatstadt aber immer wieder hart ins Gericht: "Köln hat sich eigentlich immer unernst durch die Geschichte geschlängelt, was den Klerus betraf, was die Politik betraf, was das Kaiserreich betraf."
Gnadenloses Gottvertrauen
Die zuweilen an Gleichgültigkeit grenzende Grundhaltung der Kölnerinnen und Kölner kommt unter anderem im "Kölschen Grundgesetz" zum Ausdruck, das als halb ernst gemeinte Lebensbeschreibung kursiert: "Et kütt wie et kütt" ("Es kommt, wie es kommt."), heißt es da; aber auch: "Et hätt noch emmer joot jejange" ("Es ist bisher noch immer gut gegangen.") Im überwiegend katholischen Köln stehen solche Lebensweisheiten für ein gnadenloses Gottvertrauen. Man verlässt sich auf die unsichtbare, ordnende Hand und lehnt empirisch vorhandene Autoritäten kirchlicher wie weltlicher Art grundsätzlich ab. Im politischen System, das kollektiv-verbindliche Entscheidungen herbeiführen soll, ist das nicht immer eine gute Handlungs-Richtschnur.
Die Stadt Köln präsentiert sich selbst gern als lebens- und liebenswert: "Kölle du bes e Jeföhl" ("Köln du bist ein Gefühl") – dies ist einer der wichtigsten Sprüche, mit denen geworben wird. Am liebsten lächelt man Fehler einfach weg. Manchmal aber ist das kaum noch möglich. Zu häufig und zu drastisch sind die Verfehlungen, die bundesweit Schlagzeilen machen. Ein Ereignis, das die sonst so sorgenlose Stadtgeschichte besonders negativ überschattet, war der Einsturz des Historischen Archivs im März 2009. Es steht symptomatisch für die organisierte Verantwortungslosigkeit Kölner Stadtpolitik.
Bei Bauarbeiten für eine neue U-Bahn im Süden der Kölner Innenstadt hatte es immer wieder Unregelmäßigkeiten gegeben. Die aber wurden von den Verantwortlichen kaum ernst genommen. Überhaupt waren die Zuständigkeiten unübersichtlich geordnet. Nicht das Amt für Brücken- und Stadtbahnbau hatte die Realisierung des Projekts übernommen, sondern es war an die Kölner Verkehrs-Betriebe übertragen worden. Die städtische Tochterfirma wiederum kontrollierte die bauausführenden Firmen und letztlich sich selbst faktisch allein. Die kenntnisreichen Verantwortlichen im Rathaus waren nur noch Zaungäste bei ihrem ehrgeizigen Bauvorhaben. Die Politik hatte das so entschieden.
Schon vor dem Unglück hatte es Auffälligkeiten gegeben: Die zuvor veranschlagten Kosten für den U-Bahn-Bau liefen aus dem Ruder, aufgrund baulicher Probleme stellte sich ein Kirchturm schief, im Stadtarchiv klagten Mitarbeiter über Risse in den Wänden. Die Schwierigkeiten wurden von den Verantwortlichen aber stets als irrelevant dargestellt. Das änderte sich mit dem Archiveinsturz am frühen Nachmittag des 3. März 2009. Wie ein Kartenhaus fiel das monströse Gebäude zusammen. Im bereits ausgehobenen Tunnel für die neue U-Bahn füllte sich ein Krater mit Trümmern und wertvollen Archivalien. Ein Nachbarhaus wurde mit in die Tiefe gerissen, zwei Menschen verloren dabei ihr Leben. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen wegen des Verdachts der Baugefährdung und der fahrlässigen Tötung auf. Die Nachforschungen zur Ursache des Unglücks sollten sich etliche Jahre hinziehen. Keiner wollte mehr für den verheerenden Skandalbau verantwortlich sein. Experten redeten angesichts des Einsturzes von einem bedauerlichen Naturereignis, was andere Fachleute infrage stellten. Der damalige Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU) warf die Frage auf, ob es nicht generell zu unsicher sei, in belebten Innenstädten U-Bahnen zu bauen.
