Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts vermehrten sich die Anzeichen dafür, dass die religiösen Traditionen und Bewegungen nach wie vor höchst lebendig sind und ungebrochen große politische und gesellschaftliche Bedeutung haben.
Lange Zeit schien es so, als gingen diese Entwicklungen und Debatten an dem vom lateinischen Christentum geprägten Europa, dem weitgehend säkularisierten und religiös befriedeten Kontinent, vorüber.
Veränderung der religiösen Landschaft
Es liegt zunächst nahe, diese Ursachen in den grundlegenden Veränderungen der religiösen Landschaft in Europa seit den 1960er Jahren zu suchen. Europa war auch während des Mittelalters trotz der Dominanz des lateinischen Christentums durch religiöse Vielfalt geprägt.
Seit den 1960er Jahren haben sich diese Muster jedoch grundlegend verändert. Sowohl die Zahl der religiösen Traditionen als auch ihre Unterschiedlichkeit haben in einem historisch unbekannten Maße zugenommen.
Erstens hat in der Bundesrepublik die (Arbeits-)Migration seit den 1960er Jahren, verstärkt durch die Effekte von Flucht und Vertreibung seit den 1990er Jahren, dazu geführt, dass der intern ausgesprochen vielgestaltige Islam neben den beiden großen christlichen Kirchen zur drittgrößten religiösen Tradition avanciert ist.
Zweitens hat durch die sich ebenfalls seit den 1960er Jahren verstärkenden Prozesse der Entkirchlichung auch die Zahl der Konfessionslosen erheblich zugenommen. Durch die Vereinigung der Bundesrepublik mit der weitgehend entchristlichten DDR ist die Gruppe der Konfessionslosen noch einmal deutlich gewachsen. Sie bilden inzwischen die größte religionspolitische Gruppe.
Drittens haben die nachlassende Prägekraft konfessioneller Traditionen und kirchlicher Autoritäten, ein wachsender religiöser Analphabetismus und die zunehmende Praxis, Elemente unterschiedlicher religiöser Traditionen miteinander zu kombinieren,
Viertens haben auch die verstärkte mediale Präsenz bisher unbekannter oder neuer religiöser Angebote aus anderen Teilen der Welt, aber auch die Entstehung transnationaler religiöser Identitäten und Bewegungen die Pluralisierung der religiösen Landschaft vorangetrieben.
Die grundlegende Veränderung der religiösen Landschaft schlägt sich auch in einem Wandel der zahlenmäßigen Verhältnisse zwischen den Religionsgemeinschaften nieder: Waren in den 1950er Jahren noch über 95 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung Mitglied der beiden großen christlichen Kirchen, so hat sich bis Ende 2015 ihr Anteil auf knapp 57 Prozent reduziert. Der Anteil der Konfessionslosen lag 2010 bereits bei 30 Prozent und ist seitdem weiter gestiegen; in Ostdeutschland beträgt ihr Anteil sogar über 70 Prozent. Zum Islam bekennen sich etwa fünf Prozent. Jeweils knapp zwei Prozent der Bevölkerung zählten 2010 zu den Mitgliedern der orthodoxen Kirche und der christlichen Freikirchen. Zum Buddhismus bekannten sich 0,3 Prozent der Bevölkerung, zum Hinduismus 0,1 Prozent und ebenfalls 0,1 Prozent waren Mitglieder jüdischer Gemeinden.
Religiöse Vielfalt als Konfliktpotenzial?
Allerdings gehen religiöse Pluralität und Diversität weder notwendig noch regelmäßig mit Konflikten einher.