Traditionsreiche Verweigerungshaltung
In diesem weltweit beachteten Fall wurden zahlreiche Warnsignale übersehen. Wie so häufig wurden die Hinweise als lästige Unterstellungen kritischer Bürgerinnen und Bürger abgetan. Ein solches Verhalten der gewählten oder ernannten Volksvertreter im Stadtrat und in den Amtsstuben hat in Köln eine gewisse Tradition. Allzu häufig wurden kritische Stimmen ausgeblendet, und es ging entgegen dem "Kölschen Grundgesetz" fortan nicht gut. So wurde 1998 im Norden der Stadt eine damals überdimensionierte Müllverbrennungsanlage errichtet. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass Schwarzgelder unter anderem an die seinerzeit im Stadtrat einflussreiche SPD geflossen waren. Mit Kölscher Gewitztheit versuchten sich die Genossen immerhin formal abzusichern: Die Schmiergelder wurden erst nach der Auftragsvergabe gezahlt, als sogenannte Dankeschön-Spenden. Auf diese Weise fühlte man sich auf der sicheren Seite. Es sollte auch hier etliche Jahre dauern, bis der Skandal aufgeklärt war. Ein Teil der Schwarzgelder ist bis heute nicht wieder aufgetaucht.
Auch sonst ist die jüngere politische Stadthistorie Kölns eine Reihe veritabler Skandalgeschichten: Stimmzettel zur Kommunalwahl wurden falsch gedruckt, später wurden sie falsch ausgezählt. Großprojekte wie eine gigantische Freitreppe am Rhein oder eine Hubschrauberstation am sogenannten Kalkberg waren fehlerbehaftet und wurden viel teurer als ursprünglich geplant. Prestigeträchtige Bauprojekte wickelte die Stadt Köln in dubioser Weise mit einem umstrittenen, privaten Immobilienfonds ab, was letztlich sogar die Wettbewerbshüter der Europäischen Kommission auf den Plan rief. Und die Sanierung des Opernhauses kann sich unterdessen fast mit dem Chaos um den Neubau des Berliner Flughafens oder um die Elbphilharmonie in Hamburg messen. Der Eröffnungstermin der Kulturstätte musste mehrfach verschoben werden, weil Unregelmäßigkeiten bei den Bauarbeiten lange Zeit nicht ernst genug genommen wurden. Obwohl große Reiseveranstalter die Neueröffnung der Oper längst groß in ihren Katalogen angepriesen hatten, müssen die Besucherinnen und Besucher noch lange Zeit mit Provisorien vorlieb nehmen. Die zuständige Kölner Kulturdezernentin Susanne Laugwitz-Aulbach lehnte es in einer Pressekonferenz im August 2016 ab, dafür politisch gerade zu stehen. Sie habe ja schließlich nicht den "Oberverantwortungshut" auf, ließ sie das staunende Publikum wissen. Der damalige Chefredakteur des "Kölner Stadt-Anzeigers", Peter Pauls, quittierte das in einem Leitartikel mit einer Generalabrechnung über die Kölner Kommunalverwaltung: "Wer es je einmal mit Baugenehmigungen oder Bauabnahmen zu tun hatte, der fragt sich: Wo waren Kontrollen und Kontrolleure in all den Jahren?"
Immerhin waren nach Bekanntwerden mehrerer Korruptionsfälle im Kölner Rathaus in den 1990er Jahren erstmals strenge Kontrollen eingeführt worden. Unter anderem wurde eine "mobile Prüfgruppe" beim städtischen Rechnungsprüfungsamt gegründet, die auch ohne Anfangsverdacht Baustellen überprüfte. Aus Kostengründen wurden die Maßnahmen aber später wieder weitgehend zurückgenommen, die ambitionierte Prüfgruppe gibt es in der Form längst nicht mehr. Der Verdacht drängt sich auf, dass Köln aus seinen Fehlern gar nicht lernen will. Was außerhalb der Stadt mit genervtem Augenrollen zur Kenntnis genommen wird, sieht man in Köln stets als peinliches Missgeschick, als Einfluss von außen, als lässliche Sünde: "Et hätt noch emmer joot jejange."
Die Leichtigkeit des politischen Seins und Handelns, die in solchen Äußerungen zum Ausdruck kommt, entspricht dem "Durchschlängeln", wie es Heinrich Böll beschrieben hat. Wer nach Erklärungen für die Fehlleistungen sucht, wird kaum ernst genommen, wird belächelt. Als Grund wird oft die Kompliziertheit der Prozesse angeführt. Hoch im Kurs der Rechtfertigungsstrategien sind auch die wenig sachgerechte Einflussnahme politischer Mandatsträger, die mangelnde Kompetenz der Stadtverwaltung oder der "Klüngel" im Rathaus.
Klüngel als Rechtfertigung
Was die Kölnerinnen und Kölner unter diesem Begriff des Klüngels verstehen, erschließt sich Außenstehenden meist nicht. In der Außenwahrnehmung wird diese Geisteshaltung häufig einseitig auf Korruption reduziert. Damit hat man in der Kölner Stadtpolitik jede Menge Erfahrung, das ist unbestritten. Aber Klüngel ist mehr als kriminelles oder illegitimes Handeln.
Der Vorteil solcher Beziehungen ist auch heute noch, dass sie zunächst völlig unverbindlich sind. Die spontane Freundlichkeit der Kölnerinnen und Kölner wird von Zugereisten gerne mit schnell geknüpfter Freundschaft verwechselt. Tatsächlich aber bedarf es vielfältiger Bewährungsproben, bis der Klüngel zu einem tragfähigen gegenseitigen Austausch führt. Auf der unverbindlichen Ebene der situativen Kooperation kann man sich schätzen und einschätzen lernen. Wo das gelingt, werden Netzwerke gebildet. Solche Verbindungen findet man in der Kölner Stadtgesellschaft und -politik zuhauf, sie werden durchweg als positiv wahrgenommen und sind mehr oder weniger offen. Von manchen dieser Netzwerke weiß die Öffentlichkeit, andere schotten sich Außenstehenden gegenüber gezielt ab. Bei Letzteren wird häufig die Grenze zwischen legitimer Zusammenarbeit und handfester Korruption überschritten. Nicht jede dieser Verhaltensweisen ist dann gleich strafbar.
Die Rechtfertigungsfolie für vorsätzlich kriminelles Handeln wird dann aber aus den nicht korruptiven Ebenen des Klüngels hergeleitet. "Wir tun es ja nur für Köln", lautet einer der Sprüche, die man auf den Rathausfluren häufig hört. Das Netz des Gebens und Nehmens zum Wohle aller wurde von Konrad Adenauer einst mit der Formel "Man kennt sich, man hilft sich" beschrieben. Der erste deutsche Bundeskanzler musste es wissen, denn er war im Herbst 1917 zum Oberbürgermeister von Köln gewählt worden. Als solcher arrangierte sich Adenauer 1918 mit den Revolutionsräten, indem er ihnen Büros zur Verfügung stellte. "Eine Hand wäscht die andere", bringt der Volksmund derart gewitzte Beziehungskonstruktionen auf den Punkt. Freilich verdrängen die Kölnerinnen und Kölner gerne, dass das Bild zuweilen durch den Hinweis ergänzt werden muss, dass dabei jede weitere Hand ungewaschen bleibt. Wer nicht zum Klüngel zählt, wurde und wird in der Kommunalpolitik meist nicht berücksichtigt. Etwas Schlechtes daran können oder wollen manche in Politik und Verwaltung bis heute nicht erkennen.
Nicht umsonst aber wird Korruption vom Bundeskriminalamt als "opferloses Delikt" bezeichnet: Beide oder alle Beteiligten sind Täterinnen oder Täter, die Kosten für den Verrat tragen die Menschen im Allgemeinen: Entweder indem sie überhöhte Preise für Produkte bezahlen oder indem ihre Steuergelder verschwendet werden. Neben dem Vorsatz dieses negativen Klüngels gibt es aber auch die Nachlässigkeit, die ebenfalls abweichendes Verhalten fördert. Die Folge beider Strategien ist unaufrichtige Politik, die sich nicht mehr an den Bürgerinnen und Bürgern orientiert, sondern zum Selbstzweck mutiert. Diese Spielarten des von Heinrich Böll attestierten Unernst kommen den Kölnerinnen und Kölnern teuer zu stehen.
Bevor Heinrich Böll zum erfolgreichen Schriftsteller wurde, hatte er zeitweise auch für die Kölner Stadtverwaltung gearbeitet. Er war auf Zeit angestellt, um bei einer Volks- und Gebäudezählung zu helfen. Wahrscheinlich sind es auch die dort gesammelten Erfahrungen, die ihn später zu einer distanziert-kritischen Haltung gegenüber Mächtigen in Köln führte: "Denn die Kölner haben ja auch was Mies-Arrogantes, fühlen sich aus irgendeinem Grunde jedem überlegen. Ich weiß bis heute nicht, wieso eigentlich. Wenn man in Köln geboren ist, ist das ein Adelstitel? Oder was? Aber es gibt diese kölsche Arroganz, die mich immer gestört hat, die mir immer widerwärtig war."