Religiöse Traditionen, die absolute, exklusive oder überlegene Wahrheitsansprüche reklamieren und diesen universale Geltung verschaffen wollen, können religiöse Differenz als Ausdruck eines Irrtums betrachten, der das "Seelenheil" der Gläubigen oder gar aller Menschen gefährdet. Religiöse Hierarchien wie auch Gruppen innerhalb solcher religiösen Traditionen können sich dann dazu genötigt sehen, religiöse Unterschiede innerhalb wie außerhalb der eigenen Tradition zu beseitigen, gegebenenfalls auch unter Anwendung von Gewalt. Besonders problematisch ist eine solche Konstellation, wenn es derartigen religiösen Akteuren gelingt, auf Instrumente und Akteure politischer Herrschaft zurückzugreifen. Umgekehrt kann religiöse Vielfalt auch dann zu einem Problem werden, wenn einzelne religiöse Traditionen als Mittel zur Erzeugung der Identität oder gar Homogenität politischer Gemeinwesen genutzt werden. Die religionspolitischen Konflikte der Frühen Neuzeit sind tendenziell Ausdruck der ersten Konstellation, die Konfessionalisierungspolitiken im Zuge der Staatenbildungsprozesse der Frühen Neuzeit wie die vielfach zu beobachtende starke Verknüpfung von Religion und Nation in den Prozessen der Nationalstaatsbildung des 19. Jahrhunderts Beispiele für die zweite Konstellation.
Nun haben die in Europa dominierenden Kirchen sich trotz der von ihnen zum Teil bis heute verfochtenen Absolutheit, Exklusivität oder Überlegenheit ihrer Wahrheitsansprüche in langen Lernprozessen auf religiöse Pluralität eingestellt. Im Falle der katholischen Kirche fand dieser Lernprozess erst mit der auf dem zweiten Vatikanischen Konzil am 7. Dezember 1965 verkündeten Erklärung zur Religionsfreiheit einen Abschluss.
Konfliktursachen und -bedingungen
Die Vielzahl religionspolitischer Probleme und Konflikte bedarf anderer Erklärungen als des bloßen Verweises auf den Anstieg religiöser Pluralität und Diversität, insbesondere mit Blick auf die große Skepsis gegenüber dem Islam in Deutschland.
Unterschiedliche Adaptionsfähigkeiten
Unter der Bedingung des Vorrangs der Prinzipien gleicher Religionsfreiheit, staatlicher Neutralität und der wechselseitigen Autonomie von Staat und Kirche lassen sich unterschiedliche religionspolitische Ordnungssysteme einrichten: mehr oder weniger strikte Regime der Trennung sowie Systeme der Kooperation von Staat und Kirche; auch Staatskirchensysteme sind nicht völlig unvereinbar mit diesen drei Prinzipien – in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen institutionellen Ausgestaltung. Diese verschiedenen Systeme zeichnen sich durch eine unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit zum Umgang mit religiöser Pluralität und Diversität aus.
Staatskirchensysteme gewähren heute zwar durchgängig ein hohes Maß an Religionsfreiheit. Die in ihnen verankerte symbolische und materielle Bevorzugung einer religiösen Tradition richtet jedoch vielfach hohe Hürden für eine gleichberechtigte Integration minoritärer und neuer Religionsgemeinschaften auf. Entsprechend ist ihre Fähigkeit zur Anpassung an religiöse Vielfalt höchst begrenzt.
Das religionspolitische System der USA, das auf einer freundlichen Trennung von Staat und Kirche beruht,
Eine deutlich geringere Adaptionsfähigkeit an religiöse Vielfalt weist dagegen das ausgesprochen strikte, auf die Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Raum zielende Trennungssystem Frankreichs auf. Wie das Verbot religiöser Symbole in Schulen oder der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit zeigt, führt diese Art des Laizismus nicht nur zu Konflikten mit den Bekleidungsvorschriften religiöser Traditionen, sondern kann im Falle unterschiedlicher Betroffenheit auch die Wahrnehmung erzeugen und festigen, dass eine gleichberechtigte Integration religiöser Traditionen in die religionspolitische Ordnung verweigert wird, was wiederum Radikalisierungsprozessen den Weg ebnen kann.
Systeme der Kooperation von Staat und Kirche zeichnen sich durch vielfältige institutionelle Verbindungen zwischen Staat und Kirche sowie eine bedeutende staatliche Förderung von Religionsgemeinschaften aus. Auch sie können ein hohes Maß an religiöser Pluralität und Diversität verarbeiten. Das erfordert allerdings einen deutlich höheren Aufwand in Form wechselseitiger Anpassungsleistungen mit Blick sowohl auf die staatlichen Angebote als auch auf die neu hinzukommenden Religionsgemeinschaften.
In Deutschland zählen zu den staatlichen Angeboten etwa der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts für Religionsgemeinschaften samt dem damit verbundenen Recht, Kirchensteuern zu erheben und durch den Staat einziehen zu lassen, sowie der Vorrang freier und damit im Wesentlichen kirchlicher Träger im Feld wohlfahrtsstaatlicher Leistungserbringung. Diese Angebote sind an spezifische Zugangsvoraussetzungen geknüpft. So setzen der Religionsunterricht und der Körperschaftsstatus Religionsgemeinschaften mit klarer Mitgliedschaftsstruktur voraus. Darüber hinaus erfordert der Religionsunterricht die Existenz religiöser Autoritäten, die über die Kompetenz zur verbindlichen Entscheidung von Fragen religiöser Lehre verfügen.
Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Grundgesetzes stand die Erfüllbarkeit dieser Kriterien mit Blick auf den Kreis der Anspruchsberechtigten – das waren im Wesentlichen die christlichen Kirchen – außer Frage. An den Islam dachte damals noch niemand. Dabei verfügen die meisten Traditionen des Islams weder über einen klaren Mitgliedschaftsstatus noch über religiöse Autoritäten mit einer Kompetenz zur verbindlichen Entscheidung von Fragen religiöser Lehre. Nun richtet auch eine solche Konstellation keine grundsätzlichen Hürden auf, lassen sich solche Probleme doch durch einen flexiblen Umgang mit den Zugangsvoraussetzungen oder aber durch die Entwicklung alternativer Angebote lösen. Das aber erfordert entsprechenden politischen Willen.
Stiefkind Religionspolitik
Spätestens seit der deutschen Wiedervereinigung ist unabweisbar, dass eine Debatte über eine Reform der religionspolitischen Ordnung erforderlich ist, um sie den Erfordernissen der vielfältiger gewordenen religiösen Landschaft anzupassen. Die Zahl der Muslime in Deutschland ist stetig gewachsen, und die Zahl der Konfessionslosen hat sich 1990 schlagartig vergrößert. Doch die großen Parteien reagierten zögerlich und unzureichend. Blickt man etwa auf die Wahlprogramme der großen Parteien zur Bundestagswahl 2013 und zu den Landtagswahlen seitdem, dann wird deutlich, dass sie keine grundlegenden Herausforderungen durch die religiöse Vielfalt erkennen. Bei der SPD führt das zu einem freundlichen Desinteresse an diesen Fragen, bei der CDU – mit wenigen Ausnahmen wie bei den Themen islamischer Religionsunterricht und islamische Fakultäten – zu einem beherzten Weiter-So. Allein die Grünen haben Ende 2013 eine Kommission zu "Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat" eingesetzt, die in ihrem 40-seitigen Abschlussbericht im März 2016 nicht nur die Grundsätze und Ziele bündnisgrüner Religionspolitik, sondern auch eine Reihe drängender politischer Herausforderungen ausführlich behandelt, wie Fragen der rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften, die Regelungen zu Sonn- und Feiertagen, der sogenannte Blasphemieparagraf, das Arbeitsrecht und das Feld der kirchlichen Finanzen.
Aber auch die Frage der vom Grundgesetz geforderten gleichen Integration des Islams und der Muslime in die religionspolitische Ordnung der Bundesrepublik ist bisher nur unzureichend bearbeitet worden.
Die Zögerlichkeit der Religionspolitik bleibt nicht ohne Effekte. Auf der einen Seite hat sie zumindest zu einer weitverbreiteten, in Deutschland besonders starken Skepsis gegenüber dem Islam und den Muslimen beigetragen. Denn sie signalisiert Zweifel daran, dass diese religiöse Tradition beziehungsweise ihre Repräsentanten den Willen zur Integration haben oder aber hinreichend kompatibel mit den Prinzipien der (religions)politischen Ordnung sind. Auf der anderen Seite nötigt diese Zögerlichkeit die Muslime, ihren Forderungen immer vehementer Gehör zu verschaffen und sie auch gerichtlich durchzusetzen. Das kann den Eindruck provozieren oder verfestigen, dass hier eine Religionsgemeinschaft versucht, ihre Anliegen kompromisslos durchzusetzen oder wie etwa beim Schächten Ausnahmen von allgemeinen Gesetzen oder Sonderrechte zu erwirken.