Diese konsequente Missachtung sozialer Regeln tritt nur selten zutage, insbesondere aber eben dort, wo sich Netzwerke verfestigen, nach außen abschotten und nur noch an das gegenseitige Wohl denken. Das gilt nicht bloß für "Ur-Kölner", sondern längst auch für diejenigen, die im Dialekt als "Imis" bezeichnet werden – also imitierte Kölner, die nicht ursprünglich aus Köln stammen. Im Kölner Rathaus kann man solche negativen Netzwerke traditionell beobachten. Immer wieder sprechen Beobachter davon, dass einflussreiche Posten bei der Stadtverwaltung nicht nach Qualifikation, sondern nach Parteibuch vergeben werden. Diese Art der Vetternwirtschaft sorgte über die Jahre für ein politisches Eigenleben, das sich zunehmend von den Bürgerinnen und Bürgern entfernte.
Immerwährende Pannenserien
Mal gefällt sich die Kölner Stadtpolitik darin, Korruption kleinzureden; mal werden Fehler heruntergespielt, dem ewigen Motto folgend, dass doch am Ende immer noch alles gut gegangen sei. Die immerwährenden Pannenserien im Kölner Rathaus jedoch sprechen deutlich dagegen. Dass man die Zukunft ernsthaft in die eigene Hand nehmen kann und muss, wurde für viele in der Stadtgesellschaft spätestens mit dem Einsturz des Historischen Archivs klar. Neben dem Tod zweier Menschen sorgte auch für Bestürzung, dass tonnenweise Zeugnisse des Kölner Lebens verschüttet wurden. Die Dokumente wurden zum Teil zerstört, andere müssen jahrelang und mit hohem finanziellen Aufwand restauriert werden. Alle Parteien versprachen nach diesem Unglück, Verantwortlichkeiten in der Kölner Kommunalpolitik klarer zu definieren.
Bereits 1999 hatte der nordrhein-westfälische Landtag prinzipiell die Weichen dafür gestellt. Die Gemeindeordnung wurde geändert, sodass die bisherige "Doppelspitze" der Kommunen an Rhein und Ruhr abgeschafft wurde. Bis dato hatten Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister ausschließlich repräsentative Aufgaben, die Oberstadtdirektorinnen und Oberstadtdirektoren leiteten die Verwaltung. Beide wurden von den Politikerinnen und Politikern im Stadtrat gewählt. Mit der neuen Gemeindeordnung wurden Verwaltungsleitung und Repräsentation im Amt des Oberbürgermeisters vereint. Außerdem wurde fortan das Stadtoberhaupt direkt von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt.
Harry Blum (CDU) war der erste Oberbürgermeister "neuen Typs", er starb aber im März 2000 nach wenigen Monaten Amtszeit. Ihm folgte der Lateinlehrer Fritz Schramma (CDU) nach, der im Zuge des Archiveinsturzes auf eine erneute Kandidatur verzichtete. Mithilfe von Sozialdemokraten und Grünen wurde im Oktober 2009 der ehemalige Kölner Polizei- und Regierungspräsident Jürgen Roters (SPD) gewählt. Im Herbst 2015 setzte sich bei einer Wahl mit äußerst geringer Beteiligung die parteilose Henriette Reker gegen SPD-Kandidat Jochen Ott durch. Die frühere Sozialdezernentin der Stadt Köln war unter anderem von CDU, Grünen und FDP unterstützt worden.
Wie ihre Vorgänger als hauptamtliche Oberbürgermeister warb Reker im Wahlkampf energisch dafür, den negativen Klüngel im Rathaus zu beenden. Mit der Personalplanung nach Parteibuch sollte Schluss sein, Qualifikation sollte das einzig entscheidende Kriterium bei der Neubesetzung von Stellen sein. Zur moderneren Gestaltung der Verwaltung hat Reker zu Beginn ihrer Amtszeit eine Kommission eingesetzt. Sie fühlt sich nach eigenen Angaben weitgehend unabhängig von den politischen Parteien, die sie im Wahlkampf unterstützt haben. Sie will bewusst den "Oberverantwortungshut" aufziehen, der von anderen so vehement abgewehrt wird. Sie sieht sich eher als Moderatorin, auch wenn sie weiß, dass sie auf Mehrheiten im Stadtrat angewiesen ist. Die Direktwahl gibt ihr ein hohes Maß an formaler Legitimation, und die längst erfolgte Zusammenlegung von repräsentativer und administrativer Macht hebt ihre Position besonders hervor.