Strittige normative Fragen
Ein weiterer Faktor ist der Umstand, dass die gestiegene religiöse Vielfalt eine Reihe höchst strittiger normativer Fragen aufwirft, die nicht selten in Dissens und Streit münden. Die erste betrifft den Umgang mit den Spannungsfeldern der oben erwähnten Prinzipien westlicher Religionspolitik, also Gleichheit, Religionsfreiheit, staatliche Neutralität und Trennung von Staat und Kirche.
Eine zweite Frage betrifft den Umgang mit den Prägungen der Alltags- wie der politischen Kultur durch die historisch dominierenden religiösen Traditionen. In Europa sind diese vor allem durch das Christentum erfolgt. Das zeigt etwa die Bestimmung des arbeitsfreien Wochentages sowie von Feiertagen durch den christlichen Wochen- und Festkalender. Auch das Kreuz als zentrales christliches Symbol hat auf vielfältige Weise Eingang in die Alltagskultur gefunden. In einer solchen Lage bedarf es der sorgfältigen Differenzierung zwischen unvermeidlichen Asymmetrien, einem Recht der religiös-kulturellen Mehrheit auf den Ausdruck ihrer mit der Geschichte des Landes verwobenen kulturellen Identität und Diskriminierungen.
Eine dritte Frage betrifft die Verteilung der Anpassungsleistungen. Dieses Problem stellt sich vor allem im Falle von religionspolitischen Ordnungssystemen mit vielfältigen institutionellen Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, wie es etwa die Bundesrepublik ist. So stellt sich beispielsweise mit Blick auf den Körperschaftsstatus die Frage, ob die Muslime sich in einer Art und Weise organisieren und intern verfassen müssen, um die Zugangsvoraussetzungen zu dieser Institution zu erfüllen, oder ob der Staat entweder die Zugangsvoraussetzungen der gegenwärtigen organisatorischen Verfasstheit der Muslime entsprechend verändern muss oder aber ein Äquivalent zum Körperschaftsstatus mit Zugangsvoraussetzungen schafft, die keine oder deutlich geringere Hürden aufrichten. Auch diese Frage ist nicht eindeutig zu entscheiden.
Eine vierte Frage betrifft die Bestimmung der Reichweite, der Grenzen und des Gewichts des Prinzips der Religionsfreiheit, wenn es mit anderen grundlegenden normativen Prinzipien oder politischen Zielen konfligiert. Solche Fragen stellen sich etwa mit Blick auf den Umgang mit dem religiös gebotenen Ritual der Beschneidung. Hier steht dem Recht auf Religionsfreiheit und dem Recht der Eltern, über die religiöse Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen, der Anspruch eines jeden Menschen auf körperliche Unversehrtheit gegenüber. Ein weiterer Fall stellt der Umgang mit dem religiös gebotenen Ritual des Schächtens dar, das mit dem Tierschutz kollidiert. Auch in diesen Fällen gibt es mehrere plausible Antworten.
Schluss
Die Voraussetzungen für einen konstruktiven Umgang mit religiöser Pluralität und Diversität und für die Lösung und Befriedung damit zusammenhängender Konflikte haben sich in Europa durch die Formierung und Etablierung rechtspopulistischer Bewegungen mit einer explizit antiislamischen Agenda nicht verbessert. Eine den Bedürfnissen von zugewanderten Religionsgemeinschaften deutlich entgegenkommende Religionspolitik ist von den zentralen religionspolitischen Akteuren unter diesen Bedingungen kaum zu erwarten. Aber auch eine breite öffentliche Debatte über die Ausgestaltung der Religionspolitik unter Bedingungen gestiegener religiöser Vielfalt, wie sie eine Reihe europäischer Länder, aber auch die kanadische Provinz Quebec geführt haben,