400 Euro im Monat
Gleichwohl fühlen sich manche Mitglieder des Kölner Stadtrates überfordert mit den zahlreichen Entscheidungen, die von ihnen im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung getroffen werden müssen. Die Unterlagen, die pro Ratssitzung zu lesen, zu verstehen, zu diskutieren und abzustimmen sind, ergeben ausgedruckt einen Stapel, der meist so stark ist wie zwei Kölner Telefonbücher. Die Millionenstadt wird von 90 Politikerinnen und Politikern gelenkt, die ihre Aufgabe im Stadtrat ehrenamtlich wahrnehmen. Etwas mehr als 400 Euro monatlich erhalten sie für ihre umfassende Tätigkeit. Einen Teil der Gelder müssen die meisten an ihre Parteien abgeben. Viele Politikerinnen und Politiker in Köln halten das für ungerecht. Andere Metropolen dieser Größenordnung in Deutschland würden deutlich höhere Entschädigungen zahlen, heißt es. In den Stadtstaaten Bremen oder Hamburg würden die Volksvertreter sogar als Abgeordnete bezahlt. Hinzu komme, dass es auf kommunaler Ebene keine Erstattung der Wahlkampfkosten an die Parteien gibt. Vorstöße im nordrhein-westfälischen Landtag zur Erhöhung der Zahlungen an Kölner Ratsmitglieder blieben bisher aber stets erfolglos: Die Hoffnung, mit einer besseren Bezahlung eine professionellere Ratsarbeit in Köln zu bekommen, überzeugte im Düsseldorfer Parlament nicht.
Überhaupt sind Veränderungen im Kölner Rathaus selten, und sie brauchen viel Zeit. Traditionen werden hochgehalten, Gewohnheiten bestimmen das politische Geschäft – und auch die Einstellung der Wählerinnen und Wähler. Als bei der ersten Wahl eines hauptamtlichen Oberbürgermeisters 1999 der SPD-Kandidat Klaus Heugel wegen illegaler Aktiengeschäfte zurücktreten musste, konnte die Partei so kurzfristig keinen neuen Bewerber aufstellen. Zwar war öffentlich hinreichend bekannt, dass ein Votum für Heugel eine verschenkte Stimme war – trotzdem entschieden sich immerhin noch 41572 Kölnerinnen und Kölner für ihn, das waren 12,9 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Nach dem Spendenskandal um die Müllverbrennungsanlage war das Grundvertrauen in die Sozialdemokraten als meist stärkste und bestimmende Kraft im Rathaus dann doch erschüttert. Die Partei stellte sich neu auf, und auch die örtliche CDU musste sich mit einer Spendenaffäre herumschlagen. Im Kölner Stadtrat probierten die Fraktionen verschiedene Konstellationen für ihre "Koalitionen". So war Köln eine der ersten Städte, in denen es ein schwarz-grünes Bündnis gab. Stabil konnte sich aber letztlich keine Konstellation auf Dauer halten. Dabei sieht die Gemeindeordnung in Nordrhein-Westfalen überhaupt keine Koalitionen vor. Ein Gegeneinander von Regierung und Opposition soll es an Rhein und Ruhr theoretisch nicht geben. Im Mittelpunkt kommunaler Politik soll die von Parteien unabhängige Suche nach dem besten gemeinsamen Weg stehen. In Köln hat das noch nie gegolten. Weil die Domstadt überregional beachtet wird, ist es den Parteistrategen stets wichtig gewesen, ihrer politischen Färbung zur deutlich sichtbaren Macht zu verhelfen. Erst mit der Wahl Rekers an die Stadtspitze sollte sich das ändern. Kritiker, vor allem aus der örtlichen SPD, bemängeln jedoch, dass eine ernsthafte Veränderung kaum erkennbar sei.
Reker will den Neustart
Das liegt auch daran, dass der Beginn von Rekers Amtszeit unter keinem guten Stern stand. Am Tag vor der Wahl wurde sie bei einem Messerattentat lebensgefährlich verletzt. Der mutmaßliche Täter soll Reker, die zuvor als Kölner Sozialdezernentin für die Unterbringung von Geflüchteten zuständig war, wegen ihrer liberalen Flüchtlingspolitik angegriffen haben. Als sie von den Kölnerinnen und Kölnern im ersten Wahlgang mit deutlichem Vorsprung zur Oberbürgermeisterin gewählt wurde, lag sie im künstlichen Koma. Ihr Amt konnte sie nach der Genesung erst mit einigen Wochen Verzögerung annehmen. Sodann folgte die Silvesternacht 2015/16, bei der es massenweise Gewalttaten rund um Dom und Hauptbahnhof gab und sich die Sicherheitskräfte von Polizei und Ordnungsamt weitgehend überfordert zeigten. Reker musste als Krisenmanagerin wirken und konnte sich kaum auf die angekündigte Neuordnung der Stadtverwaltung konzentrieren.
Hinzu kommt, dass die Stadt Köln seit Jahren über ihre Verhältnisse gelebt hat. Die verschiedenen Skandale haben ihre finanziellen Spuren hinterlassen, die verkorkste Stadtpolitik hat tiefe Löcher in den Etat gerissen. Viel Spielraum für Innovationen und Investitionen gibt es nicht mehr, die Verwaltung arbeitet unter "vorläufiger Haushaltsführung", muss also jede Ausgabe penibel rechtfertigen. Dieser Sparzwang bereitet zumindest theoretisch einen fruchtbaren Boden für die neue Ernsthaftigkeit, die sich Reker auf die Fahnen geschrieben hat. Beim "Aufräumen" im Kölner Rathaus kommt ihr ein weiterer geistiger Wesenszug der Kölnerinnen und Kölner entgegen: "Wat fott es, es fott", was sinngemäß übersetzt bedeutet: "Trauere den Dingen nicht nach!"
Die Vergesslichkeit ist gerade bei (politischen) Sünden eine bestens eingeübte Haltung in der Stadt, die von Karneval und katholischer Kirche dominiert wird. Zum Ende einer ausgelassen gefeierten Karnevalszeit wird traditionell am Aschermittwoch vor zahllosen Gaststätten der "Nubbel" verbrannt. Die mit Kleidung angezogene Strohpuppe wird von den Zeremonienmeistern wortreich für die Verfehlungen verantwortlich gemacht, die im bunten Treiben begangen wurden. Mit der Entsorgung der Symbolfigur soll dann alles vergessen und vergeben sein. Ähnlich wird die Gelegenheit zur Beichte im Kölner Dom und in den vielen anderen Kirchen der Stadt wahrgenommen. Auch ohne den Aspekt der Religiosität wird die pauschale Selbst-Entschuldigung von allen Bevölkerungsschichten Kölns gern geübt. Eine Bereitschaft zur grundsätzlichen Verhaltensänderung ist damit freilich nicht verbunden. "In der Regel reagieren Kölner mit Schulterzucken auf (solche) Skandale", beschreibt Gerd Kolbe in der "Neuen Zürcher Zeitung" dieses Ansinnen, das aber spätestens seit den gewalttätigen Übergriffen der Silvesternacht nicht mehr angebracht sei: "Inzwischen aber ist das Selbstbewusstsein angeknackst."
Ob es Henriette Reker gelingen wird, der Stadtverwaltung und letztlich auch der Kommunalpolitik in Köln ihren Unernst auszutreiben und das Durchschlängeln einzudämmen, ist gut ein Jahr nach ihrem Amtsantritt noch nicht abzusehen. Die Beharrungskräfte im Rathaus sind groß. Kölnerinnen und Kölner geben lieb gewonnene Traditionen nicht gerne auf. Heinrich Böll, der große Sohn der Stadt am Rhein, brachte dies präzise auf den Punkt: "Auch die Vorstellung, das Leben sei so tödlich ernst, wie es manchmal aussieht, wird von ihnen widerlegt, und außerdem (ich hoffe, dass die Stadtverwaltung es nie erfährt) bestehen sie, falls man kein Geld mithaben sollte, nicht unbedingt darauf, dass man bezahlt: man kann mit ihnen reden: überhaupt lassen die Kölner mit sich reden: sie sind die am wenigsten fanatische Rasse, die ich kenne."
Die aus Steuergeldern teuer bezahlten Wachleute am Heinrich-Böll-Platz dagegen lassen nach wie vor nicht mit sich reden: Um einen unumwundenen Konzertgenuss im unterirdischen Konzertsaal der Philharmonie zu garantieren, weisen sie nach 17 Jahren auch weiterhin gnadenlos Skater, Radfahrer und Spaziergänger ab. Das hat in Köln quasi schon Tradition, und Traditionen werden hier eben groß geschrieben: Auch wenn sie die eigene kommunalpolitische Unfähigkeit demonstrieren.